Das Sterben der Großmutter

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Sam

Beitragvon Sam » 08.05.2010, 08:24

Das Sterben der Großmutter

oder

Variationen zu einem Thema


Ein autobiografischer Essay


Ernst Morwitz, ein Freund Stefan Georges, sagte: „Die Toten lächeln, weil sie ein Geheimnis vor uns voraushaben.“ Dies bemerkte er, weil andere Freunde des gerade verstorbenen Dichters dessen Totenantlitz als erhaben und nach Innen lächelnd beschrieben hatten.
Großmutter lächelte nicht, nachdem sie gestorben war. Ihr zahnloser Mund, tief in die Mundhöhle eingesunken, sah aus, als würde sie ihn zusammenpressen. Die Nasenlöcher waren nur noch dünne Schlitze. Man hätte meinen können, ihre Nase sei in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch gewachsen, neben dem Leben, hätte auch das Nasenbein versucht aus dem Körper zu fliehen. Am auffälligsten aber waren ihre Augen. Rund wie Murmeln, die geschlossenen Lider von einer glänzend violetten Farbe, erschienen sie wie Fremdkörper, die man in die leeren Augenhöhlen eingelegt hatte. Das Totengesicht der Großmutter hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es war ein stillgelegter Bahnhof, ein für immer verlassenes Gebäude. Warum hätte sie lächeln sollen wegen eines blöden Geheimnisses, das die Toten überhaupt nicht interessiert? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.


Die meisten Religionen, die ein Weiterleben nach dem Tod lehren, verurteilen den Selbstmord. Als bestünde die Gefahr, dass diejenigen, die an die Unsterblichkeit glauben der Versuchen erliegen könnten, eine Abkürzung zu nehmen. Womöglich waren sich aber auch die Personen, die solche Regeln aufstellten, ihrer Sache nicht ganz sicher. Wie dem auch sei, es ist ein Gebot für Kranke und Unglückliche. Kein gesunder und glücklicher Mensch würde seinem Leben ein Ende setzen wollen, nur weil ihn auf der anderen Seite etwas Besseres erwartet. Und selbst die meisten Kranken und Unglücklichen halten an ihrem Leben fest, klammern sich an jeden Strohhalm, der ihnen eine Stunde, einen Tag oder länger ihre Existenz bewahren hilft. Der Mensch hat ein ihm innewohnendes Gespür dafür, dass nach dem Tod nichts mehr kommt.


Die letzten zwei Tage lag die Großmutter mit geschlossenen Augen im Bett und atmete schnell durch den offen stehenden Mund. Die eingesaugte Luft schabte trocken ihren Hals hinunter. Es sah so aus, als würde sie den Kopf in das Kissen drücken. Kein Wunder, dass die Umstehenden dachten, sie kämpfe gegen den Tod. Einmal beugte sich die Schwiegertochter zu ihr herunter, strich ihr über die Stirn und flüsterte: Lass doch los. Lass doch los!
Aber Großmutter dachte nicht daran. Als sei Ein- und Ausatmen ebenso ein Daseinszweck. Eine Aufgabe, die man zu erfüllen hatte, bis eben auch das nicht mehr ging. Es war schmerzhaft dieses heftige Atmen zu hören, weil man sich vorstellte, dass es für sie schmerzhaft sein musste. Es erinnerte mich an Wanderungen, bei denen man stundenlang bergauf läuft und irgendwann nur noch einen Schritt vor den anderen setzt. Spaß macht das keinen mehr, aber wenn man ankommen will, muss man weiterlaufen. Und wer leben will, muss atmen. Also weiteratmen, auch wenn man dabei Gott verspottet. Oder die Natur. Mindestens einer von beiden will den Tod. Aber das sieht ein Mensch wie Großmutter gar nicht ein. Sechsundneunzig Jahre schenkt man nicht einfach so her. Das Leben schenkt man nicht her. Wer es haben will, der muss es sich nehmen und zwar mit Gewalt. Muss es aus dem wundgeatmeten Hals herausreißen.


Die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ist nicht zu überbrücken. Viele, die sich Christen nennen und an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod glauben, sind ebenso davon überzeugt, dass die Evolution eine Tatsache ist. Man stelle sich das vor: Das Leben entwickelt sich vom Einzeller hinauf bis zum Homo Sapiens. An welchem Punkt kommt die Seele ins Spiel? Welches war das erste Lebewesen, das eine Seele hatte, die nach dem Tod weiterlebte? Woher kam die? Und selbst wenn ein Schöpfer sich der Evolution bedient hätte, dann müsste er zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegt haben, das nächste Geborene bekommt das Geschenk einer Seele. Das ist unlogisch und auch grausam.
Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod ist eine klare Verneinung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse.


Die Pornografie des Sterbens. Atemzüge, die immer langsamer werden, obwohl sie nichts an Kraft verlieren. Und man steht dumm daneben. Vater war ins Nebenzimmer gegangen. Jetzt wurde er gerufen. Es ginge zu Ende. Aber niemand schrie auf, niemand stellte sich schützend vor die Sterbende. Weil es ja sowieso passiert. Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden. Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, war noch nie ein Mensch gestorben. Was wusste Kain vom Tod? Er kannte ihn nur aus der göttlichen Strafverkündung: Ihr werdet sterben!
Das Wissen ums Sterben hat aus dem Menschen einen Mörder gemacht.


