Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.10.2009, 22:28

Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

[align=right]Die dunklen Geisterhimmel haben es ganz gern, dass sie den Menschen etwas in die Ferne stellen,
auf dass diese immer tiefer in den Schmerz hineingehen*
[/align]


Mythologie des Schmerzes


Da ruft mich was. Das ist meine eigene Stimme. Meine Schuldstimme. Die lässt mich Geisterhimmel spannen.

In der Ferne ist nicht jetzt. Die Ferne ist nicht wahr, noch nicht.

Eine Wolke - eine Leiche. Leichenwolken.
Licht. Weißes Blut.

Dieses weiche Weh, in dem man treibt;
dass man nichts tun muss, dass man nichts halten muss
und ganze Wälder ihrer Bäume beraubt,
bloß noch Tiere aus dem Boden ragen,
blutende Tiere, die sich allesamt verstecken, indem sie einander wundreißen
und lecken und lecken und lecken.



Knirschen im Park

wie dem zarten Mädchen am Wasser seine durch die Bluse scheinenden Schulterblätter brechen wie den tchibogerüsteten Walkingtanten ihren Kuchenkot ins Gesicht matschen wie der über ihre krebszerfressenden Kinder jammernden Alten auf der Plastikbank ihr fleckiges Häutchen aus dem Gesicht reißen wie dem hektisch joggenden Schnurrbartbeamten mit seinem Dünngürtel den Rücken mit Striemen übersähen wie dem schleimenden H&M-Röhrenjeansdrogenjungen mit der Flasche des im Gebüsch liegenden pseudodiogenessuffschlummernden Penners den Schädel zerspritzen wie oben auf dem Hügel angekommen den sich in weiter Ferne erleichternden labbrig gezüchteten Labrador abknallen bevor er wieder den Kindern durchs Gesicht leckt weil die Hände ihrer Mutter ach lassen wir das wie die zeternde Elster voller Geschwüre mit einer Kinderzwille aus ihren Ästen schießen wie das schon auch durch irgendetwas den Tod verdienende kastanieleuchtende Eichhorn am Ende des Stumpfes mit bloßen Füßen zu Matsch treten ! auf die Zähne beißen wie ein dunkler Magier seinen Zauberstab erhebt, so lange und so fest, so totbringend, bis ich nicht länger mich beiße; bis ich mich hindurchgebissen habe durch alle Gesichter die schon immer wie das eigene Gesicht



Kräuterwünsche

Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.
Entschließe dich gegenüber dem Tier.
Wenn du nichts mit ihm anzufangen weißt, iss das Tier auf.
Bitte iss es auf, denn es kann nicht mehr.
So hör doch! Du musst das Tier aufessen, wenn du keine andere Verwendung für es hast.

Niemand ist vor Ort, nur ein Dröhnen. Nacht. Regen. Das Tier liegt auf der Seite. Es schlägt sich mit dem eigenen Schweif. Es liegt hautfarben in der violetten Nacht.



Das also, der Anfang des Stumpfes

Er hatte der Fässin ohne Boden von der Frau mit dem großen Gesicht erzählt. In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet. Das Lauschen, ihre grausige, einzige Stimme.

Die Fässin ohne Boden flüchtet sich zurück in den Wald. Wie hatte sie ihre dicken Finger vergessen können, ihre feiste Lust, wie hatte sie ihren Blick von sich fort entspannen können zu einem Himmel, unter dem sie als eine andere ging.

Sie dreht sich auf die Seite. Neben ihr ragt ein Fuchs aus dem Boden. Das Aufgerissene, das Faltige, die Schwärze, der Pilz, der Schleim; alles so, wie sie es befürchtet hatte und wie sollte es auch anders sein, denn, das versteht sie nun, befürchten, befürchten kann man nur, was ist. Es ist ein Berühren, das Befürchten.






*Der kleine Satz steht Pate für all das, was ich schreibe, weil ich Peter gelesen habe und zugleich ist es ein Zitat von ihm. Ich hoffe, das gilt (etwas)
Zuletzt geändert von Lisa am 31.10.2009, 20:00, insgesamt 2-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.11.2009, 17:46

Hallo Lisa,

danke, dass du nochmal darauf eingegangen bist, weil es etwas zeigt, was ich aus der bisherigen Diskussion so nicht herauslesen konnte und worauf ich dir dann konkret textbezogen auch besser antworten kann, wo es dann für mich nicht funktioniert.

Für entsprechende Situationen, in denen ein Mensch aber grundsätzlich seiner Würde oder Ausrichtung beraubt wird durch eine bestimmte Behandlung, etwas, was ihm widerfahren ist, kann es für diesen durchaus Sinn machen oder er kann etwa nicht anders.


Der Text möchte anders Hilfe leisten, indem er auf die Verlorenheit, die Ausweglosigkeit hindeutet, zeigt, dass es, behandeln sich Menschen auf eine bestimmte Weise bzw. stellen sie bestimmte kulturelle Mechanismen auf oder entwicklen bestimmte Wünsche, dass dann nichts mehr bleibt. Für mich ist das ein wichtiger Hinweis, eine wichtige Botschaft, dass es diese grausamen hoffnungslosen Konsequenz gibt, ohne dass noch ein Ausweg da ist. Das ist die Hand, die für mich der Text reicht.


Diese beiden Aspekte kann ich gut nachvollziehen und könnte ich sie in deinem Text finden, wäre er für mich dann auch zumindest gesicherter, wobei ich mit einzelnen Aspekten immer noch meine Schwierigkeiten hätte und noch immer nicht alles aufgehen würde für mich. Aber ich finde das gar nicht im Text wieder. Ich sehe keine Hinweise, wie es zu diesem Zustand kam, wo etwas falsch lief, keinen Verweis auf kulturelle Mechanismen, oder konkretes auslösendes Verhalten von Menschen. Dazu ist der zweite Abschnitt, der da vielleicht wichtige Hinweise liefern könnte, nicht benennend, zielgerichtet genug, zumindest finde ich da keinen Ansatzpunkt.
Vielleicht ist dieses kumulierte Ich auch ein Mensch, der unter einer Krankheit leidet, die diesen Zustand völlig unabhängig von der Außenwelt inszeniert? Woher soll ich das wissen?
Vielleicht waren dir deine Hintergründe beim Schreiben sehr präsent, weil es etwas ist, womit du dich immer wieder beschäftigst und auch auseinandersetzt, aber siehst du es denn selbst im Text?
(Eine ehrliche Frage, vielleicht übersehe ich da etwas.)

Und eines glaube ich einfach nicht, und davon wird mich auch dein Text nicht überzeugen können und das ist für mich auch nichts, wovon man andere Menschen überzeugen sollte... dass es keinen Ausweg gibt...
(wegedit... blöde Formulierung .-)) auch nicht im Rahmen einer Botschaft, wie du sie beschreibst.

Das Bild von Otto Dix ist nun leider für mich ein ziemlich schlechtes Beispiel in Bezug auf diese Diskussion, weil es seinen Sinn und vielleicht sogar Zweck, nämlich Kritik an gesellschaftlichen und menschlichen Zuständen, so offensichtlich macht, dass man ihn fast nicht übersehen kann.

Vielleicht würde dein Text für mich eingebettet in eine längere Geschichte, auch in eine Realität, in der ich mehr über die Hintergründe und Mechanismen und Auslöser erfahre, besser funktionieren.

liebe Grüße
Flora

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leonie
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Beitragvon leonie » 04.11.2009, 22:40

Vielleicht würde dein Text für mich eingebettet in eine längere Geschichte, auch in eine Realität, in der ich mehr über die Hintergründe und Mechanismen und Auslöser erfahre, besser funktionieren.


Witzig, Flora, daran überlege ich schon die ganze Zeit...

