Café zur unerfüllten Erwartung

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 08.08.2010, 17:47

Café zur unerfüllten Erwartung

Beim Äußerln mit meinem Rauhaardackel Hiasl kehre ich nachts gern im Café Sport ein. Neben dem Eingang steht die Jukebox. Aus ihr erklingt „Milord“. Die Piaf, der Brel oder griechische Musik im steten Wechsel, man meint, vor der Tür ist der Pigalle oder das Meer, dabei ist es nur die Schönlaterngasse.

Die Frau Sport, wie wir die Koberin nennen, keiner weiß, wie sie in echt heißt, thront gegenüber mit ihrem mächtigen Allerwertesten auf einem Podest hinter der Kassa und wirft düstere Blicke durch ihre Lokalität, damit sich keiner aufführt. Steffi, die Kellnerin, die höchstens ein Viertel vom Volumen ihrer Chefin hat, lehnt neben ihr und süffelt ihr Achterl Weißwein, ohne das sie das Beisl kaum ertragen kann, vermute ich.
Ich bestelle wie immer einen kleinen Braunen und winke Xenos zu, der schon zum Inventar gehört, seit er vor vielen Jahren von Kreta nach Wien ausgewandert ist. Den Hiasl binde ich an ein Bein des Billardtisches, den seit Jahren keiner mehr nutzt. Naja, ganz stimmt das nicht. Der Hermann Schürrer speibt ab und zu drauf, wenn er zu viel gesoffen hat. Manchmal auch, wenn er stocknüchtern ist und todunglücklich, weil keiner seine Literatur versteht. „Ihr Banausen“, schreit er dann verzweifelt und fährt sich durchs wild abstehende Haar, „ich erbreche mich auf euch, ihr ahnungslosen Pervertierten der Gesellschaft!“ Und dann speibt er auf den Billardtisch.
Der Joe Berger, seines Zeichens ebenfalls Literat, spielt gern mit Freunden Free-Schach auf dem zerschlissenen grünen Filz. Das geht so: Einer sagt, er ziehe mit dem Bauern zur Königin, um sie zu vögeln. Der Gegner sagt, er würde dann mit dem Ross den Bauern niedertreten, u.s.w. Sie spielen ohne Schachfiguren, deswegen heißt es ja Free-Schach.
Steffi bringt mir den kleinen Braunen – der ist nur hier so gut.
Schon wieder „Milord“.
Die Malerrunde der Wiener Surrealisten trudelt gerade ein, sie hat einen Tisch dauerreserviert. Steffi löst sich von ihrem Veltliner, zählt die Künstlerköpfe und öffnet Bierflaschen für sie. „Eines Tages werden sie schon bezahlen“, sagt sie, weil die Frau Sport einen schiefen Mund macht.

Normal verkehren hier keine Fremden. Der eine scheint sich aber wohlzufühlen, er hat den Arm auf die Jukebox drapiert und schlägt mit der Spitze seines Westernstiefels den Takt. Dazu grinst er jeden an, der ihn mustert. Wieder wirft er Geld in den Schlitz.
Zum dritten Mal „Milord“. Jetzt reißt Xenos die Geduld. Er wirft das lange Grauhaar in den Nacken, stürzt sich auf den Eindringling und schlägt ihm die Schillinge aus der Hand. Frau Sport schickt Steffi los, aber der alte Grieche fegt sie beiseite, ehe er den Unbekannten eigenhändig aus dem Café wirft. Dann drückt er B 2, Theodorakis’ Sirtaki. Die Platte kratzt und krächzt, weil sie so oft abgespielt wird.
Schürrer hat sich auf dem Billardtisch zusammengerollt, er schläft. Nicht einmal der Prissnitz kann ihn wecken, dabei will der Poet ihm doch nur sagen, eher ins Ohr brüllen, dass ein Text von ihm abgedruckt wird.
Der Joe Berger versucht, seinen beginnenden Lungenkrebs wegzurauchen, heute hat er keinen Spielpartner gefunden. Er hustet und deklamiert aus Hänsel und Gretel, weil er dabei ist, Grimms Märchen neu zu schreiben.
Am Tisch der Surrealisten hat eine der Malerfrauen ihren Pulli ausgezogen. Ihre Brüste sind gebräunt vom letzten Urlaub in Positano.
Xenos lacht, ihm fehlen die Schneidezähne oben, aber „Hopa“ kann er gut sagen.
Ich küsse ihn.

