Letztes Märchen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Benutzeravatar
allerleirauh
Beiträge: 766
Registriert: 26.06.2010
Geschlecht:

Beitragvon allerleirauh » 28.11.2010, 19:40

Erzähl’ mir deine Geschichte.
Die Geschichte, die uns trennt; die Geschichte, die uns verbindet.
Früher, als du noch ein Kind warst, hatte ich dir auch Märchen erzählt. Sonntagfrüh. Im Bett.
Meist wählte ich „Rumpelstilzchen“. Dort spielte keine Stiefmutter eine Rolle.

Einem Mann wurde seine Frau krank.
Als sie fühlte, dass sie nie eins mit dieser Welt sein würde, ging sie noch einmal zu den schlafenden Söhnen. Sie deckte sie zu, so, wie nur Mütter es tun. „Seid fromm und gut. Ich will auf euch herabblicken und um euch sein.“ Am nächsten Morgen fand der Vater den leblosen Körper der Frau auf dem Dachboden.
Ein langer Winter legte weißes Linnen auf ihr Grab.
Als die Frühlingssonne das Tuch hinwegnahm, hatten die Verwandten eine andere für den Mann gefunden. Er heiratete erneut. Die Familie zog in eine Stadt. Sie lebten dort im Frieden miteinander.
Nachts jedoch, im Schlaf, rief der Mann den Namen der Toten.
Die Frau legte dann schützend ihre Hand auf den Leib.


Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.
Eigentlich war „Aschenputtel“ mein Lieblingsmärchen gewesen. Plötzlich aber war da keiner mehr, der uns Märchen vorlas.
Mein bis dahin buntes Kinderleben wurde von fremden Leuten schwarz gerahmt. Ich begriff nicht, wieso mein sanfter und streng gläubiger Vater erbittert mit dem Pfarrer stritt.
Mutter wurde außerhalb des kleinen Dorffriedhofes begraben.
Jeden Abend versuchte ich, mir ihr Gesicht vorzustellen. Anfangs gelang mir das noch, aber nach wenigen Wochen verschwammen die Bilder hinter meinen Lidern.

Ein dritter Sohn wurde geboren.
Für die Brüder begann eine schlimme Zeit, denn die Frau fürchtete, ihr Mann werde das gemeinsame Kind weniger lieben als die Söhne aus der ersten Ehe. Das Herz kehrte sich ihr im Leibe um, wenn sie beobachtete, wie die lockenköpfigen Jungen im Hinterhof spielten. Die Sorge um das Kind in der Wiege wucherte wie Unkraut in ihr, immer höher, und ließ ihr Tag und Nacht keine Ruhe mehr.
Schließlich musste der Vater in einen Krieg ziehen und seine Kinder blieben in der Obhut der Gemahlin zurück.


Ich hatte mir angewöhnt, mich auf dem schwarz gerahmten Gemälde unsichtbar zu machen. Grau wurde ich und verschmolz mit den Fassaden der Mietskasernen.
Ich schwieg. Ich aß. Ich schlief. Ich schwieg.
Wenn sie mich rief, reagierte ich nie sofort. Erst beim zweiten oder dritten Mal nahm ich Konturen an.

Die Zeiten wurden schlecht. Menschen hungerten und froren.
„Wer Brot essen will, muss es sich verdienen“, schrie die Frau die älteren Kinder an und ließ sie Tag für Tag hart arbeiten. Sie mussten Holz und Kohlen schleppen. Das Treppenhaus wischen. Faule Kartoffeln und Mohrrüben schälen. Den kleinen Bruder in einem Ungetüm von einem Kinderwagen umherfahren.
Die beiden waren maulfaul und wichen ihr aus. Manchmal gaben sie trotzige Widerworte. Dann schlug und trat sie die zwei. Sie schlug zu, weil sie nicht wusste, wie sie die Familie allein durch den Winter bringen sollte. Sie ballte die Fäuste, weil nur so selten Post von der Front kam. Sie schrie, weil der Schwager in Russland gefallen war. Sie beschimpfte die Kinder, weil sie wusste, dass sie zweite Wahl war. Tränen der Enttäuschung rannen über ihre Wangen, weil es nicht ihr Name war, den der Mann nachts rief.
Hinterher tat es ihr leid.