Lieber Fux,

ich glaube, dass diese Grenze in jedem Fall einen Nutzen für den Menschen hat, bei dem sie besteht.
Sicherlich ist es gut, das zu reflektieren und seine eigenen Grenzen gelegentlich auch zu überschreiten. Dabei ist es aber meiner Meinung auch gerade die "Freiheit" in Form der Freiwilligkeit, die das so möglich machen kann, dass der Grenzinhaber daraus etwas Gutes ziehen kann.
Ansonsten produziert das Aggression (im besten Fall) oder auch das Gefühl, entwürdigt worden zu sein.
Ich habe ja schon gesagt, dass sich selbst die Kunst meiner Meinung nach von ethischen Maßstäben befragen lassen muss, wobei man die dann sicherlich diskutieren muss.

Liebe Grüße

leonie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 05.11.2009, 00:06

Gabriella hat geschrieben:
leonie hat geschrieben:Überhaupt finde ich bemerkenswert, wenn Leute sich mit Beiträgen engagieren. Deshalb hier ein Danke von mir auch für die restlichen 120.000.


:daumen: :richtig:

Saludos
Mucki


:antwort: Stimmt!

ELsa
Schreiben ist atmen

Albert

Beitragvon Albert » 05.11.2009, 11:14

Liebe leonie, liebe Flora,

euch eine kurze Antwort, da ihr mich noch einmal angesprochen habt.

leonie: Du fragst:
Aber ist das schon ein Anspruch an den Text?


(Kleine Klärung: ich würde eher davon sprechen, dass ich es problematisch fand, dass du einen Anspruch an Lisa stellst (nicht an den Text), indem du nämlich ihren Text kritisierst)
Nun, ich habe ja schon gesagt, dass deine letzten Antworten für mich schon eher daraufhin lesbar waren, dass es dir nur um deine Wahrnehmung ging - und klar, die kann ganz unabhängig vom Text bestehen, muss nicht beanspruchen, dem Text wirklich nahe zu kommen, und kann trotzdem sinnvoll für den Autor sein (nur, wie Lisa sagt: das ist dann keine Auseinandersetzung mit dem Text, sondern eine mit deiner Befindlichkeit). Ich habe dir aber auch Stellen deiner Kommentare zitiert, die mir genau so nicht mehr lesbar schienen, z.B. die, in dem du dem Text absprichst, überhaupt möglich zu sein. Da frage ich mich wie gesagt, ob man das nach einmaligem Lesen behaupten kann bzw. spreche dir das ab.
Da nützt dir auch Lisas "Intention" wenig, da ich tatsächlich denke, dass sie Recht damit hat, wenn sie sagt, die Intention bedürfe des Ausdrucks im Kunstwerk, um überhaupt identifiziert werden zu können (wozu sollte sie sonst den Text schreiben müssen)?
Naja, es geht mir natürlich nicht darum, dich jetzt darauf festzunageln, dass du in deinen Kommentaren das und das behauptet hast. Mir war nur wichtig, aufzuzeigen, wo jene ihre Stimmigkeit verloren.

Flora:
Gerade was persönliche Rückmeldungen anbelangt, erwarte ich vom Autor nicht, dass er etwas Gehaltvolles dazu sagt, oder in eine Rechtfertigungsposition kommt, genausowenig, wie ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich diesen Text eben so wahrnehme.


Aha. Und wo sage ich etwas anderes? Z.B. hier?:
Ich möchte dennoch noch einmal sagen, dass ich in meinen Kommentaren doch Differenzierungen vorgenommen hatte, die zum Ausdruck bringen, dass ich einerseits deine subjektive Rückmeldung zu Lisas Text voll und ganz respektiere (und du hast noch einmal klar gemacht, warum man das auch tun sollte). Andererseits aber war es mir ja in meinem letzten Kommentar gerade wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Aspekt von dir in undeutlicher Weise mit einem kritischen Urteil über den Text vermischt wurde - und dies ist etwas, was ich dann gegebenenfalls angreifen kann.


Das steht jetzt glaube ich zum dritten Mal hier von mir im Thread...
Zur Kompetenz: Tja, das war wohl durch die Wahrnehmung des restlichen Kommentars nicht mehr offen zu lesen; lass mich betonen, dass ich a) nicht denke, (immer ,-)) entscheiden zu können, wer kunst-philosophisch oder -kritisch kompetent ist; b) trotzdem denke, dass diese Unterscheidung basal ist für jedes Reden über Kunst; c) allen hier im Forum erstmal unterstelle, hinreichend kompetent zu sein in dem Sinne des Wortes, wie ich es verwende (kompetent sein schließt also scheinbar nicht die Fähigkeit ein, nach "Dentologie" zu googeln).

Dann noch einzelne Sachen: Ich habe nicht dich, sondern leonie als leichtfertig bezeichnet; bis auf die Instrumentalisierungssache habe ich mich glaube ich überhaupt nicht auf deine Kommentare bezogen, wenn sie sich nicht auf meine bezogen.

Vielleicht könnte man sie mit Spontaneität ersetzen, um sie dann anders annehmen zu können und sie dann auch im Fall der Begeisterung nicht zurückweisen zu müssen. Und man sollte sich doch auch die Möglichkeit geben, dass man sich nicht gegenseitig auf die jeweiligen Aussagen festnagelt und keine Bewegung mehr zulässt und eben dann im Gespräch miteinander ein wenig kompetenter wird, weil man voneinander und auch von den anderen Kommentaren lernt.
Sonst kommt man ganz schnell in eine Abgrenzung, dass man sich nur noch in seinen Kreisen bewegt, die einen ja sowieso verstehen und alle anderen Rückmeldungen dann als inkompetent ablehnt und nicht mehr gelten lassen kann und auch nicht mehr annehmen.

Das finde ich angesichts des dann doch recht positiven Diskussionsverlaufs etwas seltsam, aber ich nagele dich mal nicht drauf fest.

Zu der von dir vermissten "Einbettung", auch wenn du an Lisa schreibst: Ich denke, der Text ist eingebettet, der Kontext seiner Veröffentlichung ist meiner Einschätzung nach völlig ausreichend (Lisa spricht die entsprechenden kulturellen Bezüge an). Ich verstehe zwar deinen Punkt, teile wiederum aber auch Louisas Einschätzung, dass entsprechende "Erklärungen" ästhetisch überhaupt nicht motiviert wären und den Text zerstörten.

Und schließlich: Ich hätte vielleicht noch ein paar Beispielfragen, die eher als das Dix-Bild geeignet sind. Auf die Dramatik Becketts habe ich ja schon verwiesen, paradigmatische Fälle von Sinnlosigkeit (und durchaus aus nicht ohne Ekel und Grauen). Man kann auch an Kafkas "In der Strafkolonie" oder an diese seltsam scheinenden Passagen bei Kleist denken, wo ja auch das eine oder andere Gehirn aus dem Schädel spritzt. Und zur Frage, ob der Autor Dargestelltes "kennen" muss: Denkt ihr nicht, dass die Figur Raskolnikov Dostojewski bei euren Kriterien vor erhebliche Probleme gestellt hätte?

---

Liebe Lisa,

danke für deine etwas, nun, verdrehte Rückmeldung. Ich finde interessant, dass es sich bei der beachtlichen formalen Stimmigkeit vorher um unabhängige Texte handelte, aber anders geht es wahrscheinlich auch nicht. Ich habe mich in der Zwischenzeit an deinen anderen Prosa-Text von vor einem Jahr (ich weiß nur noch den Namen des Protagonisten, Burkhart?) erinnert, der hatte ja noch leichte konstruktionsmäßige Schwächen (hast du den eigentlich nochmal überarbeitet?); da ist dieser hier nochmal ein ganz anderes Kaliber.
Schön jedenfalls, dass dich mein Kommentar freuen konnte.

Liebe Grüße an alle,
Albert

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.11.2009, 16:33

Lieber Albert:
Nur kurz:

Ich habe dir aber auch Stellen deiner Kommentare zitiert, die mir genau so nicht mehr lesbar schienen, z.B. die, in dem du dem Text absprichst, überhaupt möglich zu sein. Da frage ich mich wie gesagt, ob man das nach einmaligem Lesen behaupten kann bzw. spreche dir das ab.


