Die Aufklärung

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 26.12.2010, 18:26

Die Aufklärung

Zu uns ist der Weihnachtsmann nie gekommen. Als Kind dachte ich, es läge daran, dass wir am Ende einer langen Straße wohnten und ihm, bevor er unser Haus erreichte, immer die Geschenke ausgingen. Irgendwann erfuhr ich dann die Wahrheit. Es gab einen Biergarten in unserer Straße, wo jeden Winter ein Wasserpfeifenzelt aufgestellt wurde. Genau da traf ich den Weihnachtsmann eines Heiligabends. Er hatte sich gerade allerbestes türkisches Hasch auf den Tabakkopf gelegt, das Kohlestück entzündet und ließ es nun gurgeln und blubbern. Als er mich sah, lächelte er freundlich und lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen. Er hielt mir den Schlauch hin und ich zog daran.
„So mein Junge“, sagte er, „von nun an krümmt der Wurm sich für dich anders.“
Wir blieben die ganze Nacht dort im Zelt, rauchten und erzählten uns Schwulenwitze.
Beruhigt ging ich am nächsten Morgen nach Hause. Hatte ich doch all die Jahre immer die Befürchtung gehabt, dass es ihn gar nicht gibt, den Weihnachtsmann.
Zuletzt geändert von Sam am 27.12.2010, 09:15, insgesamt 1-mal geändert.

Klara
Beiträge: 4510
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 26.12.2010, 21:02

Hallo Sam,
das klingt...
... furchtbar erwachsen ;)

Den Text lese ich, insbesondere im Hinblick auf den Artikel im Titel und den Titel insgesamt, als hinterfotzig.
Gelungener Text, klar. Aber ausnahmsweise mag ich hier die (Selbst)Ironie nicht besonders.
Als wäre da jemand nicht sehr gern Kind gewesen.
Und erleichtert, dass er nun, mit Hilfe von Drogen, endlich "erwachsen" ist und sich auf erwachsene Art etwas vormachen kann - quasi, nunja, selbstbestimmt, und nicht mehr von "den Erwachsenen" oktroyiert.

Was kommt mir nur so falsch daran vor? Ich komm nicht drauf.
Ich weiß, dass du es nicht goutierst, wenn man fiktionale Texte als ehrlich oder unehrlich attributiert, obwohl ja klar sein müsste, was damit gemeint ist: eine gewisse Wahrhaftigkeit.
Im vorliegenden Text scheint mir genau das zu fehlen. Deshalb kann ich nicht (mit)schmunzeln.

Nichtsdestotrotz: gut geschrieben, hübsche Pointe, guter Text.
Aber wie manche Klamotten, die gute Qualität haben, gut geschnitten sind etc. - mir passen sie trotzdem nicht :)

herzlich
klara

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5657
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 26.12.2010, 22:15

Ich find's köstlich: Das Thema Weihnachtsmann ad absurdum geführt. Eigentlich geht er ja, wenn man erwachsen wird; dieser aber kommt genau dann erst zum Zuge!
Und er stiftet an zu "Taten", die sein traditioneller Kollege wohl nicht hätte gutheißen können (der zumindest früher mit seinem Knecht Ruprecht und einer langen Liste guter und böser Taten anrückte).

Und das alles so schön geschildert, so dass wir es fast selbst glauben: So muss der Weihnachtsmann sein!

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 27.12.2010, 00:55

Lieber Sam,

Bei deinen Texten frage ich mich immer, warum sie so gut funktionieren und glaube mir, ich suche nach den Schwachstellen.

"Zu uns kam der Weihnachtsmann nie" - dieser Satz beinhaltet schon sämtliche Charles Dickens Assoziationen (wenn man Dickens so liest, wie er im Fernsehen serviert wird) - Es klingt vielleicht sogar ein klein wenig Erleichterung durch: ein Ritual weniger, möglicherweise.

Dieser Satz ist der einzige, der etwas Realistisches aussagt. Die Vermutung, es liege an der Straßenlänge ist bereits - angenehm - unrealistisch. Den Weihnachtsmann zu treffen, wie er Haschich aus der Wasserpfeife raucht, wie er den Erzähler zum Mitrauchen auffordert, und wie er ihm diesen enigmatischen Satz über den Wurm erzählt, das sind glückliche Kompositionen aus Möglichem und Unmöglichem. Was soll der Weihnachtsmann mit türkischem Haschisch, mit einer Wasserpfeife, warum braucht es ein
lg
Renate

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 27.12.2010, 01:54

P.S.