Warum stand nicht der Geist neben Großmutter und macht sie wieder jung und gesund? Jener Geist, der sie, als sie zwölf Jahre alt war und an einer schweren Innenohrentzündung litt, heilte. Es ist die einzige unheimliche Geschichte, die Großmutter jemals erzählte und sie wirkte dabei selbst so erschrocken, dass ich die Begebenheit bis heute für wahr halte.
Meine Urgroßeltern hatten ein Haus in der Nähe von Zwickau. Es war Anfang der zwanziger Jahre. Aufgrund einer Blutvergiftung starb der zweitjüngste Bruder der Großmutter. Ein Bekannter der Familie erzählte ihrer Mutter von einem Medium, das Kontakt zu dem Verstorbenen herstellen könne. Also ging meine Urgroßmutter zu einer dieser Seancen und tatsächlich sprach ein Geist durch das Medium zu ihr und berichtete von ihrem Sohn. Von da an besuchte die Urgroßmutter regelmäßig das Medium. Ihr Mann stand dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber, ließ sich jedoch eines Tages dazu überreden, an einer der Sitzungen teilzunehmen. Als der Geist in das Medium fuhr, war er sehr aufgebracht, da sich jemand im Raum befände, der nicht an Geister glaubte. Der Urgroßvater gab sich zu erkennen. Darauf sagte der Geist zu ihm: „Du hast eine Tochter, die sehr krank ist. Ich werde heute Nacht zu ihr gehen und sie heilen.“.
In jener Nacht erwachte die Großmutter mit dem Gefühl, dass jemand neben ihrem Bett stünde. Sie schlief wieder ein und als sie am Morgen erwachte, waren ihre Ohrenschmerzen verschwunden. Sie kehrten auch nicht wieder, aber von diesem Tag an spukte es in dem Haus. Jede Nacht hörte man Stimmen und Geräusche, als würden schwere Möbel verrückt. Urgroßmutter verlor zeitweise den Verstand und verbrachte mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt. Das war kurz nachdem der jüngste Bruder der Großmutter über Nacht verstarb, ohne dass man hätte sagen können warum. Auffällig war nur gewesen, dass er am Abend zuvor viele Dinge noch einmal machen wollte. Darf ich noch mal diesen Tee haben? hatte er gefragt, oder noch mal jenes Spielzeug? In der Nacht kam er in das Bett der Eltern gekrochen und fragte, ob er noch einmal bei ihnen schlafen dürfe. Am nächsten Tag war er tot.
Das Spuken hörte nicht auf, bis die Familie aus dem Haus auszog.


In einem kurzen Text beschreibt George Orwell eine Hinrichtung, der er während seiner Dienstzeit in Burma beiwohnte. Dem Bericht fehlt auf beunruhigende Weise jedwedes Pathos. Nachdem der Tod des Delinquenten festgestellt ist, wird darüber diskutiert, was es wohl zu essen gäbe. Interessant sind jedoch die Gedanken des Erzählers, während der Verurteilte zum Galgen läuft. Dessen Ruhe beeindruckt Orwell offensichtlich, was ja nichts anders heißt, als dass er diese Gelassenheit gegenüber dem Tod nicht besitzt. Weil ihm bewusst wird, was es heißt, wenn ein Mensch stirbt. Er sagt wörtlich: „Eine Welt geht unter.“ Jeder Tod ist ein Weltuntergang, da es keine zwei Menschen gibt, die die Welt mit den gleichen Augen sehen. Der Tod zerstört einen absolut einzigartigen Blick auf das Leben und einen Geist, der diesen Blick wahrnimmt und als sein Eigentum beansprucht.


Großmutter glaubte an Gott. Seit ihrer Kindheit ging sie regelmäßig in die Kirche. Und da sie sehr musikalisch war, wurde sie schon in sehr jungen Jahren Organistin. Zunächst in einer evangelischen Kirche. Später sprach sie der katholische Pfarrer des Ortes an und fragte, ob sie denn nicht auch in seiner Kirche spielen könne. Die Gemeinde entbehrte schmerzhaft einen guten Organisten. Und außerdem müsste er sie warnen. Der protestantische Kollege wäre dafür bekannt, es mit der ehelichen Treue nicht so genau zu nehmen. Großmutter akzeptierte sowohl die Warnung als auch das Angebot und radelte sonntags zwischen zwei Kirchen hin und her. Am Ende war es allerdings der katholische Hirte, der versuchte sie zu verführen.


Die ersten Toten die ich sah, waren Leichenhaufen. Fotos in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Großmutter hatte mich dort mit hingenommen. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Am meisten beidruckte mich die so gut leserliche Aufschrift „Duschbad“ über dem Eingang zur Gaskammer. Ich wusste genau, welchem Zweck diese Anlagen dienen sollten. Der Hohn der Worte war mir bewusst. Großmutter erzählte, dass sie oftmals den Gestank der verbrannten Leichen riechen konnten. Und wie der behinderte Sohn einer Bekannten abgeholt wurde, und seine Mutter für ihn extra einen Apfelkuchen gebacken hatte, um ihm etwas mitzugeben, was er sehr mochte. Der Junge kam nie wieder. Großmutter erzählte auch, dass sie, als schon die amerikanischen Panzer in der Stadt waren, noch immer an Hitlers Wunderwaffe geglaubt hatte.


Das Gehirn bereitet den Menschen aufs Sterben vor, indem es vergisst. Die Vorstellung von Zeit ist ein Konzept von Sterblichen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen. Die Zeit ist ein Pfeil, der schnell vorwärts schießt, daran angebunden ein unendlich großer Sack, der sekündlich mit Vergessen gefüllt wird. Die Zeit ist ein Grab. Großmutters Geschichten werden mit mir sterben und damit in den Sack gefüllt. Ich werde in den Sack gefüllt. Es ist lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Aber alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard)


Vor einigen Jahren gingen Vater und ich die Straße entlang, in der er und Großmutter während der Kriegszeit wohnten. Er zeigte mir die Stelle, wo er auf eine Glasscherbe getreten war und sich dabei den großen Fußzeh abgetrennt hatte. „Und da hinten“, sagte er, „da wohnte der Soundso. Den habe ich während des Krieges immer beneidet und tue es im Grunde heute noch. Der hatte sich einen Unterstand in seinem Garten gebaut und jedes Mal, wenn die Sirenen einen Luftangriff ankündigten, ging er dorthin. Von da aus konnte er genau beobachten wohin die Bomben fielen. Wir saßen derweil im Keller, hatten Angst und wussten überhaupt nichts.“
Es ist beeindruckend zu erfahren, dass der eigene Vater einen Menschen heute noch beneidet, der sechzig Jahre zuvor nicht soviel Angst zu haben brauchte.


Eine Mutter sieht ihr Kind sterben. Leukämie. Die Ärzte haben getan was sie können und das war in diesem Fall nicht genug. Das Leben schleicht sich aus dem jungen Körper. Das Kind stirbt zu Hause, so will es die Mutter. Es erscheint ihr richtig, auch wenn sie weiß, dass sie damit die Wohnung und das Haus für alle Zeit vergiften wird. Es wird ein Totenhaus werden, mit einer Totenwohnung. Darin ein Totenzimmer. Auch das Kind lächelt nicht, als es gestorben ist, sondern sieht seltsam alt aus und erschöpft.
Einige Straßen weiter klingelt ein Prediger einer so genannten Sekte an einem Haus. Ein älterer Herr öffnet die Tür. Der Prediger erzählt vom Paradies und vom ewigen Leben. Der Mann meint daraufhin, dass ewig zu leben wohl doch langweilig wäre. Und alles so friedlich, nein, es brauche das Böse, um das Gute zu schätzen. Es brauche den Tod, damit die Lebenden wissen, was sie haben.


Der erste wirkliche Tote, den ich sah, war Großvater. Ich hatte einige Wochen bei meinen Großeltern verbracht und nun wollten wir gemeinsam mit der Bahn zu den Eltern fahren. Großvater ließ Plätze reservieren. Im letzten Wagon, weil es da am ruhigsten war und niemand in den Gängen stand. Als wir auf den Bahnsteig kamen, stand der Zug schon da und wir stiegen ein. Großvater las Zeitung und Großmutter stickte den armen Poeten von Spitzweg. Ich beobachtet sie dabei und schaute mir immer wieder das Gedränge auf dem Bahnsteig an. Schließlich hörte ich den Pfiff des Schaffners. Ein kurzes Rumpeln. Die Leute draußen winkten. Aber wir bewegten uns nicht. Großvater legte die Zeitung weg, schob das Fenster herunter und sah hinaus. Dann fing er an zu schreien. Ich weiß nicht mehr genau was, aber es dauerte nur einige Sekunden, da ließ er sich wieder auf den Sitz fallen, schaute meine Großmutter an und sagte: „Die haben den Wagon nicht angehängt.“ Großmutter legte den armen Poeten neben sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. „Das gibt es doch nicht“, sagte sie, „die können doch nicht ohne uns fahren.“ Großvater aber flüsterte nur noch: „Ich bin müde“, und im gleichen Moment fiel sein Kopf nach hinten und er war tot.


Borges glaubte nicht an die Unsterblichkeit. Nicht an eine persönliche, wohl aber an eine, wie er es nennt, kosmische. Von allem was man getan, gesagt und auch geschrieben hat, wird etwas bleiben, und sei es nur eine vage Erinnerung. Im Grunde aber ist diese Unsterblichkeit nichts anderes, als der Glaube an einen ewigen Kreislauf von Wiederholungen. Hatte ein Mensch vor tausenden von Jahren das tosende Meer bestaunt, und stehe ich heute genauso staunend davor, dann bin ich auch jener schon längst vergessene Mensch, da in mir ein Gefühl wohnt, das einst auch ihn erfüllte. Wenn ich Shakespeare lese, dann bin ich Shakespeare, weil seine Worte durch mich hindurchgehen. Lese ich Goethe, bin ich Goethe usw. Diese Unendlichkeit bringt keinen Trost für den, der sich eine individuelle Unsterblichkeit ersehnt. Nicht jeder denkt wie der Argentinier, der den Gedanken grauenhaft fand, für immer Borges zu sein. Wahrscheinlich sogar die wenigsten. Vielleicht hat er in dem Moment seines Todes auch anders gedacht und sich gewünscht, doch noch weiter Borges sein zu können. Seine Existenz in ein philosophisches Konzept einzubetten, ist eben doch nur eine metaphysische Krücke, die dazu dienen soll, unser Unbehagen vor der Ewigkeit einerseits und der Endlichkeit anderseits zu überwinden. Gleiches gilt für die Religion. Den Toten sind alle diese Dinge natürlich egal.


Großmutter hatte es fast geschafft. Das war zu hören. Immer länger wurden die Pausen zwischen den Atemzügen. Man wartete nur noch auf den Tod, sehnte ihn fast herbei. Der innere Abschied war vollzogen, man mochte es nun auch offiziell haben. Großmutter blieb aber noch für einige Minuten. Immer wieder ein tiefes, noch hartes Einatmen. Danach das Abstoßen der verbrauchten Luft. Vater hielt ihre schlaffe Hand. Sie hatte ihm das Leben geschenkt und einmal sogar gerettet. Gegen Ende des Krieges, als täglich die Bomber kamen, nahm Großmutter den Sohn aus der Schule und er musste mit ihr zusammen auf die Arbeit gehen. Dort spielte er auf dem Boden oder las Bücher. Wenn die Sirenen heulten, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder in eines der Erdlöcher, schnell in den Boden gegrabene Unterstände die allenfalls Schutz vor Bombensplittern boten, oder in den großen Bunker auf der anderen Seite der Kreuzung. Als wieder einmal die Sirenen losgehen, schnappt die Großmutter den Jungen, rennt die Treppen herunter und schlüpft in eines der Erdlöcher. Nochmals ertönt das Signal, warnt vor einem Großangriff. Einen Moment zögert sie, dann greift sie den Jungen an der Hand und rennt aus dem Unterstand. Die ersten Bomben fallen schon, als sie den Bunker erreicht. Sie schlägt gegen die Tür, die kurz aufschwingt und die beiden werden hineingesaugt. Drei Stunden bleiben sie dort und spüren wie die Stadt bebt und ächzt. Als es vorbei ist, schlüpfen sie ins Freie, überqueren die Kreuzung und kommen an dem Erdloch vorbei, in dem sie zuvor gesessen hatten. Es ist größer geworden. Ein Trichter, gefüllt mit zerrissenem Holz und Asphalt. Das Bein eines kleinen Jungen liegt am Rande des Trichters, sein Kopf etwas weiter links. Die Großmutter erinnert sich an ihn. Er hatte auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und der Rotz war ihm die Nase herunter gelaufen, sodass Großmutter noch nach einem Taschentuch für ihn suchen wollte, aber da waren dann die Sirenen und sie hatte plötzlich andere Dinge im Kopf.


