In einem Zug

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 09.11.2010, 11:59

Guten Tag.
Bitte verzeihen Sie, ist hier noch Platz im Abteil? Vielen Dank.
Augenblick, sagen Sie mal, sind Sie nicht, du bist doch... Nein, sag - bist du es wirklich?
Das kann doch nicht sein?
Oh, bitte verzeihen Sie. Wie dumm von mir. Sie können es ja gar nicht sein. Sie leben ja gar nicht mehr.
Also, nicht Sie natürlich. Sie leben ja. Darum können Sie es ja auch nicht sein.
Sie gestatten, dass ich mich setze?
Wirklich erstaunlich, ich dachte einen Moment, dass Sie es sind. Aber wie gesagt - dann wären Sie tot und könnten hier wohl nicht herum sitzen, nicht wahr? Haha.
Verwirrend.
Bitte verzeihen Sie, es bringt mich ganz durcheinander, dass Sie es nicht sind. Sie sehen sich schon erstaunlich ähnlich.
Wenn Sie es wären, wäre es aber natürlich auch nicht besser. Haha.
Sagen Sie, Sie könnten nicht zufällig...? Es wäre mir eine große Hilfe in dieser Verunsicherung.
Dürfte ich Sie vielleicht auch...?
Es würde mir helfen, meine Gedanken zu ordnen, wissen Sie?
Aber was rede ich da. Bitte verzeihen Sie. Wie komme ich dazu, nur um meiner inneren Ordnung halber, von Ihnen zu verlangen, zu...
Ja nun, ich müsste Sie dann nicht dauernd auseinander halten. Sie müssen schon verzeihen...
Ach bitte, so behalte doch Platz. Und reg dich nicht so auf. Muss doch alles nicht wieder sein...
Da haben wir es. Viel besser. War doch ganz leicht, oder?
Aber mit wem rede ich da. Bitte verzeihen Sie. Was erzähle ich Ihnen das alles.
Sie leben ja gar nicht mehr.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 10.11.2010, 12:07, insgesamt 1-mal geändert.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.11.2010, 08:53

Hallo, Mnemosyne,
ein etwas makaberer Text, den ich zunächst nicht verstand, weil ich von Rede und Gegenrede ausgegangen war und die einzelnen Dialogbeiträge nicht zuordnen konnte.
Aber jetzt hab ich kapiert: Hier redet immer derselbe, und das hat ja auch seinen makabren Grund: Der Angesprochene ist womöglich mausetot - muss aber doch noch lebendig genug auf den Sprecher wirken, dass er ihn anredet.
Worum bittet der Sprecher den Mitreisenden an den Stellen, wo Du die drei Pünktchen gesetzt hast? Um seinen Namen?
Zum Schluss scheint er vorübergehend zu dem Ergebnis gekommen zu sein, den Toten wirklich und gleichsam wieder lebend vor sich zu haben. Er muss zu ihm eine nahe Beziehung gehabt haben, denn er duzt ihn nun wieder (wie schon einmal zu Beginn) - aber aus dieser Illusion fällt er dann wieder heraus.
Bei "Sie sehen sich schon erstaunlich ähnlich" würde ich das reziproke "einander" statt des reflexiven "sich" bevorzugen.
Eine merkwürdige kleine Uhrmacherarbeit!
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.11.2010, 09:31

Hallo Merlin,

dass es sich hier um einen Monolog handelt, ist klar. Aber ich knabbere an dieser Passage:
Mnemosyne hat geschrieben:Ach bitte, so behalte doch Platz. Und reg dich nicht so auf. Muss doch alles nicht wieder sein...
Da haben wir es. Viel besser. War doch ganz leicht, oder?

Das erscheint mir derart schizophren und schizoid in einem, dass ich nicht weiß, wie ich das einordnen soll. Vielleicht gar nicht, sondern doch verbinden. Eine gespaltene Persönlichkeit mit Wahnvorstellungen.
Ein bizarres und morbides Stück hast du da geschrieben. Könnte ich mir gut als Theaterstück vorstellen.
Apropos Theaterstück: verschieben in die Rubrik "Blaues Theater"?

Saludos
Gabriella

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 10.11.2010, 09:56

Hallo,

ich würde es nicht in Theater verschieben. Klar, es kann als kleiner Monolog gehen, ist aber nicht so angelegt.

Der Text lässt, bewusst denke ich, offen, ob der Sprecher mit einem Toten, einer eingebildeten Person oder einem Wildfremden spricht. Gut so. Auch ich hake an der Stelle, an der plötzlich die angesprochene Person wechselt. Voraussetzend, dass es sich nicht um ein Versehen handelt, sehe ich hier das Ich sich selbst adressieren.