Ich war aus dem Rahmen gefallen, lag am Boden und versuchte, meinen Körper vor den Schlägen und Tritten zu schützen. Es gelang mir nicht. Ich sei böse, dumm und zu nichts nutze. Ich würde lügen und stehlen. Eine einzige Last. Als sie von mir abließ, blieb ich liegen. Ich weinte lautlos. Ich weinte, weil ich meinen Vater vermisste. Weil ich nicht mehr wusste, wie die Mutter gerochen hatte. Weil ich ihr Gesicht nicht mehr sah. Die Tränen rannen, weil ich zweite Wahl war. Nicht eins mit der Welt. Bäumchen, Bäumchen, rüttle dich.

Die Luftangriffe der Alliierten nahmen zu. Immer häufiger mussten die Frau und die Kinder die Nächte im Luftschutzkeller verbringen. Als eine Bombe das Nachbarhaus traf und sie in den Gewölben die Schreie der verbrennenden Bewohner hörten, sah sie das Entsetzen in den Augen der Jungen. Ihre Angst. Sie taten ihr leid, aber sie brachte es nicht über sich, ihnen über die Haare zu streichen. Sie wollte für sie sorgen, aber sie liebte sie nicht.

Jahre später, ich hatte längst begonnen, eigene Bilder zu malen und sie zu rahmen, schlug auch ich zu. Wieder und wieder. Wenn du am Boden lagst, trat ich dich in die Seite. Ich verfluchte dich voller Wut. Du warst ein Mädchen – nicht der erhoffte Sohn. Du hattest gelogen. Mich bestohlen. Warst laut, fröhlich, frech und konntest dir die Malreihen nicht merken. Du warst mir fremd. Rucke di gu, rucke di gu - Blut war im Schuh. Immer, wenn ich mich beruhigt hatte, hasste und schämte ich mich. Ich brachte es nicht über mich, dir über die Locken zu streicheln. Ich konnte nicht um Entschuldigung bitten. Ich hatte es nicht gelernt. Jedes meiner Bilder enthielt das Grau des Stiefmutterhauses.

Ich hätte dir schon damals das Märchen vom Aschenputtel erzählen sollen.
Zuletzt geändert von allerleirauh am 26.12.2010, 19:12, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 14.12.2010, 18:34

Hallo allerleirauh,

ich habe deinen Text jetzt schon einige Male gelesen und immer wieder angesetzt, etwas zu schreiben. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, den Text noch nicht wirklich verstanden zu haben. Sicher, er erzeugt ein beklemmendes Gefühl, durch den gut geschilderten Stiefeltern/Stiefkinder Konflikt. Aber irgendwie bekam ich die beiden Erzählstränge nicht ganz übereinander. Jetzt meine ich zu wissen, warum. Ich habe in beiden Fällen eine Frau als Erzählerin gesehen. Mittlerweile denke ich aber, es ist ein Mann, der hier erzählt. Er erzählt seine Geschichte und, als Märchen getarnt, die seiner Stiefmutter. Das alles bekommt seine Tochter zu hören. Eine Geschichte von Tod, Entbehrung, Zurückweisung, Kränkung, Verletzung und Enttäuschung. Und von deren Weitergabe an die nächste Generation.

Wie gesagt, beklemmend und eindrücklich. Gut geschrieben, bis auf einen Satz, wo ich Anfangs einen Tipfehler vermutete:
"Sie lebten dort im Frieden miteinander."
Ich dachte zunächst, das müsse doch IN Frieden heißen. Beim Weiterlesen dann erklärt es sich durch den Ausbruch des Krieges. Meiner Meinung nach eine etwas unglückliche Formulierung.