Natürlich brauchte ich länger, was die Aufklärung betrifft. Und ich weiß nicht, ob meine Interpretationen, ermutungen nicht weiter gehen als deine Absicht ... aber ich sehe zumindest jetzt einen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Weihnachtsmann. Wenn also die --- sordide --- Aufklärung junger Leute darin besteht, ihnen zu erklären, wer der Weihnachtsmann ist, dann haben wir hier einen Weihnachtsmnn, der über seine Nichtigkeit / Süuchtigkeit aufklärt, auch über sich selbst. Es ist die Aufklärung, die sagt: seht her, ich bin der Weihnachtsmann. Glaubt an mich und rauchet das Opium der Aufklärung (da es für alle Anschauungen Gläubige gibt, so geht es hier auch mit dem Modus: glaubet an mich .....9

Das fiel mir noch ein ...

lG
Renée

Sam

Beitragvon Sam » 27.12.2010, 09:14

Hallo Klara,

wenn der Text erwachsen klingt...dann finde ich es eigentlich gut.

Das Wort "hinterfotzig" ist insofern witzig, als dass ich den Text geschrieben habe, während ich in München wohnte. Und tatsächlich gab es dort jenen Biergarten mit dem winterlichen Wasserpfeifenzelt (nur ohne türkisches Hasch und natürlich ohne Weihnachtsmann).

Was du als falsch empfindest, gründet sich vielleicht in deiner Vermutung, der Erzähler wäre nicht gerne Kind gewesen. Womöglich ist es eine Art Reflex zu denken, wenn jemand in Verbindung mit Weihnachten keine Geborgenheitserinnerungen hat, mit Geschenken und Keksduft im ganzen Haus, dann war es irgendwie eine traurige Kindheit. Dieser Reflex, wenn vorhanden, gründet sich in der Emotionalität, die mit dem ganzen Weihnachtsgeschehen einhergeht. Wer nicht beschenkt (oder wenigstens liebevoll bekocht etc.) wird, der fühlt sich ungeliebt und einsam.
Hier nun einen Ezähler zu finden, der schon als Kind eine rationale Erklärung für das Ausbleiben des Weihnachtsmannes findet, erscheint natürlich als falsch. Wo sind da die Emotionen?
Deswegen kommt er dann auch "Unwahrhaftig" vor, weil man automatisch davon ausgeht, dass die Emotionen bewusst außen vor gehalten wurden, verdrängt oder mit der grotesken Figur des kiffenden Weihnachtsmannes überpinselt.

Wie gesagt, das ist nur eine Vermutung. Die wohl daher kommt, dass ich den Text unter anderem deswegen so geschrieben habe.

Ich dank dir herzlich für deine Meinung!



Hallo Amanita,

auch dir vielen Dank! Freut mich sehr, wenn dir der Text gefallen hat.



Hallo Renée,

herzlichen Dank, dass auch du dich dieses kleinen Textleins angenommen hast.
Deiner Feststellung, der erste Satz sei der einzig "realistische" kann ich nur zustimmen. Welche Assoziationen er auslöst, kann ich schwer beurteilen. Aber ich dachte er mir, er weckt Erwartungen, die der nachfolgende Text keinesfalls erfüllt. Und darauf kam es mir an.

Der Titel Aufklärung ist natürlich doppeldeutig. Ebenso aber auch das Haschrauchen. Wenn Marx sagte: "Religion ist Opium für das Volk", dann sagt der Weihnachtsmann hier vielleicht: "Die Aufklärung ist auch nur Haschisch".
Von daher gesehen ist deine Interpretation von meiner Warte aus schon stimmig.

Ein anderer Interpretationsansatz wäre dieser:
In einer aufgeklärten Gesellschaft hat der Weihnachtsmann eigentlich keinen Platz. Er kann nur in ironisierter Form weiterbestehen. Die trivialste Form der Ironisierung ist der Kitsch (oder vielleicht sogar die extremste). Eine andere wäre ihn als Dealer zu sehen, der alljährlich dem aufgeklärten Volk seinen Rausch beschert, damit dieses sich für ein paar Tage von seiner metaphysischen Entkernung erholen kann.



Euch allen nochmals Danke!

Gruß

Sam

PS: Ich füge jetzt noch ein fehlendes "es" in den Text ein.

Sam

Beitragvon Sam » 27.12.2010, 09:33

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich den Text eigentlich als Antwort (Ergänzung, Gegenstimme, Zweitstimme etc.) zu Quoth Weihnachtsangst eingestellt habe. Wie schon gesagt, der Text ist schon einige Jährchen alt, aber irgendwie erschien er mir "passend" zu der Diskussion in Verbindung mit besagten Text.

Gruß

Sam

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5657
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 27.12.2010, 09:43

Genau so hatte ich das empfunden: als kommunizierend mit Quoths Text.