Mehr als vierzig Jahre später wummert Techno hinter der Tür zum einstigen Café Sport.
Der Hiasl ist seit lange tot, ebenso die Frau Sport und viele der damaligen Stammgäste. Manche sind verloren gegangen, andere einfach gestorben.
Mich gibt es noch, ich war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen.
Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse, weine und lache, weil es eh egal ist.

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edit: Ende abgeändert:
Und jetzt bin ich sechzig. Techno wummert hinter der Tür zum einstigen Café Sport. Der Hiasl ist seit Jahrzehnten tot, ebenso die Frau Sport und die meisten der damaligen Stammgäste. Ich selbst war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen. Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse, weine und lache, weil es eh egal ist.



1. Fassung
Beim Äußerln mit meinem Rauhaardackel Hiasl kehre ich nachts gern im Café Sport ein. Neben dem Eingang steht die Jukebox. Aus ihr erklingt „Milord“. Die Piaf, der Brel oder griechische Musik im steten Wechsel, man meint, vor der Tür ist der Pigalle oder das Meer, dabei ist es nur die Schönlaterngasse.

Die Frau Sport, wie wir die Koberin nennen, keiner weiß, wie sie in echt heißt, thront gegenüber mit ihrem mächtigen Allerwertesten auf einem Podest hinter der Kassa und wirft düstere Blicke durch ihre Lokalität, damit sich keiner aufführt. Steffi, die Kellnerin, die höchstens ein Viertel vom Volumen ihrer Chefin hat, lehnt neben ihr und süffelt ihr Achterl Weißwein, ohne das sie das Beisl kaum ertragen kann, vermute ich.
Ich bestelle wie immer einen kleinen Braunen. Den Hiasl binde ich an ein Bein des Billardtisches, den seit Jahren keiner mehr nutzt. Naja, ganz stimmt das nicht. Der Hermann Schürrer speibt ab und zu drauf, wenn er zu viel gesoffen hat. Manchmal auch, wenn er stocknüchtern ist und todunglücklich, weil keiner seine Literatur versteht. „Ihr Banausen“, schreit er dann verzweifelt und fährt sich durchs wild abstehende Haar, „ich erbreche mich auf euch, ihr ahnungslosen Pervertierten der Gesellschaft!“ Und dann speibt er auf den Billardtisch.
Der Joe Berger, seines Zeichens ebenfalls Literat, spielt gern mit Freunden Free-Schach auf dem zerschlissenen grünen Filz. Das geht so: Einer sagt, er ziehe mit dem Bauern zur Königin, um sie zu vögeln. Der Gegner sagt, er würde dann mit dem Ross den Bauern niedertreten, u.s.w. Sie spielen ohne Schachfiguren, deswegen heißt es ja Free-Schach.
Steffi bringt mir den kleinen Braunen – der ist nur hier so gut.
Schon wieder „Milord“.
Die Malerrunde der Wiener Surrealisten trudelt gerade ein, sie hat einen Tisch dauerreserviert.
Nach dem dritten Mal „Milord“ reißt Xenos die Geduld. Er wirft das lange Grauhaar in den Nacken, stürzt sich auf den Fremden und schlägt ihm die Schillinge aus der Hand. Frau Sport schickt Steffi los, aber der alte Grieche fegt sie beiseite, ehe er den uns unbekannten Gast eigenhändig aus dem Café wirft. Dann drückt er B 2, Theodorakis’ Sirtaki für Alexis Sorbas, den er nur komponiert hatte, weil Anthony Quinn einen möglichst simplen Tanz einstudieren wollte.
Schürrer hat sich auf dem Billardtisch zusammengerollt, er schläft.
Der Joe Berger versucht, seinen beginnenden Lungenkrebs wegzurauchen, heute hat er keinen Spielpartner gefunden. Er hustet und deklamiert aus Hänsel und Gretel, weil er dabei ist, Grimms Märchen neu zu schreiben.
Am Tisch der Surrealisten hat eine der Malerfrauen ihren Pulli ausgezogen. Ihre Brüste sind gebräunt vom letzten Urlaub in Positano.
Xenos lacht, ihm fehlen die Schneidezähne oben, aber „Hopa“ kann er gut sagen.
Ich küsse ihn.

Und jetzt bin ich sechzig. Techno wummert hinter der Tür zum einstigen Café Sport. Der Hiasl ist seit Jahrzehnten tot, ebenso die Frau Sport und die meisten der damaligen Stammgäste. Ich selbst war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen. Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse und weine.
Zuletzt geändert von Elsa am 12.10.2010, 20:39, insgesamt 2-mal geändert.
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.10.2010, 18:04

Hallo liebe SalonerInnen,

ich habe das Ende versuchsweise abgeändert:

Mehr als vierzig Jahre später wummert Techno hinter der Tür zum einstigen Café Sport.
Der Hiasl ist seit lange tot, ebenso die Frau Sport und viele der damaligen Stammgäste. Manche haben sich selbst entsorgt, andere hat Sucht oder Krankheit hinweg gerafft. Ich selbst war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen.
Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse, weine und lache, weil es eh egal ist.