Dein Text macht es dem Leser nicht leicht, aber das muss er auch nicht. Mich jedenfalls hat er sehr bewegt und beschäftigt.

Gruß

Sam

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 14.12.2010, 22:26

Hallo AllerleiRauh,
nur ein kleines Feedback - für einen schwierigen Inhalt hast du eine sehr anspruchsvolle Form gewählt. Die dialogischen Elemente besonders am Anfang finde ich sehr gelungen. Jedoch am Ende schloß sich für mich der Kreis nicht so ganz. Den Wechsel in der Tonart 'Jahre später, ich hatte längst begonnen .... ' empfand ich als Bruch, auch als sprachlich etwas enttäuschend. Für mich ist der Prozeß der Entstehung von Gewalt - die Wandlung vom Opfer zum Täter nicht schlüssig entwickelt. Wie ist die Wandlung geschehen, die aus dem sensiblen, leidenden, passiven Erzähler, der am liebsten im Grau verschwinden würde, den Maler, den Schläger, den primitiven Mädchenhasser macht? Das Märchen - Aschenputtel - evoziert bei mir viele recht helle Eindrücke, die Tauben, die Geschenke der Mutter, Ball und Prinz und Pipapo - das ist hier mehr ins Finstere gedreht. Bei mir hat vermutlich dieses Märchen mehr in die Irre geführt - ich frage mich, ob andere Märchen nicht stärker sein würden (z.B. unter dem Machandelboom)?
Grüße
Franz

Benutzeravatar
allerleirauh
Beiträge: 766
Registriert: 26.06.2010
Geschlecht:

Beitragvon allerleirauh » 17.12.2010, 18:52

lieber sam, lieber franz,

vielen dank für eure rückmeldungen. sie sind mir besonders wichtig, da ich mir schon darüber im klaren bin, dass der text eine menge vom leser fordert. ich hatte schon angst, er würde unkommentiert verhungern... :-)

@ sam: ich finde interessant, dass du ursprünglich eine erzählerin vermutetest. vielleicht impliziert der anfang des textes dies(e) sogar (aber warum? weil frauen automatisch mit dem märchenerzählen verbunden werden? weil kinder gewöhnlich im mamabett schlafen? weil mädchen aschenputtel lieben?)
im letzten textabschnitt wird ja ganz klar ausgeführt, dass der adressat des märchens die tochter ist. aber möglicherweise erhält der leser diese information zu spät? ich muss mir das noch einmal genau anschauen.

@franz: auch eine wirklich interessante frage. wie wird aus einem opfer ein täter? ich glaube, und ich hoffte, der text würde zumindest teilweise diese antwort geben, u.a. dadurch, dass sich das opfer mit den unerfreulichen ereignissen nicht wirklich auseinandersetzt. beziehungsweise: dadurch, dass das opfer keine gelegenheit erhält, sich mit den den traumatischen ereignissen auseinanderzusetzen. dadurch, dass das opfer kindheitserlebnisse in sich verschließt. sie verdrängt.

lg
a

Benutzeravatar
Eule
Beiträge: 2055
Registriert: 16.04.2010

Beitragvon Eule » 18.12.2010, 01:03

Hallo allerleihrauh, auch mich beeindruckt der Text. Ich lese ihn als eine etwas fiktive Geschichte, vielleicht weil sie große Zeiträume überbrückt und mehrere Perspektiven enthält. Eine Mutter-Tochter-Text, nach vielen Jahren auf eine Bitte hin geschrieben.
Die kursiven Teile werden auktorial erzählt - der objektive Teil zur Familienchronik der Mutter. Und dann folgt das Motiv des Wiederholungszwanges - das Wiedererkennen in Handlungen, in Dispositionen - Zusammengehörigkeiten im Posiven wie Negativen.
In der Möglichkeit dieser Erklärungen - einer schmerzhaften Ehrlichkeit - liegt ein Motiv der Hoffung, der Hoffnung auf Verstehen, vielleicht auch auf Verzeihen, jedenfalls aber auf ein ehrliches Miteinanderreden.
Für mich ein gelungener und gut geschriebener Text ! Viele Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.