Nietzsches Gottesverleugnung war eine Abwehrreaktion, die ihn in den Wahnsinn geführt hätte, wäre er es nicht auch so geworden. Ist man einmal mit dem Gottesglauben infiziert, dann gibt es keine Heilung davon. Man wird bis zum Rest seines Lebens versuchen ihn entweder zu beweisen oder zu widerlegen. Loswerden kann man ihn nicht.


Dann starb Großmutter. Nach dem letzten Ausatmen war für einige Sekunden Ruhe. Noch ein lauter und tiefer Seufzer und es war endgültig Schluss. Als hätte man eine Maschine abgeschaltet. Mit der Ruhe brachen die Tränen aus. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Familie hatte dem Tod einen weiteren Tribut gezollt. Keiner dachte in diesem Moment daran, wer der Nächste sein könnte, aber dass es einen Nächsten geben wird, ist gewiss.


„Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe, und der Tag des Todes denn der Tag der Geburt. Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt's zu Herzen.“
(Prediger 7:1,2)

african queen

Beitragvon african queen » 12.05.2010, 17:59

für mich ein kleines Meisterwerk, gerade das es "scherer Tobak " bleibt, nach dem Lesen.
Vieles wurde schon herausgearbeitet, über den Tod zu schreiben in dieser Nachhaltigkeit-
nicht leicht, und doch nimmst du die Schwere irgendwie weg, hebst sie immer wieder auf.
ohne die Ernsthaftigkeit des Ereignisses in Frage zu stellen.
lg
african queen

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 12.05.2010, 23:21

Hallo Sam,

in der Regel bereiten einem Deine Texte ein kleines "Problem", nämlich dem, daß für reine Textarbeit keine Notwendigkeit besteht, denn der Text ist fertig sozusagen, vielleicht fehlt mal ein Komma, aber das war es dann auch schon.
Vielmehr ist der Inhalt und die Aussage des Textes, die mir einen Anreiz liefert, etwas dazu zu schreiben. Ebenso darüber etwas zu schreiben, wie dieser fertige Text auf einen wirkt.

Im Gegensatz zu einigen anderen empfand ich die Passagen mit den Familienanekdoten als störend. Ich habe über diese schnell hinweggelesen, insbesondere über die Episode mit dem Geist. Diese Familiengeschichten empfand ich deshalb als störend, weil ich wissen wollte, was Du denn nun weiteres über den Tod an sich so schreibt. Anders ausgedrückt: Es ging mir nicht schnell genug, weil dazwischen diese Geschichten stehen.

Aufgehorcht habe ich beim letzten Satz des 1. Absatzes:

Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.


Ab diesem Satz interessierte mich nur noch, was Du über den Tod und die Toten schreibst.
Dieser Satz hat Widerspruch bei mir ausgelöst, und damit den gegenteiligen Effekt ausgelöst, den Nicole in ihrem Beitrag ansprach; daß der Leser erst am Ende zum Nachdenken kommt, weil der Text eben nicht direkt eine sofortige Ablehnung auslöst. Bei mir war es nicht so.

Weiter unten im Text schreibst Du auch noch:

Den Toten sind alle diese Dinge natürlich egal.


Beide Sätze beschreiben die Toten so, als ob diese noch leben würden. Wie kann ein Toter überhaupt noch etwas interessieren, fühlen, lächeln, weinen usw.? Der Mensch ist tot. Es ist nichts mehr da, was ein wie auch immer geartetes Interesse haben kann.
Die Beschreibung von Toten und die Zuweisung von Eigenschaften und Verhaltensweisen von lebenden Menschen diesen stört mich.
Tote zu beschreiben, als ob ich es mit einem lebenden Menschen zu tun habe, ist für mich auch ein Ausdruck dessen, daß der Tod nicht akzeptiert wird/wurde.
In die Richtung geht auch, wenn Du schreibst, die Toten lächeln, oder auch die Formulierung " Auch das Kind lächelt nicht, als es gestorben ist". Natürlich nicht, Tote können nicht lächeln, oder erschöpft aussehen. Es ist der sterbende Mensch, noch lebenden Mensch, der lächelt oder erschöpft und traurig aussieht, im Angesicht seines Todes. Der Tod hält dieses dann fest. Meine Mutter hat uns erzählt, daß meine Oma eine zufriedenen Gesichtsausdruck gemacht hat, als sie gestorben ist. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie auch, als sie dann tot war. Nur diesen Gesichtsausdruck mit dem dahinterstehenden Gefühl hat sie als Lebende gehabt und nicht als Tote.
Das mag erbsenzählerisch klingen, aber ich will darauf hinaus, daß, wenn man einen Toten so beschreibt, als er ob noch in der Lage ist, etwas zu machen, was nur ein lebender Mensch kann, nicht akzeptiert, daß der Mensch tot ist.
Dieses tot sein ist unumkehrbar, auch wenn es schön wäre, wenn es umkehrbar wäre, ist diese Beschreibung ein Versuch dieses Unumkehrbare- den Tod nämlich- hinauszuschieben.
Nur wohin schieben? Wie weit hinaus?
Wenn ich den Tod nicht akzeptiere, akzeptiere ich auch nicht die Konsequenzen, die der Tod hat. Ein Mensch ist ein für alle mal nicht mehr da. Wenn ich den Tod akzeptiere, und daß ein jedes Leben mal enden wird, sage ich damit zu gleich, daß ich eben alles versuche, den Tod nicht vorzeitig herbeizuführen, eben weil das Leben eines Menschen, das der Tod beendet, so kostbar ist, das es bis zu dem Zeitpunkt, wo es unausweichlich ist, schütze so gut es geht. Die Akzeptanz des Todes beeinhalt gleichzeitig Respekt und Achtung des Lebens.
Die Akzeptanz des Todes macht keine Mörder, eher das Gegenteil. Wenn ich den Tod nicht akzeptiere, habe ich keine Achtung vor dem Leben, und mangelnde Achtung des Lebens ist eine geringer Hemmschwelle um zum Mörder zu werden.
Was ist das für eine Motivation, das Leben zu schützen, wenn man den Tod nicht akzeptiert, sondern sich der Vorstellung hingibt, es geht auch nach dem Tode weiter? Wozu denn das Leben schützen, wenn der Mensch auch nach dem Tod irgendwie weiterlebt?

