Aus des Teufels Gute-Nacht-Geschichten

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Sam

Beitragvon Sam » 28.09.2011, 10:30

Aus des Teufels Gute-Nacht-Geschichten


[align=right]Ich lese keine historischen Bücher mehr. Früher, als ich es noch tat, war mir immer so, als läse ich des Teufels Gute-Nacht-Geschichten.
Heinrich Heine in einem Brief an Ferdinand Lasalle

Wir mögen nicht wissen, was…das Menschliche sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.
Adorno

Alles Gute war einmal Böse.
Nietzsche[/align]




SS-Scharführer Griebe hatte trotz seines viehischen Berufes, er war Kommandant eines Außenlagers des KZ Mauthausen, eine nicht unsympathische Vorliebe für klassische Musik, vornehmlich Violinkonzerte von Mozart, Beethoven und Händel.
Er selbst dilettierte im Geigenspiel, wobei er peinlich darauf achtete, dass niemand im Lager mitbekam, wenn er sein Instrument hervorholte, um mit hauchzartem Strich einige kurze Notenfolgen zu spielen.
Eines Tages kam ein bekannter Geigenbauer ins Lager. Griebe gab Anweisungen, den Mann zu schonen. Einmal ließ er ihn holen, damit er sein Instrument inspiziere und die neuen Saiten aufziehe, die seine Frau ihm aus Berlin geschickt hatte. Kurz darauf traf ein berühmter Violinist mit seiner Frau und Tochter ein. Griebe beobachtete, wie sie die Rampe vom Bahnsteig heruntergingen, der hagere Mann, die ihn um fast einen Kopf überragende Frau und das Mädchen, etwa zehn oder zwölf Jahre alt, mit langen Haaren, die ihr bis zu den Kniekehlen herabhingen.
Da kam Griebe eine Idee. Zunächst rief er seinen Adjutanten und gab ihm Anweisungen. Dann schickte er nach dem Geigenbauer und auch dieser bekam Befehle, die sofort auszuführen seien. Nach drei Tagen schließlich ließ er den Musiker zu sich kommen. Der hieß Valentin Scheenspill und war einer der vielen Amsterdamer Juden, welche die letzten Transporte ins Lager gebracht hatten.
„Du spielst Geige?“, fragte Griebe.
Scheenspill nickte.
„Was kannst du spielen?“
„Alles mein Herr“, antwortete Scheenspill, „Mozart, Beethoven…“
„Händel auch?“
„Auch Händel, selbst wenn seine Violinenstücke nicht zu den bekanntesten zählen.“
Griebe gab dem Juden eine Ohrfeige.
„Belehre mich nicht! Ich will, dass du spielst. Mozart, Beethoven und Händel.“
Scheenspill verbeugte sich und sagte: „Wenn der Herr mir ein Instrument zur Verfügung stellen kann, ich habe derzeit keines.“
„Dafür“, sagte Griebe und öffnete seinen Geigenkasten, „ist gesorgt.“
Er entnahm zunächst die Violine und gab sie Scheenspill. Dann zog er den Geigenbogen hervor, hielt ihn hoch und fuhr mit den Fingern über die Bespannung.
„Das ist ein einzigartiger Bogen“, sagte Griebe, „bespannt mit einem ganz besonderen Material - dem feinen und wunderbar langen Haar eines jungen Mädchens. Ich weiß, dass Menschenhaar für einen Geigenbogen nicht taugt, aber es ist das deiner Tochter, damit wirst du doch wohl einen schönen Wohlklang erzeugen können, oder?“
Scheenspill nickte stumm, nahm den Bogen und setze die Violine ans Kinn. Dann begann er zu spielen und es klang erbärmlich. Die Töne flossen ineinander ohne klare Kontur, als schallten sie in einem Raum aus Wolle und Staub. Scheenspill versuchte lauter zu spielen, doch je mehr Druck er auf den Bogen gab, desto mehr Haare rissen oder wurden durch die Reibung versengt. Dennoch fuhr er fort, versuchte sich an Mozart dem Österreicher, an Beethoven dem Deutschen und an Händel, der solange in England lebte, jenem Land, das zwar um seine eigene Existenz kämpfte, dem aber das Schicksal der Juden völlig gleichgültig war.
Als er es nicht mehr ertragen konnte, schlug Griebe dem Juden das Instrument aus der Hand.
„Es ist abscheulich“, rief er, „abscheulich, was du aus der Musik machst! “
Scheenspill sah den Scharführer an und sagte: „Die Musik ist abscheulich. Beethoven ist abscheulich, Mozart ist abscheulich.“
Griebe nahm den Geigenbogen und versetzte dem Juden Hiebe auf Kopf und Rücken. Dann rief er seinen Adjutanten und gab Befehl, den Gefangenen erschießen zu lassen.