Ist es vielleicht besser so? Für Feedback wäre ich sehr dankbar.

Liebe Grüße
ELsa
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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 11.10.2010, 21:12

Ist niemand einfach nur verschwunden, gestorben? Klingt einen Hauch zu dramatisch. Aber sonst prima! Obwohl, irgendwie klappt der Übergang zu "Ich selbst ..." noch nicht ganz.

Ich muss es noch mal im Ganzen lesen.

Grüße
Henkki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.10.2010, 21:31

Danke, lieber Henkki,

hm, ja wahrscheinlich.

Vielleicht dann lieber so:

Mehr als vierzig Jahre später wummert Techno hinter der Tür zum einstigen Café Sport.
Der Hiasl ist seit lange tot, ebenso die Frau Sport und viele der damaligen Stammgäste. Manche sind verloren gegangen, andere einfach gestorben.
Mich gibt es noch, ich war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen.
Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse, weine und lache, weil es eh egal ist.


Liebe Grüße
ELsa
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.10.2010, 21:44

Liebe Elsie,

der letzte Schluss in deinem vorherigen posting gefällt mir gut!
Nur hier ist es nicht ganz klar, auf wen sich die Erwartungen beziehen, also wer voller Erwartungen war:
Elsa hat geschrieben:Mich gibt es noch, ich war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen.

das LI oder die Künstler?

Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.10.2010, 23:32

Liebe Mucki,

fein!

Es soll sich um die Künstler handeln, deren Erwartungen nicht erfüllt worden waren, wie der Titel sagt.
Kommt das nicht raus?

Liebe Grüße
ELsie
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.10.2010, 23:37

Klar kommt das heraus, Elsie,

schon durch den Titel und auch durch den Inhalt.
Sorry, hatte wohl die Neben-der-Spur-Brille auf ,-) :hide:

Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.10.2010, 00:10

Ok, gut, das beruhigt mich.

Hihi, Neben-der-Spur-Brille ;-)

Liebe Grüße
ELsie
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Beitragvon eve » 12.10.2010, 20:15

ganz kleine kritik: meines erachtens müsste es heissen "der hiasl ist seit langem tot".

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.10.2010, 20:36

das stimmt, liebe Evi, danke!

Kommt vom Überarbeiten *schäm*

Liebe Grüße
ELsa
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 13.10.2010, 11:20

Hallo, Elsa, ich bin für den hier:
Mehr als vierzig Jahre später wummert Techno hinter der Tür zum einstigen Café Sport.
Der Hiasl ist seit lange tot, ebenso die Frau Sport und viele der damaligen Stammgäste. Manche haben sich selbst entsorgt, andere hat Sucht oder Krankheit hinweg gerafft. Ich selbst war zu der Zeit erst vierzehn, bei meinen ersten Schritten in die Wiener Szene der Künstler voller Erwartungen.
Langsam spaziere ich weiter durch die Schönlaterngasse, weine und lache, weil es eh egal ist.

Das Dramatische stört mich nicht, der ganze Text ist ja zuspitzend.
"Seit langem" ist korrektes Hochdeutsch, "seit lange" hat Dialektfärbung, die mir gefällt.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 13.10.2010, 11:39

*lach* Lieber Quoth,

Nö, das ist kein Dialekt, das ist nur schei ... ;-)

Liebe Grüße
ELsa

edit: "schon lange" das geht.
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Gerda

Beitragvon Gerda » 20.11.2010, 14:01

Liebe Elsa,

ich habe deine Geschichte nicht mit "Kritikeraugen" gelesen und möchte dir dazu nur sagen, sehr, sehr authentisch und gut!
Eine kleine alltägliche Geschichte aus der Vergangenheit geholt und/oder aus der Gegenwart in die Vergangenheit geschrieben.
Schön, das Lob von Menasse und gerechtfertigt. :daumen:

Liebe Grüße
Gerda

PS eins fiel mir doch auf ... ;-) heißt das auf wieanersich : speibt? (Es ist doch spucken oder speien gemeint, nicht wahr).

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.11.2010, 18:19

Liebe Gerda,

Hui, vielen Dank! Ein solches Lob von dir, da strahl ich!

Ja, es heißt speiben, speibt, spieb, gespieben :-)

Liebe Grüße dir,
ELsa
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