Weiter schreibst Du:
Jeder Tod ist ein Weltuntergang, da es keine zwei Menschen gibt, die die Welt mit den gleichen Augen sehen. Der Tod zerstört einen absolut einzigartigen Blick auf das Leben und einen Geist, der diesen Blick wahrnimmt und als sein Eigentum beansprucht.


Meine Lieblingsstelle des gesamten Textes. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich ein Weltuntergang ist, denn es werden ja wieder Menschen geboren, und es wird wieder absolut einzigartige Blicke auf das Leben geben.
So einzigartig, daß tatsächlich kein Mensch wie der andere die Welt mit gleichen Augen sieht. Einen Sonnenuntergang oder die Wellen des Meeres sieht ein jeder anders, ähnlich vielleicht, aber nie identisch.
Die Erinnerungen, die jemand an einen verstorbenden Menschen hat, beziehen sich darauf, wie dieser nach außen hin gewirkt hat, als er dieses oder jenes erlebte. Ich erinnere mich, dieser Mensch war traurig, war glücklich usw. Aber die Emotionen und Gefühle diese Menschen kann ich nicht zu meinen eigenen machen. Dann sonst gäbe es keinen absolut einzigartigen Blick mehr auf das Leben.

Deshalb finde ich, daß Du dich hier widersprichst:

Hatte ein Mensch vor tausenden von Jahren das tosende Meer bestaunt, und stehe ich heute genauso staunend davor, dann bin ich auch jener schon längst vergessene Mensch, da in mir ein Gefühl wohnt, das einst auch ihn erfüllte. Wenn ich Shakespeare lese, dann bin ich Shakespeare, weil seine Worte durch mich hindurchgehen. Lese ich Goethe, bin ich Goethe usw


Dieser längst vergessene Mensch hatte seinen einzigartigen Blick, seinen eigenen, höchstpersönlichen Blick. Es war sein Eigentum.
Nicht das Eigentum eines Menschen, der viele Jahre später in der gleichen Situation ist. Das Gefühl, das dann in Dir wohnt, kann nicht das Gefühl sein, welches in dem längst vergessenen Menschen gewohnt hat.
Dann wäre der Blick dieses Menschen nicht mehr einzigartig.
Es gibt daher keine Unendlichkeit und keine sich wiederholenden Schleife des Lebens.
Du schreibst ja selber, der Tod zerstört diese Einzigartigkeit. Es kann sich nichts wiederholen, keine Schleife geben und damit auch keine Unendlichkeit.
Der Tod sorgt eben für die Endlichkeit.
Und das ist ja auch das Kostbare am Leben eines jedes einzelnen, daß es eben nicht so ist, daß ein Mensch die selben identischen Gefühle haben kann, wie ein verstorbender Mensch bzw. generell wie ein anderer Mensch.
Die Einzigartigkeit eines jedes Lebens ist nicht mehr gegeben, wenn z.B. ich das selbe Gefühl in mir wohnen habe, als ich das erste Mal das Meer, wie meine Oma, als sie zum ersten Mal das Meer sah.
Meine Einzigartigkeit ist damit nicht mehr gegeben, aber auch die Einzigartigkeit meiner Oma bzw. eines jedes verstorbenen Menschen ist damit verloren.

Das waren meine - ähm- kurzen Anmerkungen.
Ich glaube das Leben und der Tod sind ein Thema, da kommen die Menschen nie auf einen gemeinsamen Nenner. Nicht so sehr wegen Religions- und Glaubensfragen, sondern weil jeder einzigartig ist, und die Beendigung dieses Lebens ist halt was so Höchtspersönliches, was ein anderer nicht so richtig nachempfinden kann.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Sam

Beitragvon Sam » 13.05.2010, 07:57

Oh, noch mehr ausführliche und interessante Kommentare! Habt vielen Dank dafür!

Der Übersichtlichkeit halber werde ich nach und nach auf eure Kommentare eingehen. Ich fang mal mit Mucki und Yorick an:

Hallo Mucki,

ich denke, ein Essay kann durchaus autobiografisch sein. Ich sehe es weniger als Widerspruch, denn eine Verknüpfung.

. Da durch den Begriff "Essay" quasi die "Erlaubnis" für dich als Autor erteilt wird, apodiktische Aussagen zu treffen. Und diese Aussagen, derer sich viele in deinem Text finden, dürfen in einem Essay absolut subjektiv sein. Durch den Zusatz "autobiografisch" dürfen sie zudem ziemlich persönlich sein und durch die authentischen Erlebnisse wird das "autobiografisch" doppelt untermauert. Zugleich entziehst du damit dem Leser das "Veto-Recht", das "Ja, aber ...".


Genau aus diesem Grund habe ich diese Form gewählt, weil mir diese absolute Subjektivität wichtig war. Dem Leser dadurch ein Veto-Recht zu entziehen, daran habe ich nicht gedacht. Wohl aber daran, dem Leser die Möglichkeit zu geben, Widerspruch einzulegen, ohne dass er Angst haben muss, irgendwelche Gefühle des Autors zu verletzen. Eine reine autobiografische Erzählung über den wirklich erlebten Tod eines Verwandten, wollte ich nicht kritisieren, da so etwas oftmals mehr Trauerarbeit denn Literatur ist. Die Distanz die hier aber durch die Form des Essays und auch die Art des Erzählens aufgebaut wird, erlaubt es dem Leser glaube ich, ungehemmt kritisch mit dem Text umzugehen. Und das ist hier ja auch, sehr zu meiner Freude, passiert.

Durch die Essay-Abschnitte wurde ich immer wieder rausgeworfen


Das habe ich erwartet und auch damit gerechnet, dass das viele Leser abschreckt. Aber wenn es dann doch so ist, wie du schreibst, dass man auch durch diese Passagen am Haken genommen wird, ist das für mich natürlich sehr erfreulich. In dieser Hinsicht habe ich auf den Leser wenig Rücksicht genommen, sondern das Ganze so gestaltet, wie ich es auch am liebsten lesen würde.

Ja, die vielen kleinen Anekdoten und Geschichtchen über meine Großmutter – Nicole vermisst sie ja auch. Aber wie schon erwähnt, das sind Dinge, die wirklich erzählt werden wollen, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken und nicht, wie hier, existenzielle Fragen beleuchten. Ich denke, das ein oder andere werde ich in Geschichten bestimmt noch erzählen.



Hallo Yorick,

auch dir vielen Dank für’s Lesen!


Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 13.05.2010, 08:29

Hallo Renée,

vielen Dank, dass du dich nochmals zu Wort gemeldet hast!

Nun, das mit dem „Lächeln der Toten“ finde ich auch problematisch, aber ich denke, das kommt in dem Text auch zum Ausdruck. Es ist ja ein Zitat, welches ich für einen guten Einstieg hielt. Im Grunde kreist der ganze Essay ja um die Frage: Gibt es eine Form des individuellen Daseins, die über den Tod hinaus existiert, oder ist danach einfach alles vorbei?
Morwitz Aussage über das vermeintliche Lächeln des Toten und dessen Wissen um ein Geheimnis, ist der Einstieg zu einem Gedankenspiel, das auch Widersprüchlichkeiten zulässt.
Die Behauptung: „Den Toten ist alles egal“ ist eine Wiederaufnahme des Anfangsmotivs, des in gewissem Sinn noch „aktiven“ Toten. Mann kann es allerdings auch als Überspitzung sehen, als Abwehrhaltung des Autors gegenüber jenem metaphysischen Konzept, das Borges formuliert hat und keinen wirklichen Trost enthält.
Auch deine weiteren Bemerkungen habe ich mit Interesse gelesen und kann dir in vielem Zustimmen. Blanchot kenne ich leider nicht, aber die Aussage, dass Schreiben Sterben sei – ich weiß nicht. Wenn dann eher in einem ganz konkreten Sinn, als das man, während des Schreibens eigentlich keinen Anteil am Leben (an der realen Welt) hat, weil man sich in einer ganz eigenen Welt befindet. Anderseits – da das Hauptthema der Literatur, neben der Liebe, der Tod ist – befindet man sich beim Schreiben möglicherweise immer in gefährlicher Nähe zu den Toten.

Noch etwas zu deinem Verbesserungsvorschlag. Das Anhängsel „…so vermuten wir jedenfalls“ würde glaube ich den Text schwächen. Alles, was man über den Tod sagen kann ist nur Vermutung. Egal nun, was man darüber denkt oder glaubt, es bleibt immer ein kleiner Rest an Zweifeln, Fragen, Ungewissheiten. Diese Auszudrücken gibt es zwei Möglichkeiten: die direkte Benennung (also einen Text voller Fragezeichen), oder aber die klare Aussage (ein Text voller Ausrufezeichen), gestellt in ein Umfeld, welches diesen Aussagen wiederum den Boden entzieht. Ich habe mich für zweiteres Entschieden, weil dies für mich in der Literatur immer der interessantere und auch vielschichtigere Weg ist.


Hallo Quoth,

auch dir nochmals vielen Dank! Montaigne... Habe ich mir vor einiger Zeit mal als Hörbuch (gelesen von Otto Sander) gegönnt und es sehr genossen.


Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 13.05.2010, 09:03

Hallo keinsilbig,

dein Kommentar ist sehr interessant für mich, weil du ihn von einer ganz anderen Seite angehst. Als jemand, der die beschriebene Erfahrung einen geliebten Menschen sterben zu sehen, noch sehr lebhaft in Erinnerung hat. Die Frage, wie so jemand diesen Text liest, habe ich mir eigentlich nicht gestellt, aber es ist schön zu sehen, dass er auch dann noch „funktioniert“. Es ist bestimmt auch noch ein großer Unterschied, ob man, wie in deinem Fall, die eigene Mutter sterben sieht, oder die Großmutter mit 96 Jahren. Sie war zwar bis kurz vor ihrem Tod noch recht fit, aber dennoch war man sich der Tatsache bewusst, dass es irgendwann in näherer Zukunft so kommen musste.
Nichtsdestotrotz bleibt die Erfahrung, bleiben die Bilder, die Fragen, die Gedanken. Dass ich irgendwann darüber schreiben würde, war mir recht bald klar, aber es hat dann doch über ein Jahr gedauert, bis sich für mich eine Form ergab, in die sich das alles ergießen konnte. Und fast automatisch ergab sich dieses Pulsieren von Nähe und Distanz, wobei die Nähe, je länger ich schrieb immer mehr zunahm und der Text sich mit einer Menge Geschichten meiner Großmutter füllte. Die habe ich aber dann, wie schon erwähnt, wieder gestrichen. Nicht weil mir die Nähe unangenehm gewesen wäre, sondern aus rein literarischen Aspekten, im Sinne der Konzentration auf ein Thema. Die aufgebaute Distanz ist bei mehr also weniger ein Abwehrmechanismus, sondern der Ausgangspunkt dafür, dieses Thema so zu behandeln, wie ich es aus formalen und inhaltlichen (man könnte auch sagen aus künstlerischen) Gründen für richtig hielt. Denn, obwohl autobiografisch und rein subjektiv, ist es für mich immer noch ein Text. Also keine Trauerarbeit, sondern eher deren Essenz. Denn, wie du selber schreibst…
die frage "wie werde ich das mal erleben, wenn meine zeit gekommen ist?" ist hier indirekt das eigentliche thema