Dass der Text möglich ist, zeigt ja schon sein Vorhandensein :-) . Mir scheint, mein Problem war das Thema "Glaubwürdigkeit der Darstellung". Ich meinte, man müsse es entweder selbst erlebt haben oder aber sehr genau recherchiert haben, damit es glaubwürdig ist (und das dann auch "nachweisen". Ich konnte das nicht erkennen.
Aber Lisa hat ja jetzt erklärt, dass sie das lyrIch anders gemeint hat als ich es aufgefasst habe.


Da nützt dir auch Lisas "Intention" wenig, da ich tatsächlich denke, dass sie Recht damit hat, wenn sie sagt, die Intention bedürfe des Ausdrucks im Kunstwerk, um überhaupt identifiziert werden zu können (wozu sollte sie sonst den Text schreiben müssen)?


Da kann ich nur sagen, dass ist jedenfalls im Bezug auf mich völlig gescheitert. Ich weiß, dass das zwei Seiten hat.

An mich bleibt die Frage, ob ich mich dem Text nicht trotzdem mehr hätte widmen müssen.

An Lisa bleibt die Frage, wie sie Leute wie mich als Leserin hätte gewinnen können (wenn sie es möchte).

Liebe Grüße

leonie


Ich gestehe, dass ich viele der von Dir genannten Titel nicht gelesen habe. Ich bin Literatur-Laie, habe mich nicht wissenschaftlich damit beschäftigt. Aber das sind ja vermutlich die meisten Leser... Und auch viele hier.
Ich glaube, wenn Lisa nicht gewollt hätte, dass auch solche Leute sich äußern, dann hätte sie den Text nicht eingestellt.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 05.11.2009, 17:51

Liebe Lisa,

dieser Text zog mich sehr stark in seinen Bann, auch wenn es mich zunächst Überwindung gekostet hat, ihn zu lesen. Der Text geht unter die Haut, die Bilder sind grotesk, grausam, ekelerregend, schockierend. Trotzdem sind sie für mich weit von Effekthascherei entfernt, berühren in eigenartiger Weise.

Bevor ich Alberts Analyse gelesen hatte, war der Text für mich vor allem ein Ausdruck eines großen Weltekels. Eines völligen Abwendens von der Welt, deren Anhäufung von Schmerz und Elend ein einfühlsamer Mensch bei vollem Bewusstsein irgendwann (wenn er keine Schutzmechanismen einbaut) nicht mehr ertragen kann. In dieser Sichtweise war der Text für mich wie ein explosionsartiger Durchbruch durch die viele "Ziermalerei" in diesem Forum (hierbei schließe ich meine eigenen Texte nicht aus), ein Aufschrei, ein Zerstören des schützenden Kunstgebäudes um uns herum.

Durch Alberts sehr interssante Analyse entfaltet der Text nun auch für mich eine zweite Perspektive, hinein in ein lyrisches Ich, das seine Kohärenz verloren hat. Beide Perspektiven kann man sich in einem Zusammenhang denken.

Ich habe nur wenige Kommentare dieses Fadens gelesen, hier wird ja viel auf der Metaebene diskutiert. Für mich läge - jenseits der reinen Betrachtung des Textes - die Frage nahe, warum du, liebe Lisa, die uns gerade noch nach Bilderbüchern für deinen kleinen Sohn gefragt hat, einen solchen Text schreibst. Die Befürchtung schleicht sich unwillkürlich ein, dass unter einem solchen Text etwas Schreckliches verborgen liegt. Aber ich finde, solche Fragen und Überlegungen verbieten sich, sie treten dem Autor zu nahe, sind anmaßend und daher erwarte ich zu diesem Aspekt auch generell bei Texten keinerlei Erläuterung. Ich möchte Autoren zutrauen, sich vom eigenen Leben zu emanzipieren und versuche natürlich auch hier, das lyrische Ich nicht mit dem Autor gleich zu setzen.

In jedem Fall ein sehr starker Text! An Albert vielen Dank für die überaus interessanten Betrachtungen dazu!

lg
fenestra

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 05.11.2009, 20:42

Nun dann, gebe ich auch meinen Eindruck wieder. Etwas spät zugegeben, aber mir hapert es immer noch aus diversen Gründen an Zeit.

Wobei um mich wieder hier hereinzufinden, hätte ich mir ja auch einen weniger strittigen Text aussuchen können, aber der Umstand, daß dem nicht so ist, zeigt, daß der Text auch bei mir etwas auslöste.
Es geht los mit dem intertextuellen Bezug:

Die dunklen Geisterhimmel haben es ganz gern, dass sie den Menschen etwas in die Ferne stellen, auf dass diese immer tiefer in den Schmerz hineingehen


Hier regte sich bei mir schon Widerspruch, ganz leise zwar, mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht selber erklärbar. Nur eine Vorahnung.
"Dunkle Geisterhimmel", was habe ich mir darunter vorzustellen. Ich weiß nicht was dieser Peter sich darunter vorstellte, aber Lisa erklärt mir dann, was ich mir im folgenden Text darunter vorzustellen habe:

Da ruft mich was. Das ist meine eigene Stimme. Meine Schuldstimme. Die lässt mich Geisterhimmel spannen.


Meine Schuldstimme.
Die Schuldstimme eines jeden einzelnen Menschen. Die Schuld, die ein jeder irgendwann mal auf sich geladen hat, in unterschiedlicher Schwere.
Weiter unten, nach der Gewaltorgie beschrieben im Knirschen im Park (in diesem Abschnitt bekommt dann die Konsumgesellschaft mit ihren Auswüchsen auch ihre Dosis Kritik ab; "tchibogerüsteten Walkingtanten", "H&M" quasi als Synonym für das, was diese Gesellschaft so Schlechtes produziert) schreibt sie dann:

Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.


Der Mensch ein bösartiges Tier. Daraus erklärt sich die Gewalt und der daraus resultierende Schmerz. Jeder hat dieses bösartige Tier in sich.
Deshalb hat ja ein jeder auch ein Schuldstimme, und deshalb spannen wir Menschen Geisterhimmel.
Daran wird sich solange nichts ändern, bis wir eine Entscheidung treffen und diese auch vollziehen, was wir mit dem Tier in uns denn nun machen.

Der Text kommt zu dem Ergebnis- so lese ich das- daß wir diese Entscheidung schon längst getroffen haben, weil wir garnicht anders können, als das Tier aufzuessen.
Kurz der Gewalt mit Gegengewalt zu begegnen. Oder anders: den Teufel mit dem beelzebub austreiben.

alles so, wie sie es befürchtet hatte und wie sollte es auch anders sein, denn, das versteht sie nun, befürchten, befürchten kann man nur, was ist.


Befürchten kann man nur, was ist.
Was ist, daß der Mensch ein böses, gewalttätiges Tier, welches Gewalt und den Schmerz verursacht, ist und wir nichts dagegen tun können, weil es ist im Mensch drin. Diese Erkenntnis anzunehmen - hier wird von berühren geschrieben- verursacht ebenso Schmerz. Die Situation des Menschen ist ausweglos, diese Erkenntnis ist - wenn ich Lisa hier richtig verstanden habe- die Hand, die der Text einem reicht:

Lisa:
Der Text möchte anders Hilfe leisten, indem er auf die Verlorenheit, die Ausweglosigkeit hindeutet, zeigt, dass es, behandeln sich Menschen auf eine bestimmte Weise bzw. stellen sie bestimmte kulturelle Mechanismen auf oder entwicklen bestimmte Wünsche, dass dann nichts mehr bleibt. Für mich ist das ein wichtiger Hinweis, eine wichtige Botschaft, dass es diese grausamen hoffnungslosen Konsequenz gibt, ohne dass noch ein Ausweg da ist. Das ist die Hand, die für mich der Text reicht.


Man muß zu dieser Erkenntnis kommen, um überhaupt noch eine Chance zu haben, dagegen etwas zu unternehmen.