Die 1923 von Petljura angeführten Pogrome in Kiev machten Efim Kogan zum Waisen, Einzelkind, Witwer und Kinderlosen. Zusammen mit seinem Vetter Iosif beschloss er, nach Palästina zu gehen. Ihr Weg führte sie zunächst nach Odessa. Dort fanden sie einen Frachter, der sie nach Istanbul brachte. Bei dem Versuch auf einem dänischen Kutter anzuheuern, wurde Iosif erstochen. Efim versteckte sich daraufhin im Laderaum eines englischen Handelsschiffes und kam so nach Zypern. Zwei Monate später betrat er in der Nähe von Gaza das Heilige Land.
Das Kibbuz Cheftziba südlich des Sees Genezareth wurde ihm zur neuen Heimat. Die Landarbeit fiel ihm nicht schwer und innerhalb eines Jahres lernte er nicht nur hebräisch, sondern auch arabisch und englisch.
Als der jüdische Nationalfonds weiteres Land von einem in den USA lebenden Araber kaufte, kam es zu einem Aufstand der dort lebenden Fellachen. Gemäß ihrem Verständnis gehörte das Land zwar Ben Anisari und er konnte es verkaufen an wen immer er wollte, aber die Olivenbäume und auch der Brunnen waren ihr Eigentum und unveräußerlich.
Efim bekam den Auftrag, die Wasserstelle zu sichern. Was das hieße, wollte er wissen.
Die Araber vergiften den Brunnen, sobald wir daraus trinken, bekam er zur Antwort.
So bezog er, begleitet von drei Soldaten des Kibbuz, Wache. Es kamen jedoch nur Frauen aus dem nahegelegenen Bet Sche’an, die in irdenen Krügen Wasser schöpften.
Wir sollten sie daran hindern, unser Wasser zu trinken, sagte einer der Juden.
Ist es unser Wasser, fragte Efim, oder das Wasser Gottes, das für alle Menschen sprudelt?
Sie werden es vergiften, rief ein anderer.
Wir werden es verhindern, sagte Efim.
Doch einer der Männer, die so unzufrieden damit waren, dass Efim den einheimischen Frauen gestattete, aus ihrer Quelle Wasser zu schöpfen, berichtete dies nicht nur im Kibbuz, sondern auch den Verantwortlichen der Hagana und der Histadrut. Diese schickten am folgenden Tag ein gutes Dutzend bewaffneter Männer, um alle Palästinenser zu verjagen, wobei einige der Frauen erschossen wurden. Efim bekam den ausdrücklichen Befehl, nur noch die Juden aus dem Kibbuz an den Brunnen zu lassen.
Trotz der Wachen, versuchten die Bewohner von Bet Sche’an sich nachts anzuschleichen, um wenigstens einige Krüge zu füllen. Meist wurden sie verjagt, doch wann immer es Efim möglich war, ließ er sie gewähren.