Lapideus

Beitragvon Lapideus » 23.12.2010, 16:50

Lieber allerleirauh,

starker Text. Handwerklich klasse, toller Stil! Einzig "Wenn sie mich rief, reagierte ich nie sofort." klingt für mich ein bisschen schief - wird aber wohl an mir liegen.

Inhaltlich: Ich musste den Text zweimal lesen. Beim zweiten Mal waren mir die Bezüge aber klar und auch die Identität des Erzählers.

Womit ich aber überhaupt nicht zurechtkomme, ist der vorletzte Absatz:
schlug auch ich zu. Wieder und wieder. Wenn du am Boden lagst, trat ich dich in die Seite.

Ich finde das extrem brutal. Diese Sätze nehmen mir jegliche Sympathie und Verständnis für den Protagonisten. Darüber hinaus steht der vorletzte Absatz in einem großem Kontrast zum ersten, der aus meiner Sicht eine gewisse Nähe zwischen Vater und Tochter andeutet. Wie kann es diese Nähe zwischen Vater und Tochter, die für ein Sonntagsgeschichtenvorlesen sicherlich notwendig ist, nach diesen Misshandlungen aber überhaupt noch geben?

Was ich in dem Kontext auch nicht ganz verstehe, ist, dass du im ersten Absatz über die Tochter sprichst, im letzten aber mit der Tochter. Wäre es nicht logischer, von Anfang an mit der Tochter zu sprechen?

Oje, habe ich den Text am Ende doch nicht verstanden?

Liebe Grüße,
Lapideus

Benutzeravatar
allerleirauh
Beiträge: 766
Registriert: 26.06.2010
Geschlecht:

Beitragvon allerleirauh » 26.12.2010, 19:10

hallo arne, hallo lapideus,

ich danke für eure kommentare.

@lapideus

"wenn sie mich rief, reagierte ich nie sofort." ---> ist es logischer, das plusquamperfekt zu verwenden? "wenn sie mich gerufen hatte, regierte ich nie sofort."

was du über die erzählperspektive sagst, ist richtig, das ist noch nie einem aufgefallen! ich werde ändern und auch im ersten abschnitt die direkte ansprache wählen.

ob zwischen vater und tochter auch nach misshandlungen nähe entstehen kann, weiß ich nicht genau. echte nähe möglicherweise nicht, aber vielleicht soetwas wie respekt, der sich aus einem gewissen verständnis und einem verzeihen heraus speist?

lga

Lapideus

Beitragvon Lapideus » 03.01.2011, 12:19

Hallo allerleirauh!

Freut mich, dass ich helfen konnte! Ad Plusquamperfekt: Ich denke nicht, ich würds so lassen. Ich hab mich eher an "reagierte ich nie sofort" gestoßen, aber das liegt sicher an mir, weil ich diese Konstruktion noch nie gelesen habe. Mit dem Tempus hatte ich kein Problem.

Ad Nähe: Ja, vielleicht geht das. Wie gesagt, ich hab einfach den Satz ziemlich brutal gefunden.

Liebe Grüße,
Lapideus

Ada
Beiträge: 85
Registriert: 31.03.2011

Beitragvon Ada » 15.04.2011, 18:55

Hallo allerleirauh,

ein Märchen von einem Märchenwesen. ;)

Es geschieht häufig, dass Erwachsene das Leid, das sie als Kinder erfahren haben, an ihre eigenen Kinder weitergeben. Märchen handeln selbst oft von Leid und Gewalt, und deren Überwindung. Und Märchen sind Entwicklungsgeschichten, die oft eine Hilfe anbieten, wenn die Wirklichkeit alleine dies nicht mehr vermag. Das Verweben von zwei Realitätsebenen mit Grimmschen Motiven funktioniert so gut, dass die Geschichte ein beklemmendes Bild heraufbeschwört. Sehr schön erzählt!

Gruß
Sabine


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 68 Gäste