Flora:
Aber ich finde das gar nicht im Text wieder. Ich sehe keine Hinweise, wie es zu diesem Zustand kam, wo etwas falsch lief, keinen Verweis auf kulturelle Mechanismen, oder konkretes auslösendes Verhalten von Menschen.


Ein konkret auslösendes Verhalten braucht man nicht, wenn man die Ansicht des Textes teilt, es reicht aus, einfach Mensch zu sein. Die kulturellen Mechanismen entwickeln sich aus diesem heraus. Aus dem Umstand, der Mensch ist schlecht.

Meine Vorahnung und mein leiser Widerspruch zu Beginn des Textes ist angesichts solch einer Aussage spätestens beim Schluß zu einem lauten Widerspruch geworden.
Kurz: Einspruch!
Ich kann die Hand, die der Text einem reicht, nur entgegennehmen, wenn ich vehement dagegen prostetieren darf, daß es nur einen Ausweg gäbe, wenn ich akzeptiere, daß es eben keine Hoffnung mehr gibt, und daß der Mensch schuldbeladen sei usw. usw.

Das kann und will ich nicht akzeptieren. Bei meinem Verständnis von den Menschen und der Welt, die wir uns geschaffen haben, können die Menschen nur weiter menschlich bestehen, wenn sie Hoffnung haben, wir brauchen diese Hoffnung. Wir haben nur eine Chance, wenn wir grundsätzlich vom "guten" im Menschen ausgehen, von einem Wesen, dessen primäres Ziel es ist, Leid, Schmerz und Gewalt zu vermeiden, weil es ein Mensch ist. Und nicht umgekehrt davon ausgehen, der Mensch hat das primäre Ziel sich und seinen Menschen Gewalt anzutun, weil es ein böses Wesen ist.
Angesichts der ganzen Gewalt und der Mißstände in dieser Welt, angesichts dessen was wir uns gegenseitig antun, scheint dies ein schwieriges Unterfangen zu sein. Es gibt immer wieder Rückschläge und es wird sie immer wieder geben.
Daran zu glauben und festzuhalten, daß der Mensch eben nicht von sich aus schuldbeladen ist, daran zu glauben und festzuhalten, daß der Mensch sein Tier in sich ohne Gewalt besiegen wird, ist schwierig.
Es ist dagegen "einfach", alles Böse und Gewalttätige in dieser Welt, mit den im Menschen innenliegende Gewalttätigkeit zu erklären, und von diesem Ansatz das Grauen zu bekämpfen.

Von daher prallen hier zwei völlig unterschiedliche Einstellungen aufeinander.

Im Gegensatz zu anderen VorkommentarInnen verpuffen die expliziten Beschreibungen der Gewalt bei mir.
Die Beschreibungen der Gewalt geben mir keine Möglichkeiten mir einen eigenen Schmerz zu bilden.
Es ist zu viel. So zu viel, daß es wieder verpufft.
Der Text bietet keinen Raum für eigene Gefühle. So geht es zumindest mir so. Es geht schon fast soweit, daß es mich stellenweise gleichgültig ließ. Was die Gewaltbeschreibungen angeht. Da ich den Eindruck gewonnen habe, sie werden dazu gebraucht, um die Intention des Textes verständlich zu machen, und nicht um den Leser an der Gewalt und dem Schmerz teilhaben zu lassen.
Vielleicht wäre bzgl. der Gewaltdarstellungen etwas weniger mehr gewesen. Dem Leser mehr Raum gelassen hätte, sich eigene Bilder im Kopf bilden zu können.
Es ist ähnlich wie bei Photos. Nicht das, was das Photo direkt zeigt, bewirkt das Mitfühlen, das Erschrecken, sondern das was eben nicht gezeigt wird.

Ich bin schon der Meinung, daß der Text, daß erreicht hat, was Lisa ausdrücken wollte.
Nur diese Ansicht teile ich nicht.

Na ja, ich könnte noch so etliches zu einigen der Nebenthemen wie Kunst etc. schreiben, weil das ein sehr spannendes Thema ist. Es kribbelt zwar in meinen Fingern, aber ich kann mich (noch) beherrschen ;- )

Soweit erstmal.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.11.2009, 21:46

Liebe Flora,

Aber ich finde das gar nicht im Text wieder. Ich sehe keine Hinweise, wie es zu diesem Zustand kam, wo etwas falsch lief, keinen Verweis auf kulturelle Mechanismen, oder konkretes auslösendes Verhalten von Menschen. Dazu ist der zweite Abschnitt, der da vielleicht wichtige Hinweise liefern könnte, nicht benennend, zielgerichtet genug, zumindest finde ich da keinen Ansatzpunkt.
Vielleicht ist dieses kumulierte Ich auch ein Mensch, der unter einer Krankheit leidet, die diesen Zustand völlig unabhängig von der Außenwelt inszeniert? Woher soll ich das wissen?
Vielleicht waren dir deine Hintergründe beim Schreiben sehr präsent, weil es etwas ist, womit du dich immer wieder beschäftigst und auch auseinandersetzt, aber siehst du es denn selbst im Text?
(Eine ehrliche Frage, vielleicht übersehe ich da etwas.)


ich fasse die Frage ganz ehrlich auf. Ich denke sogar, dass eben mit dieser Frage der Text steht und fällt. Und ich als Autorin kann das ja auch nicht einfach bestimmen. Erst eine sehr umfangreiche Rezeptionsgeschichte eines Textes kann in meinen Augen da dann so etwas wie ein (vorläufiges) Urteil bilden, ob der Text das leistet oder nicht. 10 positive Stimmen oder 10 negative in diesem Forum sagen darüber so gut wie gar nichts aus, denke ich (was natürlich nicht entwertend gemeint ist!) Das soll eigentlich nur heißen: Ich kann selbst nicht sagen, ob der Text die Hintergründe ausreichend zeigt oder nicht - ich für mich sehe aber durchaus eine Menge Mittel, die zumindest meiner Idee nach diese Hintergründe lesbar machen sollten.
Zum einen sehe ich es in dem Konzept der Gleichordnung, denn ich finde es besonders schwierig, das richtige Maß zu finden, das aufzufinden, was ich beschrieben wollte. Für mich ist das weder vollständig erfasst, wenn man sich nur an ganz konkrete Details hält und diese beschreibt, etwa Komsum H&M etc.), noch wenn man ins Abstrakte geht (Geisterhimmel etwa). Mich leitete daher die Idee mit einem Arrangement aus Stimmen mit verschiedenen Abstraktionsarten, Standpunkten und Entfernungen auf das Beobachtete dem ganzen näher zu kommen.

Vielleicht einfach einzelne beispielhafte Passagen als Antwort:

Ich sehe keine Hinweise, wie es zu diesem Zustand kam

(den Anfang eines gesellschaftlichen Zustandes etc. darzustellen ist - da man ja als Autor immer in dieser Gesellschaft lebt und das ganze sich über lange Zeit und viele Bedingungen entwickelt, natürlich schwierig und ich weiß auch nicht, ob es Sinn macht, nach solch einem Anfang zu suchen, nichtsdestotrotz sehe ich hier schon im Sinne des exepmlarisch-persönlichen lyr. ichs einen "Anfang":

Das also, der Anfang des Stumpfes

In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet.

durch alle Gesichter die schon immer wie das eigene Gesicht


, wo etwas falsch lief,

Die lässt mich Geisterhimmel spannen

In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet. Das Lauschen, ihre grausige, einzige Stimme.

labbrig gezüchteten Labrador


keinen Verweis auf kulturelle Mechanismen, oder konkretes auslösendes Verhalten von Menschen.

bevor er wieder den Kindern durchs Gesicht leckt weil die Hände ihrer Mutter ach lassen wir das

H&M-Röhrenjeansdrogenjungen

Schnurrbartbeamten

Dieses weiche Weh, in dem man treibt;
dass man nichts tun muss, dass man nichts halten muss
und ganze Wälder ihrer Bäume beraubt,