Zati Dawud war früher ein Hitzkopf gewesen, nun aber versuchte er die Leute in Bet Sche’an zu beruhigen. Es muss einen Weg geben, sich mit den Juden zu einigen, sagte er.
Die Juden verachten uns, bekam er zu hören, und werden nicht mit uns reden. Wir sind wie Vieh in ihren Augen, und noch weniger als das.
Ich werde, sagte Zati, mit dem Juden sprechen, der uns das Wasser holen lässt.
Also sprach Zati mit Efim. Wir sollen wir überleben ohne Wasser, fragte er.
Wie sollen wir überleben, wenn wir vergiftet werden, bekam er zu Antwort.
Wir vergiften euch nicht. Es ist unsere Quelle, warum sollten wir unser eigenes Wasser vergiften?
Es ist, sagte Efim, nicht mehr euer, sondern unser Wasser. Wäre es noch das eurige, dann müssten wir euch darum fragen und bräuchten keine Angst zu haben, dass ihr es vergiftet. Nun aber ist es unseres und es gibt keinen Grund, warum ihr es nicht vergiften solltet.
Da es nur diesen Brunnen gibt, für Bet Sche’an und auch für eurer Kibbuz, ist es egal, wem er nun gehört. Wenn wir ihn teilen, dann gibt es keinen Grund ihn zu vergiften, außer man wolle sich selbst vergiften.
Efim nickte. Dann sagte er noch: Ich weiß, das viele von uns nicht so denken, aber mir erscheint es gut und gerecht, das Wasser zu teilen. Wann immer ich Wache habe, könnt ihr holen, soviel ihr tragen könnt. Im Gegenzug dazu versprichst du mir, das Wasser nicht zu vergiften.
Ich verspreche es, sagte Zati.
Und so kam es, dass über einige Monate hinweg sowohl die Juden aus dem Kibbuz, als auch die Bewohnen von Bet Sche’an aus dem Brunnen ihr Wasser schöpften.
Einem von Efims Leuten, ebenfalls ein ukrainischer Jude, missfiel dessen Einverständnis mit den arabischen Nachbarn und er beschwerte sich im Kibbuz. Wiederum erfuhren es auch die Führer der Hagana und der Histadrut. Sie ließen Efim von seinem Posten abholen, verhörten ihn und nachdem sie ihn einige Tage in Gewahrsam gehalten hatten, bekam er eine neue Aufgabe innerhalb des Kibbuz zugeteilt. Derjenige, der Efim verraten hatte wurde der neue Aufseher über den Brunnen und mit aller Gewalt und Brutalität vertrieb er jeden Araber, der sich auch nur in die Nähe der Wasserstelle wagte.

Kurz darauf, Efim schaufelte gerade einen Graben zur Bewässerung eines Gemüsefeldes, schlich sich Zati auf die jüdischen Felder hinaus, um mit Efim zu reden.
Sie vergiften den Brunnen, sagte er.
Wann?
Heute Nacht.
Wir müssen das verhindern, sagte Efim. Um unser und euer Willen.
Ich weiß, antwortete Zati. Ihr werdet jeden einzelnen von uns töten, stirbt auch nur ein Jude.
Ja, sagte Efim, so wird es sein.
In der Nacht legten sie sich nahe Bet Sche’an auf die Lauer. Als sie einige Männer aus dem Dorf schleichen sahen, erhoben Efim und Zati ihre Waffen.
Kehrt zurück, riefen sie, oder wir schießen.
Doch plötzlich tauchten hinter ihnen Schatten auf und bevor sie nur einen Schuss abgeben konnten, wurden sie überwältigt.

Die Juden fanden Efim am nächsten Morgen im Brunnen. Man hatte ihm ein breites Eisenrohr in den After gerammt, durch das seine Peiniger junge vergiftete Ratten geschoben hatten, auf dass diese sich zunächst an seinen Eingeweiden gütlich täten, bevor sie dort selbst eingingen. Einige der Ratten hatten noch den Weg zurück ins Freie gefunden und schwammen tot im giftigen Wasser.
Zati dagegen hing, eingenäht in einen Sack, an einem Pfahl in der Mitte des Dorfes Bet Sche‘an. Jeder hatte in der Nacht seine Schreie gehört und auch das schreckliche Fauchen der Katzen, die man mit in den Sack gegeben hatte und die, durch einige wenige Stockschläge kirre gemacht, seinen nackten Körper mit ihren Krallen zerfleischten. Als die Soldaten der Hagana das Dorf niederbrannten, nahm einer von ihnen das blutige Bündel vom Pfahl und warf es zu den anderen Toten.

Ein Wort gestrichen und einen Satz umgestellt (siehe Kommentar von Merlin).
Den Scharführer entschärft und ihm seinen richtigen Dienstgrad zugewiesen (sie Kommentar von Yorick)
Zuletzt geändert von Sam am 02.10.2011, 10:15, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.09.2011, 14:56

Au Mann, Sam,

dies ist ein Text, der die Gemüter hier erhitzen wird.
Grausig, abgrundtief böse und unmenschlich, vor allem in der detaillierten Beschreibung, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.

Nun, es sind zwei Geschichten. Also frage ich mich, was haben beide Geschichten gemeinsam bzw.: was will mir der jeweils andere Fokus in den Geschichten sagen?

Einmal repräsentiert der Nazi das Böse, der Jude ist ohnmächtig. Das letzte, was ihm bleibt, ist der Ausruf, Mozart (somit Östereich) und Beethoven (somit Deutschland) seien abscheulich.