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 27.12.2010, 10:15

Lieber Sam,
mich stören die Schwulenwitze in Deinem Text. Hat der aufgeklärt-aufklärende Weihnachtsmann wirklich nichts Besseres anzubieten?
Du sagst: "In einer aufgeklärten Gesellschaft hat der Weihnachtsmann eigentlich keinen Platz." Das klingt so, als ob Du davon ausgingest, auch viele Erwachsene würden an ihn "glauben". Dabei ist er doch der letzte übrig Gebliebene eines Trios, zu dem auch der Osterhase und der Klapperstorch gehörten - possierliche Erfindungen für Kinder - es ist so amüsant zu sehen, wie die blind vertrauenden Kleinen an diese Fiktionen "glauben". Und diese haben durchaus auch einen pädagogischen Wert - auch ohne weihnachtliche Rutenschläge. Wenn die Gutgläubigen mit sechs oder sieben herausfinden, dass ihnen Märchen erzählt wurden, lernen sie, dass man sich nicht auf alles, was Erwachsene sagen, verlassen darf - eine der nützlichsten Lehren, die man ihnen erteilen kann - während Dein Weihnachtsmann als Aufklärer ja geradezu zu beglaubigen scheint, dass es ihn doch gibt - wenn auch nicht als Geschenkeonkel, sondern als kiffenden Zyniker.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5657
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 27.12.2010, 11:01

Quoth, was soll dieser Weihnachtsmann denn Besseres "zu bieten" haben? Der hat nur sein skurriles Selbst zu bieten, das alles aushebelt, was wir von Weihnachten zu kennen meinen (und an Weihnachten lieben - wenn wir es lieben). Das muss doch dann so un-weihnachtlich präsentiert werden wie es eben geht. Mit einem halben Weihnachtsmann wäre da nicht gedient, der käme nur schlapp und bemüht daher. Ich mag wirklich keine Schwulenwitze (sie bleiben uns ja auch erspart), aber als Kontrapunkt zum Weihnachtsfest finde ich das Bild, wie die beiden kiffen und sich diese Witze erzählen, absolut geeignet!

Sam

Beitragvon Sam » 27.12.2010, 11:10

Hallo Quoth,

für Schwulenwitze im Allgemeinen habe ich auch nicht viel übrig. Hier im Text aber finde ich sie durchaus angebracht. Und wenn du es so willst: Nein, der aufgeklärte Weihnachtsmann hat nicht mehr zu bieten, als Rausch und Ausgrenzung.

Natürlich glaubt kein Erwachsener an den Weihnachtsmann (der hier stellvertretend für alle seine Kumpels und das ganze "Eiapopeia" herhalten muss). Deswegen schrieb ich, dass er eigentlich keinen Platz mehr hat. Ob er nur der kleinen Kinder wegen noch "existiert", wage ich zu bezweifeln.

Du lenkst jetzt den Fokus ein wenig vom aufklärerischen Aspekt hin zum pädagogischen. Da ich keine Kinder habe, kann ich dazu nicht viel sagen. Aber irgendwo in mir schrillen ein paar Alarmklocken, wenn ich höre, dass man Kindern etwas vorgaukeln sollte, damit sie, wenn der ganze Schwindel auffliegt, die wertvolle Erfahrung machen können, dass den Erwachsenen nicht zu trauen ist.
Aber nichts liegt mir ferner, als eine pädagogische Debatte führen zu wollen.
Mir ging es mehr darum, augenzwinkernd ein wenig die Klingen zum Thema Aufklärung zu kreuzen.

Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 27.12.2010, 11:31

Hallo Amanita,

natürlich sind Kiffen und Schwulenwitze erzählen eine gute Möglichkeit, einen Anti-Weihnachtsmann zu zeichnen. Ginge es aber nur darum, wäre mir das zu platt. Da sollte schon ein wenig mehr dahinterstecken (was es, wie ich hoffe, auch tut). Gerade weil ja auch die Frage in der Schwebe bleibt, ob der hier gezeigte Weihnachtsmann nun für die Aufklärung steht, oder für das Gegenteil. Oder gar für beides?

Gruß

Sam

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5657
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 27.12.2010, 11:45

Lach, das war mir schon klar. Denn der Typ hat ja auch noch andere Seiten, für mich gehört er in die Kategorie "rau aber herzlich". Ich würde ihm allerdings nur indirekt pädagogisch-aufklärerische Fähigkeiten zutrauen (was ja nicht heißt, dass sie gar nicht hat). Für mich kommt eine durchaus "gemütliche" Atmosphäre rüber (nur anders, eben nicht "typisch" weihnachtlich). Das Bild des grummelnden Alten verbindet für mich Weihnachtsmann und (diesen) Nicht-Weihnachtsmann.

Nur das Gegenteil zu zeichnen, wäre mir in der Tat auch zu simpel.

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6767
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 27.12.2010, 13:51

Jeder Mann, der ein Fahrzeug hat und an Weihnachten etwas schenkt, ist ein Weihnachtsmann. Die Kinder haben recht, es gibt ihn. Warum verleugnen all die erwachsenen Männer sich selbst?

Und warum hat Alice Schwarzer eigentlich noch keine Weihnachtsfrauen gefordert?


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste