Wenn ich ...

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 03.04.2011, 23:01

Wenn ich ...


Wenn ich ein Roman wäre, kämen so viele verschiedene Leute mit schwer zu merkenden Namen in mir vor, dass niemand mich zu Ende läse. Selbst Leser, die eine Personenliste führen, kämen nicht mit mir zu Rand, weil meine Hauptfigur im ersten Drittel etwa Peinlich hieße, im zweiten Weinrich und im letzten Heimlich. Dafür wäre ich aber sehr dick, so dass mein Besitzer ein Loch in mich schneiden und seinen Likörvorrat darin verstecken könnte. Dann wäre ich trotzdem zu etwas nütze.

Wenn ich ein Geigenkasten wäre, enthielte ich keine Geige. Ich würde mein Leben lang darauf warten, dass jemand kommt und eine in mich hineinlegt. Es wäre vergebens. Vielleicht würde eines Tages ein Geigenbogen in mich gelegt, der aus Hochmut kein Wort mit mir spricht.

Wenn ich eine Brille wäre, würde ich nur abends getragen, in der letzten halben Stunde, bevor meine Besitzerin schlafen geht. Ich hätte nichts anderes anzugucken als den Computerbildschirm und die Weinflasche. Tagsüber, wenn meine Besitzerin spannende Krimis liest oder den Himmel betrachtet, wäre ich ins Etui verbannt. Ich wäre eine sehr frustrierte Brille und würde mir wünschen, dass meine Besitzerin eine Kontaktlinse verliert.

Wenn ich ein Gartenzaun wäre, würde ich das Atelier eines Bildhauers einzäunen, der monumentale Gipsmänner und –frauen fertigt. Ein Bildhauer, der alles, was ihm misslingt, durch das Fenster in den Garten wirft. Nackte Riesenfüße, Fäuste, Köpfe, gipserne Brüste. Einmal pro Woche käme der Inhaber des nächstgelegenen Gartencenters vorbei, würde über mich hinweglangen und all die gipsernen Körperteile auflesen, um sie in seinem Laden als Gartendeko zu verkaufen. Deshalb wäre ich ein sehr isolierter und in mich gekehrter Gartenzaun.

Wenn ich eine Mütze wäre, dann eine dickfellige Tschapka mit Ohrenklappen, die so warm ist, dass sie höchstens drei oder vier Tage im Jahr überhaupt getragen werden kann. Aber ich wäre eine schöne Mütze, und mein Besitzer würde sich über jeden polarkalten Tag freuen, um mich aufzusetzen. Vielleicht würde er januars in den Frostnächten am offenen Fenster sitzen, in eine Sofadecke gehüllt und mit mir auf dem Kopf. In jenen Morgenstunden, in denen der Frost hauchfein zu Boden rieselt und alles Gewachsene im Eis verstummt, würde er am Fenster sitzen, meine Klappen über seine blau gefrorenen Ohren ziehen und mir Kirschen erzählen bis in den Kern.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 06.04.2011, 09:16

Hallo Zefi,

hier gefällt mir besonders der letzte Absatz sehr. Ein wunderschönes Bild, ganz fein beschrieben, das ich sofort vor mir sehe und die Wärme "spüre".

Der Text als Ganzes geht für mich jedoch nicht auf. Zum einen tu ich mir mit der Wiederholung schwer, finde auch nicht alle Bilder gleich stark, auch von ihrer Umsetzung, aber dann ist es auch eine Haltung, die mich auf Distanz gehen lässt und die es dem letzten Absatz dann schwer macht mich wieder zurückzugewinnen.

Diesmal also ein wenig durchwachsen für mich. Ich könnte mir vorstellen, dass die einzelnen schönen Ideen (der Likörvorrat ist natürlich klasse) in eine Zefi-Geschichte eingewebt wieder ganz anders auf mich wirken könnten.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 06.04.2011, 10:28

Hallo Zefira,

ich finde dieses Wenn-ich-ein-...-wäre-Konzept in seiner kompakten Form sehr unterhaltsam -- auch originell, denn etwas ähnliches habe ich bisher nur in einer TV-Comedy erlebt, da ging es um Fragen wie etwa: "Wenn alle Menschen Schokoriegel wären, welch einer wärst dann du?". "Toblerone, weil ..." oder so ähnlich.

Deine Wahl der Gegenstände und die Erläuterungen finde ich bemerkenswert originell. Mir gefällt diese phantasievolle groteske Art, und der gewisse Humor, der da mitschwingt und die Melancholie in Grenzen hält.


Grüßend

Pjotr

Gerda

Beitragvon Gerda » 06.04.2011, 10:53

Hallo Zefi,

deine poetische Aufzählung, in den Konjunktiv gebettet, gefällt mir sehr gut. Es sind ausgesucht absurde Ideen fein lyrisch verpackt und sehr inspirierend.
Die Idee, im Konunktiv zu schreiben haben sicher einige Autoren (ich habe auch eine solche, die mir aber bisher nur im Kopf herum spukt), allein hier lese ich mit Schmunzeln und Vergnügen wie du den Dingen Leben einhauchst, eine Seele gibst und Sprache schenkst.
Ein richtig sahniges Stückchen Prosa.

Liebe Grüße
Gerda

Sam

Beitragvon Sam » 06.04.2011, 16:35

Hallo Zefi,

ein wunderbarere Text (wie übrigens auch das Buch der Anfänge). Ich beneide dich um deine Ideen.

Dies hier ist eigentlich ziemlich traurig, wenn nicht der versöhnliche letzte Absatz wäre. Am Ende gibt es doch einen Platz in der Welt für die Erzählerin.

Es ist immer wieder ein Erlebnis, deine Geschichten zu lesen.

Gruß

Sam

Ada
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Beitragvon Ada » 06.04.2011, 18:32

Hallo Zefira,

sprachlich finde ich den Text gut gelungen. Inhaltlich habe ich jedoch Schwierigkeiten.
Mir fehlt ein logischer Faden, die einzelnen Blöcke sind zwar in sich logisch, aber wo ist die Verbindung? Bis auf den letzten scheinen sie alle die Selbstwahrnehmung von jemandem zu spiegeln, der sich für unzulänglich hält, für fehlerhaft. Es ist aber, außer dass der letzte Absatz aus der Reihe fällt, keine Entwicklung für mich erkennbar, auch kein Zusammenhang zwischen den gewählten Gegenständen. Eine Reihe könnte ich mir vorstellen als "Schurwolle, Faden, Mütze" oder "völlig untauglich, fehlerhaft, beinahe in Ordnung, am richtigen Platz". Erwartet hätte ich im letzten Absatz ein ähnliches Erleben der Unvollkommenheit wie in den vorhergehenden, der richtige Platz kam dann für mich ohne Vorbereitung, hing logisch in der Luft. Immerhin hat der Text es aber geschafft, dass ich darüber nachdenke, was ich vielleicht ohne diesen Bruch nicht getan hätte.

Lieben Gruß
Ada

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 07.04.2011, 12:05

Danke allen. Das war übrigens mein Beitrag für die blaue Schublade. Ich sehe eben, dass ich falsch zitiert habe; in der letzten Zeile müsste es natürlich "bis in den Stein" heißen. Aus irgendeinem Grund kommt mir jedoch jetzt der Kern passender vor als der Stein. Vielen Dank an Flora für die inspirierende Zeile.
Die Reihung ist vielleicht ein wenig willkürlich, aber es geht jedenfalls immer um ein Gefühl der Unzulänglichkeit; die Dinge haben eine Funktion und könnten diese auch erfüllen, haben aber nicht die Möglichkeit dazu oder dürfen nicht. (Ich hatte übrigens auch den Absatz darin: "Wenn ich ein Iglu wäre, wäre ich mit einem Kühlschrank und einem Wasserbett möbliert", den habe ich aber wegen Kalaueralarms gestrichen ...)
Klar hat das etwas von Spielerei; in dieser Art Selbstbespiegelung der eigenen Unzulänglichkeit liegt auch immer eine Spur, hm, geistiger Onanie ;o) Aber dazu muss ich sagen: Ich hatte den Text in Form einer Notiz schon lange hier liegen und war immer unzufrieden damit - bis sich mit jenem Zitat von Flora plötzlich ein Fenster aufgetan hat, wie man dieses Kreiseln am Ende doch noch aus sich selbst hinausführen kann. Den letzten Absatz zu schreiben, war eine richtige Erleichterung.

Lieben Gruß in die Runde
Zefira, die neulich übrigens mit Brille Auto gefahren ist - die Brille hat sich sehr gefreut :cool:
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 07.04.2011, 13:19

Warum rechtfertigen? Onanie ist gesund, zumal, wenn sie sich präsentiert und das Publikum befriedigt, sie zur Allbefriedigung wird.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 07.04.2011, 22:16

Hallo Zefira,

ohne Zweifel, der letzte Absatz klingt in meinen Ohren am harmonischsten, weil er erzählt, so mit einer Fülle, dass ist für mich wie vollstereo, und augenblicklich sein eigenes Universum erzeugt,
dieses - den blick nach (rückwärts) innen gerichtete - ´kirschen erzählen bis in den kern` setzt einen wunderbaren Schlusspunkt;

auch den ersten Satz find ich besonders gelungen, er spielt mit seiner Idee.

Schön.

Namaste,
Stefan


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