… ist dieser Text ja weniger ein Hadern mit dem Tod eines Menschen, der einem nahe stand, sondern der Ausdruck des Nichtakzeptierenwollens der eigenen Endlichkeit.

Jedenfalls freut es mich, wenn du das Dargestellte aus deiner Sicht und aus eigener persönlicher Erfahrung als wahrhaftig empfindest.

Vielen Dank!


Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 13.05.2010, 09:20

Liebste Nicole,

du hast ja den Vorteil die längere Version zu kennen (und auch, meine Großmutter noch kennen gelernt zu haben). Und ich weiß, dass dir diese vielen kleinen Geschichten gut gefallen haben. Umso mehr freut es mich, wenn du der Meinung bist, dass die Kürzungen dem Text selber gut getan haben.
So findest Du eine Klammer, die dazu führt, das die Gedanken sich langsam setzen können und der Leser quasi erst nach Ende der Lektüre (lange danach) merkt, was Du ihm da serviert hast und dann, ohne spontane Ablehnung, darüber nachdenken kann.

Wie man an den Kommentaren sehen kann, geht es nicht jedem Leser so. Eine spontane Ablehnung wäre nur dann Schade, wenn sie am Weiterlesen hindern würde, und selbst das müsste ich in Kauf nehmen und tue es auch. Aber bei so einem Thema kann man es nicht jedem Recht machen, sondern muss es in erster Linie sich selbst recht machen. Und dem war so, nachdem ich die Kürzungen vorgenommen hatte. Aber natürlich hatte ich die Hoffnung, dass es beim Leser etwas in Gang setzt und er für sich etwas aus diesem Text herausziehen kann und die Beschäftigung damit nicht unbedingt erfreulich, aber doch interessant und anregend ist. Teilweise ist das wohl gelungen und darüber freue mich natürlich sehr.

Ich danke dir sehr, dass du dich hier auch zu Wort gemeldet hast.



Hallo african queen,

auch dir vielen Dank!

Es ehrt mich natürlich, wenn du den Text als kleines Meisterwerk bezeichnest. Und wenn es trotz der Schwere des Themas für dich keine „schwere“ Lektüre war, dann freut mich das sehr!



Gruß

Sam

immekeppel

Beitragvon immekeppel » 13.05.2010, 10:35

lieber sam,

ich kommentier jetzt mal, ohne die anmerkungen der anderen ausführlich gelesen zu haben (nur überflogen - will erst mal unbeeinflusst bleiben), daher könnte es die ein oder andere überschneidung geben.

die letzten stunden im leben der großmutter scheinen anstoss zu weiteren überlegungen über das sterben im allgemeinen und im besonderen. dazu die frage des transzendenten - gibt es ein paradisisches jenseits oder gibt es das nicht. da ich - bis auf einige ausnahmen in großer furcht - der meinung bin, es gibt kein jenseits, bilde ich mir ein, dies auch in deinem text herauszulesen (und sagt nicht auch jesus im neuen testament, die toten seien ohne bewusstsein bis zu ihrer wiedererweckung?)

vielleicht gibt es ja in unser beider leben auch parallelen hinsichtlich der konfrontation mit sterben und tod, weshalb ich diesen text auch nicht mit der eventuell notwendigen distanz lesen konnte, so dass ich an vielen stellen zustimmend mit dem kopf genickt habe, wobei mir dann auch noch auffiel, dass ich gestern abend einen alten blogeintrag von mir hier eingestellt habe, der den zentralen gedanken "was heißt ewiges leben" behandelt , wenn auch in anderer form..

in einem der anderen kommentare fiel der begriff des freien assoziierens, den dieser text für den/diejenige/n nur schwerlich zulasse - das kann ich für mich nicht behaupten, ich glaube, es liegt vielleicht doch daran, in wie weit sich die erfahrungshorizonte der rezeptionisten überlappen. für mich jedenfalls war es wohltuend, meine eigenen gedanken und einstellungen zu diesem thema hier wiederzufinden (oder selbstironisch frei nach mark twain: wir lieben die menschen, die frei heraussagen, was sie denken, sofern sie dasselbe denken wie wir - doch das führt zu einem weiteren christlichen gedanken, dem der feindesliebe....)

schöne himmelfahrt wünscht
marion

Sam

Beitragvon Sam » 13.05.2010, 11:00

Hallo Sethe,

auch über deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Vielen Dank!

Gefreut auch deswegen, weil du eine etwas andere Meinung zu dem Text hast. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Lesevorlieben sind.

Du schreibst:
Die Beschreibung von Toten und die Zuweisung von Eigenschaften und Verhaltensweisen von lebenden Menschen stört mich.