Gruß
Henkki

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.11.2010, 10:14

Hallo ihr Lieben,
und erst einmal danke für eure Kommentare, auf die ich später noch im einzelnen eingehen werde.
Der Text ist, wie ihr richtig bemerkt, bewusst recht offen gehalten.
Für meine Vorstellung geschieht folgendes: Der Sprecher setzt sich im Zug in ein Abteil zu einer anderen Person. Diese andere Person sieht jemand ähnlich, den der Sprecher einmal gekannt hat, der aber inzwischen verstorben ist.
Nun gelingt es ihm aber nicht recht, diese Gedanken zu ordnen, er pendelt ständig zwischen Trennung und Verwechselung hin und her. Daher ist mir der Satz "Sie sehen sich wirklich erstaunlich ähnlich." auch wichtig, hier vollzieht sich so ein Umschlag gewissermaßen auf engstem Raum.
Seine Lösung für dieses Dilemma: Sein Gegenüber könnte sterben. Er setzt erst zu der Frage an, ob es ihm diesen Gefallen tun könnte "Sagen Sie, Sie könnten nicht zufällig...? Es wäre mir eine große Hilfe in dieser Verunsicherung.", bricht aber ab, weil ihm das unhöflich erscheint, bietet dann seine Hilfe an:
"Dürfte ich Sie vielleicht auch...?"
Wobei das "auch" klar macht, wie die andere Person gestorben ist.
Der Angesprochene regt sich darüber natürlich auf, das wiederum macht die Erinnerung an die Tötung der ersten so lebendig, dass der Sprecher ins Duzen - und Töten - verfällt, so dass am Ende das Gegenüber getötet und der Seelenfrieden des Sprechers wieder hergestellt ist.
Irgendeine Chance, diese Lesart aus dem Text zu erhalten?
Auf Ellie wirkte der Text um einiges luzider, nachdem ich ihn entsprechend vorlas. Vielleicht etwas für die Hörbar?
Liebe Grüße
Merlin
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 10.11.2010, 12:07, insgesamt 1-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.11.2010, 10:20

Kurios. Als ich den Text das erste Mal las (damals stand er noch unkommentiert hier), habe ich angenommen, der Sprecher hat einen Geliebten oder eine Geliebte verloren und bittet das unbekannte Gegenüber, sich umarmen und/ oder küssen zu lassen.
Das "Sie leben ja gar nicht mehr" am Ende habe ich so gedeutet, dass er, obwohl das Gegenüber die Umarmung zugelassen hat, wieder in das Durcheinander des Anfangs - wo dieser Satz schon einmal gesagt wurde - zurückgefallen ist.
Ja, auf eine gesprochene Version wäre ich gespannt.

Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.11.2010, 10:25

Au Mann, Merlin,

das ist ja noch viel verrückter, als ich dachte! *lach*
Aber was du schreibst, ist natürlich absolut so lesbar, klar!
Hey, sowas Skurriles kann aber auch nur dir einfallen. :mrgreen:
Ja, bitte unbedingt lesen! Darauf freu ich mich schon!

Saludos
Gabriella

Nicole

Beitragvon Nicole » 10.11.2010, 10:26

Hi Merlin,

gefällt mir sehr. Ich mag das makabere. Deiner Lesart kann ich folgend, würde dann aber die Frage an den (Noch) Lebenden "Sagen Sie, Sie könnten nicht zufällig...?" (ich nehme an, ... steht dann für sterben) streichen. Sicherlich ist die erinnerte Person auch nicht "von selbst" gestorben, diese Frage würde also aus dem Schema des Verwechselns meiner Ansicht nach rausfallen.
Und, vielleicht würde das wiederholen einer Tat deutlicher werden, wenn Du an einer Stelle die Art der Tötung andeutest. Vielleicht in Richtung "Verzeihen Sie, gestatten Sie das, ich Ihnen die Hände um den Hals lege " oder "schauen Sie mal, es ist doch ganz einfach, einfach hier, zwischen den Rippen hindurch..."
Dann ist es vielleicht etwas weniger "offen", aber auch ein wenig klarer.

Gruß,Nicole

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leonie
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Beitragvon leonie » 10.11.2010, 10:44

Lieber Merlin,

am Anfang habe ich es genau so verstanden, wie Du es gedacht hast, aber im Schluss kam ich nicht mehr mit. Vielleicht wäre ein kleiner zusätzlicher Hinweis wie Nicole vorschlägt, hilfreich.
Was mich fasziniert, ist, dass die Verwirrung des Protagonisten sich im Leseverlauf im Leser (zumindest in mir) widerspiegelt, ich war da so richtig mit "drin". Witzig gemacht!

Habe ich gern gelesen.