In der zweiten Geschichte geht es um Juden und Araber, wobei hier zuerst der Fokus auf die "bösen" Juden gelegt wird, die arabische Frauen erschießen, weil sie nichts von "ihrem" Brunnenwasser hergeben wollen.
Doch hier gibt es einen "guten" Juden, der tapfer versucht, das Wasser auch an die Araber zu geben. Er tut dies unter Lebensgefahr und wird dafür von seinen eigenen Landsleuten verraten und auf grausame Weise ermordet, genau so wie sein arabischer Kumpan, die beide zusammen für das Recht des Wassers für beide Seiten stehen.

In der ersten Geschichte gibt es keinen "guten" Nazi, nur den "bösen". Wenn Griebe jemanden verschont, dann nur durch eigenes Interesse angetrieben.

Was also ist die Quintessenz deiner beiden Geschichten?
Das Böse siegt immer?

Hier sagt der Teufel nicht "Gute Nacht!" Er sagt: "Guten Tag! Ich bin allgegenwärtig."

Das sind so meine ersten, spontanen Gedanken.

Saludos
Gabriella

Herby

Beitragvon Herby » 28.09.2011, 21:41

Hallo Sam,

nur eine kurze ad-hoc Rückmeldung nach zweimaligem Lesen.

Das ist ein starker, ganz starker Text aus deiner Feder. Ich tue mich normalerweise schwer damit, längere Texte am PC-Monitor zu lesen. Diesen hier jedoch habe ich ohne Unterbrechung gelesen, er zog mich sozusagen in sich hinein, was für das sprachlich/erzählerische Können des Autors spricht.

Inhaltlich spiegelt er das von dir vorangestellte Adorno Zitat auf ebenso eindrucksvolle wie bedrückende Weise wieder. Ich musste während des Lesens ständig an eine Aussage von G. Orwell denken, an deren genauen Wortlaut ich mich leider nicht mehr erinnern kann. Sinngemäß besagt sie, er habe den Glauben an das Gute im Menschen (den Glauben daran, dass der Mensch von Natur aus gut ist?) verloren, seit er im 2. Weltkrieg gesehen habe, was der Mensch dem Menschen anzutun imstande ist.

Ich werde diesen Text aber sicherlich noch mehrmals lesen und mich nochmal melden (wenn ich es schaffe), soviel für den Moment.

Herzl. Gruß,
Herby

Herby

Beitragvon Herby » 28.09.2011, 22:03

Würdest du sagen, ich liege falsch, wenn ich einen Bogen schlage (was ich nämlich gerade tue) von diesem Text zu deinem "Nah und Fern"?

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.09.2011, 22:18

Du meinst, als "Gegenpol" sozusagen, Herby?
Ja, würde ich auch so sehen.

Sam

Beitragvon Sam » 29.09.2011, 09:00

Hallo Gabriella, Hallo Herby,

habt vielen Dank für's Lesen und eure Gedanken zu diesem Text!


Gabriella,

ob sich hier wirklich Gemüter erhitzen werden, wage ich zu bezweifeln. Dafür ist die Herzfrequenz des Salons im Moment wohl etwas zu niedrig ;-)

Du fragst nach der Gemeinsamkeit der beiden Geschichten. Sie sollten keinesfalls das gleiche Schema haben - deswegen gibt es auch keinen guten Nazi. Ihre Gemeinsamkeit liegt vor allem in der dargestellten Unmenschlichkeit, wobei natürlich der Zusammenhang zwischen dem Juden als Opfer und Juden als "Täter" eine Art Klammer bildet, die für mich rein thematisch ist und nicht in irgendeinem relativierenden Sinne.

Die Quintessenz? Überlasse ich gerne dem Leser selbst, sie für sich zu finden, entweder in den Geschichten selbst oder aber auch einfach in der Art der Darstellung. Zu irgendeiner Schlussfolgerung wird er kommen. Für mich selbst kann ich nur sagen, dass es mir weniger um eine konkrete Aussage ging, sondern u. A. darum, meinem tiefsitzenden Unbehagen Ausdruck zu verleihen, das mich jedesmal überkommt, wenn ich daran denke, wozu Menschen fähig sind. Oft wird ja von der Faszination des Bösen gesprochen. Aber am Bösen gibt es nichts Faszinierendes. Es ist einfach nur erschreckend.