Nun, mich eigentlich auch. Ich glaube auch, dass man das beim Einstieg schon merkt. Deswegen ja der Gegensatz zwischen dem vermeintlichen „nach Innen lächeln“, das man beim toten Dichter zu sehen geglaubt hatte, und der Beschreibung des Totengesichtes der Großmutter und auch des gestorbenen Kindes.
Wobei mich weniger die Zuweisung solcher Eigenschaften an sich stört. Man macht das ja oftmals unbewusst in der Alltagssprache. Die Aussage, ein Toter ruhe in Frieden z.B. ist ja eigentlich genauso widersinnig. Es ist eine Metapher, mehr nicht. Es ist mehr der Gedanke der dahinter steht. Das unterschwellige Voraussetzen (das ja nicht mehr ist als eine Hoffnung), dass es eben doch noch irgendwie weiterginge. Das läuft dann auf die von dir erwähnte Nichtakzeptanz des Todes hinaus. Wobei es da wieder zweierlei Arten von nicht akzeptieren gibt. Einmal es nicht wahrhaben zu wollen, nach dem Motto: Das kann so nicht sein. Oder aber ein nicht akzeptieren auf gedanklicher Basis. Eine Abwehr, von der man zwar weiß, dass sie völlig hoffnungs- und sinnlos ist, von der man aber nicht lässt, weil man sich damit einfach nicht abfinden will oder kann. Eine intellektuelle Bewegung, die auch in diesem Text zum Ausdruck kommen soll.


Die Akzeptanz des Todes macht keine Mörder, eher das Gegenteil. Wenn ich den Tod nicht akzeptiere, habe ich keine Achtung vor dem Leben, und mangelnde Achtung des Lebens ist eine geringere Hemmschwelle um zum Mörder zu werden.


Klara hat ja schon ähnlich formuliert. Womöglich habt ihr Recht. Ich habe die Argumentation umgedreht. Ich sprach vom Wissen um den Tod, der ja zum mindest beinhaltet, dass man ihn als Gegebenheit akzeptiert. Es ist doch erstaunlich, dass der Mensch, obwohl er um die Irreversibilität des Todes weiß, dennoch in der Lage ist zu töten. Das müsste doch jeden davor zurückschrecken lassen. Dem ist aber nicht so. Aber natürlich hat das mit mangelnder Achtung vor dem Leben zu tun. Der Gleichsetzung von Tod nicht akzeptieren = keine Achtung vor dem Leben haben, würde ich aber widersprechen.


Zu der Stelle mit dem Weltuntergang (sprachlich finde ich diesen Absatz auch den gelungensten):
Eine Welt geht ja insofern unter, als dass die Welt ja von jedem auf eine einzigartige Weise wahrgenommen wird. Natürlich werden andere Nachgeboren, deren Blick wird aber nicht genau derselbe sein, sonder wieder auf ihre ganz spezielle Weise einzigartig.
Im Übrigen widerspreche ich mir nicht in dem Borgesabsatz, sondern Borges widerspricht dem. Er hatte diese Vorstellung. Ich habe sie nur angeführt, um eine andere Denkweise aufzuzeigen. Dass ich persönlich anderer Meinung bin, bzw. diese Art von Unsterblichkeit für keinen Trost halte, zeigt glaube ich das Ende dieses Abschnittes. Von daher stimme ich dir in deiner Verteidigung der Einzgartigkeit des Menschen und der Unwiederholbarkeit seiner Individualität voll und ganz zu.

Du siehst, in den einen oder anderen Punkten sind wir auf einem Nenner. Bei vielen womöglich nicht, aber das ist ganz normal und gut so. Es geht bei diesem Text ja nicht darum, jemanden zu überzeugen oder eine einzig wahre Sicht der Dinge zu postulieren. Bei allen Ausrufezeichen, die der Text enthält, ist doch nur ein einziges Fragezeichen.


Gruß

Sam

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 13.05.2010, 13:13

.
Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:43, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 14.05.2010, 08:33

Hallo Marion,

vielen Dank für deinen Kommentar!

Du liest schon richtig, wenn denkst, ich würde nicht an ein Jenseits glauben. (Und ja, meiner bescheidenen Bibelkenntnis zufolge, sprach Jesus viel eher von einer Auferstehung, als einem Weiterleben nach dem Tod).

Deinen Blog bezüglich des ewigen Lebens habe ich gelesen und werde, sobald ich Zeit dazu habe, dort auch noch etwas dazu sagen.

Die Unterschiedlichkeit der Kommentare hier zeigt, dass die Rezeption sehr verschieden ausfällt und der persönliche Erfahrungshintergrund spielt dabei wahrscheinlich ebenso eine Rolle, wie die individuellen Lesevorlieben.

Es freut mich jedenfalls, dass dir der Text gefällt und hier zumindest teilweise eine Übereinstimmung von Autor und Leserin vorhanden ist.



Hallo Rosebud,

auch dir herzlichen Dank!

Ich dachte auch lange, dass die Essayform eine aussterbende Literaturgattung ist. Aber seitdem ich die Literaturzeitschrift "Sinn & Form", herausgegeben von der Akademie der Künste in Berlin, für mich entdeckt habe, stoße ich immer wieder auf neue hervorragende Essays. Zudem gibt es ja den Literaturkanon von M.R.R., der auch eine fünfbändige Ausgabe von Essays beinhaltet. Angefangen von Luther (genial!) bis hin zu Peter Rühmkorf. Für einen Essayliebhaber wie mich, ist das eine wahre Fundgrube.

Deine positive Einschätzung des Textes freut mich sehr. Nochmals Danke dafür!


Gruß

Sam

TJTJ

Beitragvon TJTJ » 18.06.2010, 18:52

Hallo Sam,

ich bin noch recht neu hier und muß mich erst einlesen, das ist viel Lesestoff, deshalb neige ich dazu, Beiträge nur anzulesen, ich hätte Deinen Beitrag fast weggeklickt, dann wurde er interessant.

Sehr schön beschrieben, auch wenn das Thema eher traurig ist.

Die Tempi sind bewußt gewählt?

Torsten


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