Liebe Grüße

leonie

Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.11.2010, 10:52

Hallo, Mnemosyne,
eine Tötung des Mitreisenden habe ich in der Tat nicht herausgelesen.
Wenn der Angesprochene am Anfang existiert und lebt, ergibt sich für mich ein Strukturproblem: Ich möchte dann dessen Dialogbeiträge lesen/hören/kennenlernen. Nur dann wird ihr Ausbleiben am Schluss signifikant.
Spätestens vor "Oh, bitte verzeihen Sie!", müsste der noch lebende Mitreisende sich vorgestellt haben - nicht nur dem Zugestiegenen, sondern auch mir als Leser. Ansonsten ist das Verschweigen künstlich und erinnert an ein "halb" mitgehörtes Telefonat, das es hier aber nicht ist.
Trotz der Verwirrung fände ich in dem betreffenden Satz das "einander" besser als das "sich". Durch die Tötung will er aus dem einander eben ein sich machen ...
Verschreiber: Nur um meiner inneren Ordnung halber
Gruß
Quoth
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.11.2010, 12:15

Hallo Quoth,
dieses "Strukturproblem" ist beabsichtigt. Die "Kamera" ist in diesem Text sehr nah am bzw. im gestörten Sprecher, der sich eben dadurch auszeichnet, das Gegenüber als solches völlig zu übersehen und praktisch nur als Projektionsfläche zu nutzen. Ich denke nicht, dass dieser Mensch irgend etwas von dem, was das Gegenüber sagt, hören oder verstehen würde. Seine Perspektive ist selektiv, verengt, nahezu autistisch, das einzige, was zu ihm durchdringt, nämlich die körperliche Reaktion zum Schluss hin, passt in seine Sicht und ist in seiner Rede mit dargestellt.
Was die Tötung angeht, möchte ich nicht zu direkt werden, aber eine Ergänzung wie von Nicole vorgeschlagen überlege ich mir mal.
Viele Grüße
Merlin

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 10.11.2010, 12:24

Hallo Merlin,

ich habe den Text genauso gelesen, wie du es in deinem ersten Beitrag ausgeführt hast. Nur hier

Sagen Sie, Sie könnten nicht zufällig...? Es wäre mir eine große Hilfe in dieser Verunsicherung.
Dürfte ich Sie vielleicht auch...?
Es würde mir helfen, meine Gedanken zu ordnen, wissen Sie?
Aber was rede ich da. Bitte verzeihen Sie. Wie komme ich dazu, nur um meiner inneren Ordnung halber, von Ihnen zu verlangen, zu...


hat sich deine Absicht eher rückwirkend erkenntlich gemacht; Zum Zeitpunkt des Erst-Lesens hätte für mich auch noch aufstehen, weggehen etc gemeint sein können (und nach dem "auch...?" könnte bitten folgen) Aber von hinten gesehen ist alles klar.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.11.2010, 12:32

ferdi hat geschrieben:Aber von hinten gesehen ist alles klar.

:totlach:

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 10.11.2010, 12:39

Mnemosyne hat geschrieben:Hallo Quoth,
dieses "Strukturproblem" ist beabsichtigt. Die "Kamera" ist in diesem Text sehr nah am bzw. im gestörten Sprecher, der sich eben dadurch auszeichnet, das Gegenüber als solches völlig zu übersehen und praktisch nur als Projektionsfläche zu nutzen. Ich denke nicht, dass dieser Mensch irgend etwas von dem, was das Gegenüber sagt, hören oder verstehen würde. Seine Perspektive ist selektiv, verengt, nahezu autistisch, das einzige, was zu ihm durchdringt, nämlich die körperliche Reaktion zum Schluss hin, passt in seine Sicht und ist in seiner Rede mit dargestellt.
Was die Tötung angeht, möchte ich nicht zu direkt werden, aber eine Ergänzung wie von Nicole vorgeschlagen überlege ich mir mal.
Viele Grüße
Merlin



m.E. muss tötung als angetragener "wunsch" des sprechers gar nicht mehr thema sein, um deutlich zu machen, was du ohnehin eindringlich genug zeichnest in deinem text, merlin.

er funktionierte für mich - in all seiner offenheit (auch mit raum für eigene verwirrung und spekulation) - sehr authentisch und ohne das tötungsthema. ich habe es nicht herausgelesen. und finde auch nicht, dass es fehlt, wenn es da nicht steht.

dass die person als gegenüber nicht "existiert" als wahrgenommenes individuum, wird ohnehin trefflich dargestellt. dass die "auflösung" erwartet wird, ist auch spürbar, ohne, dass es dabei um physisches auflösen gehen muss, die durch einen tötungs-wunsch deklariert werden müsste.

besonders bemerkenswert fand ich übrigens noch den titel - in der mehrfachen übereinstimmung mit inhalt UND form. der text bzw. redefluss des sprechers zieht sein ding auch in einem zug durch. ungebremst. gehetzt. so, wie die person des sprechers immer über ihre mitmenschen hinwegzieht bzw. -geht: ohne innezuhalten (und ev. mal hinzusehen...). das gefällt mir sehr, dieses zusammenspiel, wenn der inhalt formal derart getragen und gestützt wird.

dadurch war die botschaft für mich schon mittendrin klar.
von hinten sah ich sie dann nur noch bestätigt. ;-)


gern gelesen!


lieber gruß,

keinsilbig


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