So einzelne Passagen rauszunehmen, damit behandele ich jetzt sicher meinen eigenen Text nicht angemessen, natürlich werden deinen Fragen eigentlich anders für mich vom Text beantwortet. Ich möchte jetzt aber auch nicht so weit gehen, noch tiefer zu analysieren oder zu begründen, warum ich die jeweilgen Passagen als eine Antwort auf deine Fragen je sehe. Das würde wahrscheinlich noch mehr Beleuchtung bringen, aber da es nicht dazu führen kann, dass der Text jetzt doch noch so auf dich wirkt, wäre das für mich eine zu große Zersetzung des Textes durch mich selbst. Ich weiß, dass die einfache Benennung der Passagen dir wahrscheinlich nicht viel weiterhelfen werden , weil du sie ja sonst so hättest verwenden können, wie es für den text nötig ist, aber vielleicht sind so kleine Fingerdrauftipper doch dazu geht, eine kleine Bewegung in Gagng zu setzen, auch wenn sich grundsätzlich nichts ändert. Das finde ich ein faires Angebit für beide Seiten :-)


Und eines glaube ich einfach nicht, und davon wird mich auch dein Text nicht überzeugen können und das ist für mich auch nichts, wovon man andere Menschen überzeugen sollte... dass es keinen Ausweg gibt...
(wegedit... blöde Formulierung .-)) auch nicht im Rahmen einer Botschaft, wie du sie beschreibst.


:-) . Der Text sagt ja auch nur: wenn, dann . Ich selbst bin da unentschieden (das ist nicht das richtige Wort, aber ein anderes fällt mir nicht ein). Für mich sind solche Bergriffe wie "Ausweg" letztlich nicht die wichtigen, um im Leben Orientierung zu haben, etwas ausfechten zu können (über "meine" Worte da müsste ich erst nachdenken, aber ich würde behaupten, es wäre keine negativen).

Vielleicht würde dein Text für mich eingebettet in eine längere Geschichte, auch in eine Realität, in der ich mehr über die Hintergründe und Mechanismen und Auslöser erfahre, besser funktionieren.


für mich ist der Text ja bereits eine längere Geschichte (soll heißen, das, was dir an Rahmen fehlt,m ist für mich da), aber ich kann ,mir vorstellen, inwelche Richtung du denkst. Vielleicht ein andermal .-)

Liebe leonie,

Da kann ich nur sagen, dass ist jedenfalls im Bezug auf mich völlig gescheitert. Ich weiß, dass das zwei Seiten hat.

An mich bleibt die Frage, ob ich mich dem Text nicht trotzdem mehr hätte widmen müssen.

An Lisa bleibt die Frage, wie sie Leute wie mich als Leserin hätte gewinnen können (wenn sie es möchte).



Das finde ich ein gutes erstes Gesprächsende zwischen uns, jedenfalls habe ich dabei ein gutes Gefühl

Lieber Ben,

ich finde es hilfreich, dass du dein Gegenbeispiel aus dem anderen Forum hier mit eingebracht hast - denn ich kann mir durchaus vorstellen, dass es mir mit einem Text dann wieder ähnlich geht wie leonie es hier mit meinem ging. Wenn man die Möglichkeit hat, das (mithilfe solcher Vergleiche) zuzugestehen, ist man schon einen wichtigen Schritt weiter. Danke dafür!

Liebe fenestra,

hab Dank für deine spannende Rückmeldung, du hast zugelassen, dass ich sehen durfte, wie beunruhigend der Text wirken kann, verunsichernd vielleicht auch, wie du nicht ganz aufmachen kannst und doch daraus etwas gewinnen kannst, das finde ich ein faires Fazit :smile:

Für mich läge - jenseits der reinen Betrachtung des Textes - die Frage nahe, warum du, liebe Lisa, die uns gerade noch nach Bilderbüchern für deinen kleinen Sohn gefragt hat, einen solchen Text schreibst. Die Befürchtung schleicht sich unwillkürlich ein, dass unter einem solchen Text etwas Schreckliches verborgen liegt. Aber ich finde, solche Fragen und Überlegungen verbieten sich, sie treten dem Autor zu nahe, sind anmaßend und daher erwarte ich zu diesem Aspekt auch generell bei Texten keinerlei Erläuterung.


Du schreibst das so offen und nicht unterschwellig, dass ich sie einfach als deine Reaktion annehmen kann, obwohl ich diese Übertragung von den Textinhalten auf mich natürlich trotzdem nicht angebracht und auch nicht schlüssig finde.
Ich halte eine weitere Ausdifferenzierung dieser Frage dann außerdem sowieso für wenig ergiebig im Sinne einer "Beruhigung" für dich, ich glaube, egal, was ich schriebe, diese Frage bliebe da, einfach, weil ich den Text geschrieben habe.

lieber Albert,

peinlicherweise habe ich an der Burkhardgeschichte zwar gearbeitet, aber die von dir angesprochenen grundsätzlichen Schwächen des Textes habe ich noch nicht bezwingen können :eusa_shhh:

liebe Sethe,
für mich spricht der text nicht in den Worten "schlecht" und "gut". Ich glaube nicht, dass sich das menschliche Dilemma und auch nicht das menschliche Glück in diese, Begriffspaar befriedigend beschrieben lassen. Eben deshalb habe ich auch die Täter- und die Opferrolle in eine Person verlegt, die zugleich "alle" ist. Aber vielleicht muss der Text hoffnungslos gelesen werden, ich weiß es nicht - ich habe wahrscheinlich zu sehr meine eigene Empfindung der Welt im Kopf und die ist nicht hoffnungslos, sodass ich diesen Text nur als einen von vielen sehe. Kein einzelner Text kann für mich sagen, wie es ist, nur alle zusammen können es immer wieder versuchen.
Ausführungen zur Kunst würde ich von dir sehr gern hören. Du bist immer spannend in solchen Diskussionen und hast außerdem oft interessanten Praxisbezug.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 06.11.2009, 14:20

Hallo Zusammen,

das ist eine spannende Diskussion und ich habe lange überlegt, ob ich etwas dazu schreiben soll. Zumal eigentlich alles schon gesagt zu sein scheint.

Ein Punkt, der mich hier aber fasziniert ist, wie deutlich sich in dieser Auseinandersetzung unterschiedliche Arten der Rezeption eines Textes darstellen. Im Grunde ist auch dieser Ordner (abgesehen von den Passagen, die sich nur um den Text als solches Drehen) die Fortsetzung eines immer wieder aufkeimenden Streitgespräches über Grundsatzfragen:
Was ist Kunst und wo sind deren Grenzen? Inwieweit muss ein Autor auf seine Leser Rücksicht nehmen etc.
Der einzige Punkt, auf dem sich alle an diesem fortdauernden Gespräch Beteiligten einigen könnten ist der, dass eine Einigung unmöglich ist. An dieser Stelle könnte man die Diskussion natürlich beenden. Oder einfach weiter streiten (ich meine Streiten in einem sehr positiven, konstruktiven Sinn, der sich auch der Polemik nicht verschließt, denn diese trägt oftmals dazu bei, dass ein solcher Streit für die Beobachtenden/Mitlesenden einen gewissen Unterhaltungswert hat und das Interesse aufrecht erhält. Zudem ist Polemik und die Reaktion darauf, oftmals eine herzerfrischende intellektuelle Übung, vor allem in der Literatur).

Es mag niemanden, der mich kennt, verwundern, dass ich Flora und Leonie in ihren Ansichten widerspreche. Ähnliche Diskussionen wurden auch schon zu meinen Texten geführt. Von daher gesehen, kam mir ihre Reaktion in ersten Moment wie ein Reflex vor. Übertrieben (oder polemisch) ausgedrückt: wie das schreiende Springen auf den Stuhl beim Anblick einer weißen Maus. Das ist aber ungerecht, haben Flora und Leonie doch ihren Standpunkt ausführlich begründet und verteidigt und sind auch nachvollziehbar.

Dennoch ärgert mich diese Haltung, und ich versuche diesem Ärger auf den Grund zu kommen. Möglicherweise ist es die Inkonsequenz, die dahinter steckt. An anderer Stelle habe ich es schon einmal erwähnt – mir scheint, als würde erwartet, Texten, die sich mit dem Unschönen, Hässlichen auseinandersetzen oder es beschreiben, eine Art Beipackzettel mitzugeben, wie dieser nun genau zu verstehen sei. Bezugspunkte werden gefordert, Fundamente, ein nachvollziehbarer Kontext, Einbettung.
Fehlen diese, werden die üblichen Argumentationsschlachtschiffe aufgefahren: Voyeurismus, Effekthascherei usw.

Interessanterweise fordert so etwas keiner bei einem Liebesgedicht und sonst welchen (harmlosen) Innenbeschauungen. Im Gegenteil, hier wird sogar eine größtmögliche Interpretationsvielfalt gefordert, der Leser möchte sich nicht gängeln lassen, will nicht alles erzählt bekommen, möchte seine Freiheit haben und und und.

Woher diese unterschiedlichen Anforderungen? Liegt es vielleicht daran, dass es einfach angenehmer ist auf Blumenwiesen umherzuwandeln, als auf Stacheldraht zu laufen? Natürlich ist es das. Und keiner wird behaupten, dass Literatur nur stachelig sein muss. Aber auch. Weil es eben beides gibt.

Sethe hat in ihrem schönen Kommentar ein regelrechtes Plädoyer für den letztendlich „guten Menschen“ vorgebracht. Sich aber dabei aufzuhalten kommt einer Utopie gleich. Der Mensch ist beides, gut und schlecht und beides findet seinen Ausdruck in der Kunst. Sich dem zu verschließen, geht immer mit einem gewissen Maß an Realitätsverlust einher. Und eine Literatur, die sich nur auf das Gute beschränkt, kann einschläfernd wirken. Nicht nur, weil sie auf die Dauer langweilig ist, sondern weil ihre betäubende Wirkung immer eine gewisse Gefahr in sich birgt.

Natürlich hält das Leben genug schmerzhafte Erfahrungen bereit und es stellt sich die Frage, ob man sich dann auch noch innerhalb der Kunst, als Konsument, damit auseinandersetzen soll? Sollte nicht wenigstens ein Ausweg gezeigt werden, nicht zumindest ein Hauch von Happy End zu verspüren sein, um einen gewissen Erholungseffekt von der brutalen Wirklichkeit zu ermöglichen?
Ja, das ist gerechtfertigt. Aber es sollte nicht zum Prinzip erhoben werden.

Literatur ist Wirklichkeit auf einer anderen Ebene. Und sie unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von Film oder auch der bildenden Kunst. Den Lesen ist ein denkendes Sehen, oder wie Borges sagte: „Lesen ist Denken mit fremden Gehirn“.
Die intellektuelle Bewegung beim Lesen ist eine andere, wie beim reinen Anschauen. Deswegen hinken „optische“ Vergleiche bei Texten meist (Voyeurismus, Gaffen z.B.).

Ein Beispiel:
Mittlerweile schaue ich mir keine Dokumentarfilme über Konzentrationslager während der NS-Zeit mehr an. Ich habe etliche davon gesehen, war mehrmals in verschiedenen Gedenkstätten und kenne (bzw. kannte, da sie alle mittlerweile verstorben sind) persönlich Überlebende, die z.T. mehr als zehn Jahre inhaftiert waren. Diese Bilder wühlen mich derart auf, dass ich sie nicht mehr sehen mag (oder kann). Lesen kann ich aber nach wie vor über dieses Thema. Erst kürzlich, als ich das Buch Atemschaukel von Herta Müller gelesen hatte, nahm ich mir wieder die Texte von Jean Amery vor, in denen er von seinen Erlebnissen in Auschwitz berichtet.
Lesen ist nicht nur Projektion von Bildern anhand des Beschrieben. Es verharrt nicht an der Oberfläche. Das bestätigt schon allein die Tatsache, dass einem beim Lesen manchmal die Gedanken davon laufen. Bei einem Film passiert so etwas wenn überhaupt sehr selten, weil die Oberflächenspannung viel größer ist, durch den, im Gegensatz zum Lesen, aggressiven visuellen Input. Lesen gestattet immer ein Eintauchen und Wegtauchen und eine Rückkehr zum Ausgangspunkt.



Albert hat in seiner beeindruckenden Analyse die durchgearbeitete Struktur des Textes aufgezeigt. Allein dadurch bewegt sich der Text weg vom reinen Anschauungsmaterial hin zum gemachten, gestalteten Kunstwerk, mit einer Realität, die dem Leser einen ganz spezifischen, über den eigenen hinausgehenden Erfahrungsraum öffnet.
Dazu muss man natürlich die Struktur erkennen können, bzw. im ersten Schritt, danach suchen.
Bezeichnend für die konträren Positionen in diesem Faden ist der Versuch der Befürworter (Max & Albert) des Textes, ihn in einen literarischen Kontext zu bringen, während seine Kritiker (Leonie und Flora) auf einer ganz persönlichen Wahrnehmungsebene verharren. Dabei könnte gerade vielleicht dieser Kontext jene Anker bereithalten, die da so verzweifelt gesucht werden.


Liebe Grüße

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 06.11.2009, 20:22

Hallo Sam,

ich finde es gut, dass wir dann doch immer noch miteinander diskutieren können und zuhören und nicht aufhören zu fragen, obwohl wir im ersten Moment wohl beide diesen Reflex aneinander wahrnehmen.
Ich möchte kurz auf einen Punkt eingehen, weil er mir wesentlich erscheint.
Lesen gestattet immer ein Eintauchen und Wegtauchen und eine Rückkehr zum Ausgangspunkt.

Das ist vielleicht genau der Knackpunkt. Das mit dem Eintauchen und Wegtauchen sehe ich auch so. Nur glaube ich eben nicht, dass man zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Das habe ich versucht hier zu erklären. Ich denke, man kann so etwas auch in eine Welt hineinsprechen. Weil Worte die Sicht und die Wahrnehmung verändern, immer... nichts, was wir sagen, bleibt ohne Auswirkung.
Ich denke, ich sehe da auch eine gewisse Verantwortung, wie wir die Welt zeigen, was für Bilder wir in die Köpfe der Menschen setzen, weil Texte auch unser Bild, unsere Vorstellung von der Welt prägen und damit auch letztlich die Welt verändern.
Denkst du denn, dass es diese Verantwortung des Autors für seine Worte, oder vermittelten Inhalte (gegenüber dem Leser) nicht gibt?


Und damit ich auch mal polemisch bin, wenn das so unterhaltsam ist. ;-)
(Unterhaltung der Mitleser, war allerdings nicht meine Motivation bei diesem Faden.)
Ich stelle unterschiedliche Anforderungen an Texte, weil ich weitaus weniger Probleme damit habe, wenn ein Leser nach dem Lesen singend durch eine Blumenwiese hüpft, als wenn er sich dann von der Brücke stürzt.

Bezeichnend für die konträren Positionen in diesem Faden ist der Versuch der Befürworter (Max & Albert) des Textes, ihn in einen literarischen Kontext zu bringen, während seine Kritiker (Leonie und Flora) auf einer ganz persönlichen Wahrnehmungsebene verharren. Dabei könnte gerade vielleicht dieser Kontext jene Anker bereithalten, die da so verzweifelt gesucht werden.

Stellst du nicht auch unterschiedliche Anforderungen an den Leser?
Warum sollte bei diesem Text nur eine rein ästhetische Auseinandersetzung angebracht sein, warum darf man diesen Text nur unter künstlerischen Aspekten in einem literarischen Zusammenhang betrachten? Auf jeden Fall nicht persönlich und auch nicht 1:1 und schon gar nicht auf seine Aussage hin befragen?
Schaust du dir so auch ein Liebesgedicht an?
Warum sprichst du bei Leonie und mir von einem verharren und nicht bei Max und Albert? Haben sie den Text je anders gelesen? (Das würde mich wirklich interessieren.) Wäre es nicht genauso wertvoll gewesen, sich zu fragen, wie sie den Text ohne den literarischen Kontext empfinden, auf ihrer ganz persönlichen Wahrnehmungsebene?

Lisa, danke, dass du nochmal versucht hast mit dem Finger zu zeigen. :a050: Aber ich glaube wir müssen (und können?) das jetzt einfach so stehen lassen.

Hallo Albert,

Albert hat geschrieben:Ich hätte vielleicht noch ein paar Beispielfragen, die eher als das Dix-Bild geeignet sind. Auf die Dramatik Becketts habe ich ja schon verwiesen, paradigmatische Fälle von Sinnlosigkeit (und durchaus aus nicht ohne Ekel und Grauen). Man kann auch an Kafkas "In der Strafkolonie" oder an diese seltsam scheinenden Passagen bei Kleist denken, wo ja auch das eine oder andere Gehirn aus dem Schädel spritzt. Und zur Frage, ob der Autor Dargestelltes "kennen" muss: Denkt ihr nicht, dass die Figur Raskolnikov Dostojewski bei euren Kriterien vor erhebliche Probleme gestellt hätte?

Wenn du diese Texte hier als Beispiele aufführst, hätte ich ihnen und mir vermutlich ähnliche Fragen gestellt wie unter diesem Text. Allein der große Name, oder die Anzahl der Anhänger, hätte mich jedenfalls nicht überzeugt. Aber ich muss auch zugeben, dass ich dazu nichts weiter sagen kann, weil ich die betreffenden Werke schlicht nicht kenne.
Ich glaube auch nicht, dass man alles bei sich selbst kennen muss, oder selbst erfahren haben muss, um es darstellen zu können. Aber ich glaube schon, dass man das Wissen aus zweiter Hand dann eben auch kritisch hinterfragend sollte und sensibel bleiben muss, wo man dann auch selbst wieder Mechanismen und Klischeevorstellungen unterliegt und sie dann auch bedient.

liebe Grüße
Flora

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Beitragvon leonie » 06.11.2009, 21:05

Interessanterweise fordert so etwas keiner bei einem Liebesgedicht und sonst welchen (harmlosen) Innenbeschauungen. Im Gegenteil, hier wird sogar eine größtmögliche Interpretationsvielfalt gefordert, der Leser möchte sich nicht gängeln lassen, will nicht alles erzählt bekommen, möchte seine Freiheit haben und und und.


Ich kann mich an keine Liebesgedicht hier erinnern, bei dem eine strukturelle Ähnlichkeit zu diesem Text vorhanden ist, ansonsten würde mich das wirklich interessieren, wie das gelesen wird.

Der Mensch ist beides, gut und schlecht und beides findet seinen Ausdruck in der Kunst.


Aber es muss dann in der Kunst doch zumindest deutlich werden, worin sie sich von der Realität oder von anderen Darstellungsformen (bei denen man sich von allen anerkannt berechtigterweise geekelt oder geschockt abwendet) unterscheidet.
Und da ist wieder die Frage, ob der Leser genauer hinschauen oder der Autor die Unterschiede deutlicher herausarbeiten muss.

Dazu muss man natürlich die Struktur erkennen können, bzw. im ersten Schritt, danach suchen.


Und da ist wieder die Frage, ob der Leser genauer hinschauen oder der Autor die Unterschiede deutlicher herausarbeiten muss.


Ich muss ehrlich sagen, nach den Erfahrungen hier werde ich wohl keinen Text von Lisa mehr kommentieren. Und es mir auch bei anderen Texten gut überlegen, ob ich etwas dazu sage.
Die Kriterien, die hier an den Leser und erst recht den Kommentator angelegt werden, entmutigen mich ebenso wie bestimmte Bewertungen, die hier vorgenommen wurden.

Viele Grüße

leonie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 06.11.2009, 22:00

Hallo Leonie,

Ich muss ehrlich sagen, nach den Erfahrungen hier werde ich wohl keinen Text von Lisa mehr kommentieren. Und es mir auch bei anderen Texten gut überlegen, ob ich etwas dazu sage.
Die Kriterien, die hier an den Leser und erst recht den Kommentator angelegt werden, entmutigen mich ebenso wie bestimmte Bewertungen, die hier vorgenommen wurden.

Ich kann deine Reaktion zwar irgendwie verstehen, weil solche Diskussionen zumindest für mich auch unglaublich anstrengend sind.
Aber ich glaube diesen Druck etwas oder jemandem gerecht werden zu müssen, macht man sich letztlich dann auch selbst.
Und ich finde, dass Sam, Albert und auch Max ihre Erwartungen, Ansprüche und Vorstellungen dann genauso formulieren können sollten, wie wir eben auch, sowohl was die Texte, als auch die Kommentare anbelangt. Ich finde das dann auch spannend zu hören, und manchmal auch die Augen öffnend, für die Argumente in der Folgediskussion, weil es doch auch zeigt, wie unterschiedlich man eben einfach an Dinge herangeht und mit ihnen umgeht, wie man Dinge wahrnimmt und versucht zu verstehen.

Aber ich sehe nicht, dass da nicht auch Raum wäre für Diskussionen und eine „gesunde“ Auseinandersetzung und dass Lisa nicht auch genau das hier (im Forum und unter dem Text) möglich macht.
(Ich denke es ist eben nur unter dem eigenen Text dann nochmal schwerer, das zu zeigen und auch zuzulassen.)

Ich denke, da schicken wir schon wieder ein neues Gespenst in die Runde und nehmen auch wieder eine Freiheit raus.
Auch die Freiheit einmal nicht am Ende einer Meinung sein zu müssen, sich dort stehen lassen zu können und auch Bewertungen zu ertragen.

Die Sams, Alberts und Mäxe müssen es dann halt auch aushalten, wenn ich ihren Erwartungen nicht gerecht werde und ich sie ärgere mit meinen. ;-)

Also ich habe für mich beschlossen, dass ich nicht verstummen oder abstumpfen werde!
Weil ich glaube, dass es sich wirklich lohnt, im Gespräch zu bleiben, und dass etwas von meinem Gesagten, dann auch gehört wird.

edit: Schau doch mal, was Albert im Textbesprechungsfaden schreibt:
Albert hat geschrieben:Ich verstehe, dass besonders lange und damit ja auch automatisch irgendwie anspruchsvoller scheinende Kommentare unter Druck setzen. Aus meiner Sicht müssen sie das nicht, da du ja zu Recht auf dem Eigenrecht von Rückmeldungen anderer Form bestehst, so sehe ich das auch.


liebe Grüße
Flora

Nifl
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Beitragvon Nifl » 06.11.2009, 23:22

Huhu,

meine Meinung zu diesem Text spiegelt sich ziemlich genau in Ferdis, Floris ä as und Leos wider.
Besonders rege ich mich über die Deklaration Kunst (ein Raunen geht durch den Saal) auf.
Hilde flüstert Herbert zu:
„Ach, ein künstlerischer Text, also kein normaler? Ach so ach so, dann ist das was anderes. Interessant irgendwie. So Ausdrucksstark! Hätte ich das nur vorher gewusst. Es lebe die Kunst! Freie Kunst für freie Würger ä Bürger! Ich hatte ja nur den Sternchentext „Das ist Kunst“ nicht gesehen, so wie das bei Bildern ja immer gemacht wird mittels Fußnote. Aber jetzt wo ich das weiß, wow, was man da alles reinanalysieren kann.“

Ich denke, sobald Kunst als solche deklariert werden muss und nicht aus sich selbst heraus besteht, ist es allenfalls künstlich aber nicht Kunst. Das ist natürlich auch immer rezipientenpositionsabhängig, klar. Und natürlich wäre es sinnlos, eine allgemeingültige Demarkationslinie evaluieren zu wollen.
TROTZDEM: Ein Schreiber/Künstler steht auch in einer Verantwortung dem Rezipienten gegenüber, denn er stimuliert, Kunst hin oder her. Wäre für euch zB. Kinderpornografisches im künstlerischen Kolorit legitim (also in der Art wie im vorliegenden Text "nur direkt aufgesammelt")? (der Künstler wollte ja nur gesellschaftskritisch ausdrücken, dass alle Zivilisationsmenschen missbrauchte Kinder Gottes sind und überhaupt: Es gibt Kindesmissbrauch). Otto W. hatte die Kunst leider nicht erstanden ä verstanden und zerrt stimuliert ein Kind ins Auto…

Ich finde Alberts (und Max hat sich ja auch redlich Mühe gegeben) Analyse auch sehr interessant (beinahe künstlerisch *hihi), denke jedoch, es ließe sich zu jedem Poetrontext eine ähnliche konstruieren.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 07.11.2009, 00:38

Guten Abend,

Zuerst etwas off-topic:
Sam:
Mittlerweile schaue ich mir keine Dokumentarfilme über Konzentrationslager während der NS-Zeit mehr an. Ich habe etliche davon gesehen, war mehrmals in verschiedenen Gedenkstätten und kenne (bzw. kannte, da sie alle mittlerweile verstorben sind) persönlich Überlebende, die z.T. mehr als zehn Jahre inhaftiert waren. Diese Bilder wühlen mich derart auf, dass ich sie nicht mehr sehen mag (oder kann). Lesen kann ich aber nach wie vor über dieses Thema.


Geht mir auch so und bei mir geht es sogar noch ein Schritt weiter. Ich kann nachwievor Bücher zu diesem Thema lesen, allerdings nur noch schwer (Auto)Biographien von Überlebenden mit genausten Beschreibungen des Grauens. Die Bilder, die beim Lesen bei mir entstehen, sind identisch mit denen, die ich in Dokumentarfilmen gesehen habe. Diese Bilder wühlen mich derart auf, daß ein Alptraum in einigen der darauffolgenden Tagen vorprogrammiert ist.
Es findet eine so etwas wie ein Übertragung des Gesehenden auf das Gelesende statt. Eine Verknüpfung. Ich kann kein Buch eines Überlebenden mit Beschreibungen aus den Kzs mehr lesen, ohne die realen Bilder im Kopf zu haben.
Diese Bilder wühlen mich derart auf, daß ein Alptraum in einigen der darauffolgenden Tagen vorprogrammiert ist.

Und jetzt der Versuch die Kurve zum Ursprungstext zu bekommen:

Ich habe da mal ein paar Fragen:

Sam:
Allein dadurch bewegt sich der Text weg vom reinen Anschauungsmaterial hin zum gemachten, gestalteten Kunstwerk, mit einer Realität, die dem Leser einen ganz spezifischen, über den eigenen hinausgehenden Erfahrungsraum öffnet
von mir Fett markiert

Lisas Text ist ein gemachtes und gestaltetes Kunstwerk. Das stelle ich nicht in Abrede. Leonie und Flora wohl auch nicht. Die Eingangszeile und der erste Absatz von Kräuterwünsche sind meine Favoriten. (Bei Knirschen im Park bin ich immer noch der Meinung es ist zu viel, zu dick aufgetragen, aber gut.)
Aber kann es ein gestaltetes Kunstwerk - was ja auch etwas künstlich Geschaffendes ist - es schaffen, eine Realität darzustellen, die dem Leser einen über seinen eigenen Erfahrungshorizont hinausgehende Realität eröffnet? Zumal wenn es Leser gibt, so wie mir jetzt, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wissen, daß das was Lisa beschreibt, nicht eine von ihr so tatsächlich erlebte Gewalt und Schmerz ist? Wie kann es die zwar auf tatsächlichen Geschehnissen beruhende aber doch künstlich erschaffende Realität es schaffen, es mir zu ermöglichen, meinen Erfahrungshorizont mit meiner erlebten Realität zu erweitern, wenn ich doch zumindest spüre ich lese eine Fiktion?
Kann man es dadurch erreichen, daß man in der Abbildung der tatsächlich geschehenden Gewalt überzieht und noch eins draufsetzt? (Anmrkung: Ich finde den Text von Lisa nicht grenzwertig oder Grenzenüberschreitend)
Besteht dann nicht die Gefahr, daß das Kunstwerk dann unglaubwürdig wird?

----

Sam:
Sethe hat in ihrem schönen Kommentar ein regelrechtes Plädoyer für den letztendlich „guten Menschen“ vorgebracht. Sich aber dabei aufzuhalten kommt einer Utopie gleich. Der Mensch ist beides, gut und schlecht und beides findet seinen Ausdruck in der Kunst. Sich dem zu verschließen, geht immer mit einem gewissen Maß an Realitätsverlust einher. Und eine Literatur, die sich nur auf das Gute beschränkt, kann einschläfernd wirken. Nicht nur, weil sie auf die Dauer langweilig ist, sondern weil ihre betäubende Wirkung immer eine gewisse Gefahr in sich birgt.


Eben, beides - "guter" wie "schlechter" Mensch- findet seinen Ausdruck in der Kunst.
Letztendlich haben doch alle den selben Ausgangspunkt. Keiner hier wird bestreiten, daß es vom Menschen hausgemachte Mißstände, Gewalt und Schmerz gibt.
Es ist nur die Frage, wie damit umgehen.
Literatur und auch die sonstige Kunst, die sich nur damit beschäftigt, das "schlechte" im Menschen darzustellen, den Menschen als Opfer und Täter darzustellen, ist auf die Dauer genauso einschläfernd, sorry. Ebenso ist sich das nur befassen mit dem "Bösen", der Darstellung dessen absolut demotivierend. Zwar nicht einschläfernd, aber schlimmer, eben demotivierend, der Hoffnung beraubend. Letzendlich führt dies uns auch kein bißchen voran.

Wenn ich da recht verstanden habe, wurde hier u.a. als Kritik an den Kritikern angebracht, sie würden den Text nur von ihrer eigenen Wahrnehmung aus ablehnen.
Kunst ist auch eine Art der Kommunikation und eine Aufforderung zur Kommunikation. Sollte sie meiner Meinung sein. Über Kunst, die mit Anspruch daherkommt, dem Leser oder Sehenden das Kunstwerk vor den Latz zu knallen, und dann zu meinen, jetzt habe ich als Künstler aber meinen Teil dazu beigetragen, die Welt und die Menschen aufzuklären, aber sich dann der Kommunikation zu verweigern, ärgere ich mich.
Ein jeder hat einen andere Lebensgeschichte, hat andere Erfahrungen gemacht, was dazu führt, daß doch logischerweise auch die subjektiven Wahrnehmungen unterschiedlich sind. Wie kann sich dann aber ein Künstler auf diese subjektive Wahrnehmung nicht einlassen? Er braucht sie doch wohl, als Input aus der Gesellschaft. Wie will er Kunst schaffen, wenn er sich dauerhaft nur auf seine eigenen Erfahrungen und seine eigenen Wahrnehmungen verläßt? Macht er dann nicht Kunst nur für sich selber? Bewegt er sich dann nicht nur in seinem eigenen Horizont ohne die Möglichkeit diesen zu erweitern und will dann aber doch eine Realität schaffen, die den Erfahrungshorizont anderer erweitert?

Den Text von Lisa fasse ich als Kommunikationsangebot auf, sogar mehr, er ist eine auch Aufforderung darauf zu reagieren. So empfinde ich es. Ich halte dies für wichtig. Das ich als Leser die Möglichkeit habe, darauf zu reagieren, auch wenn die Reaktion darin besteht, der Aussage des Kunstwerkes nicht zuzustimmen. Das muß der Künstler aushalten, finde ich.
Umgekehrt muß es meine Fraktion ja auch aushalten, derartigeTexte immer wieder zu lesen/zu sehen. Wenn ich mich als Leser damit beschäftige, ja sogar damit beschäftigen muss, um meine Position zu überdenken und zu überprüfen, erwarte ich das auch von der Kunst.

So und jetzt habe ich den Faden verloren.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)


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