Herby,

gleich zu deiner letzten Frage. Bewusst habe ich hier keinen Bogen geschlagen (zwischen der Entstehung beider Texte liegen etliche Jahre), aber natürlich drehen sich beide Texte um Themen, die mich sehr beschäftigen und die dementsprechend ihren Niederschlag finden in dem, was ich so schreibe. Natürlich wäre es für mich sehr interessant zu erfahren, welcher Art dieser Bogen ist, den du zwischen beiden Texten spannen kannst.

Dass du den Text als "stark" empfindest und als gut lesbar einstufst freut mich sehr, mehr noch die Tatsache, dass du dich noch weiter damit beschäftigen willst.

Du erwähnst Orwell. Ich finde seine persönlichen Aufzeichnungen und Berichte aus seiner Kriegszeit auch sehr lesenwert. Seine Erschütterung über das, was er in verschiedenen Kriegen beobachtet hatte, ist sehr nachvollziehbar und geht oftmals direkt auf den Leser über.


Euch beiden nochmals herzlichen Dank!

Gruß

Sam

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 29.09.2011, 12:51

Hallo Sam!
Die Herzfrequenz mag sein, welche sie wolle - es ist für den Salon schon ungewohnt derbe Kost, die du da auftischst. Wie Herby hat auch mich der Text von einer Zeile zur nächsten gezogen, bis zum Schluß. Die Hilflosigkeit angesichts menschlicher Abgründe vermittelt er sehr gekonnt, indem er sie erweckt.
Dass daran allerdings nichts faszinierendes sein soll, kann ich nicht bestätigen - das Wie, Warum und Woher solcher Taten sind Fragen, die zumindest mich aus meinem alltäglichen Denktrott herausfallen lassen und mich für eine Weile in ihren Bann ziehen.
Einige kleine Anmerkungen:

"versetzte dem Juden Hiebe auf Kopf und Rücken"

Klingt in meinen Ohren etwas nach Polizeibericht. Der Stil ist zwar im übrigen auch betont kühl und distanziert, hier aber scheint er mir vom Erzählenden ins Berichtende zu kippen. Ein einfaches "schlagen" statt "Schläge versetzen" gefiele mir hier besser.
Dass du Scheenspill "den Juden" nennst, scheint eine zeitweise Übernahme der Perspektive des Kommandanten anzudeuten - ist das so gemeint?

"Da kam Griebe eine Idee und er rief zunächst seinen Adjutanten und gab ihm Anweisungen."

Das erste und evtl. durch ein Komma ersetzen?

"kam es zu einem Aufstand der auf dort lebenden Fellachen."

Das "auf" gehört wohl zu einer früheren Formulierung? Jedenfalls gehört es da wohl nicht mehr hin.

Liebe Grüße
Merlin

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 29.09.2011, 19:33

Ihre Gemeinsamkeit liegt vor allem in der dargestellten Unmenschlichkeit, wobei natürlich der Zusammenhang zwischen dem Juden als Opfer und Juden als "Täter" eine Art Klammer bildet, die für mich rein thematisch ist und nicht in irgendeinem relativierenden Sinne.


Die Klammer ist interresanterweise in der "falschen" zeitlichen Reihenfolge.

Die Episode in Palästina ereignete sich 1923, also definitiv vor der Episode im KZ.
Insofern kann eigentlich keine relativierende Interpretation zu Stande kommen, in der Art wie es oft dem heutigen Israel vorgeworfen wird: Wie kann ein Volk, welches so unmenschlich behandelt wurde, wie die Juden in der Zeit von 1933-1945, derzeit mit anderen Völkern umgehen bzw. umgegangen sind.
Ich kann mich im Moment nicht entscheiden, ob ich die gewählte thematische Klammerbildung gut finde oder nicht. Es stört mich irgendetwas, nur was ...

Neugierig bin ich, wie die Wirkung auf die Leserschaft wäre, wenn die Episode in Palästina vor der Episode aus dem KZ erzählt worden wäre.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Sam

Beitragvon Sam » 30.09.2011, 08:53

Hallo Merlin,

vielen Dank für deine Anmerkungen und auch die Hinweise. Ich werde das gleich mal verbessern.

Das mit der Herzfreuquenz bezog sich im Übrigen nicht auf das Erregungspotenzial einzelner Leser, sondern auf die im Moment recht geringe Aktivität hier im Forum - zumindest was Textdiskussionen angeht.

Du schreibst:

Dass daran allerdings nichts faszinierendes sein soll, kann ich nicht bestätigen - das Wie, Warum und Woher solcher Taten sind Fragen, die zumindest mich aus meinem alltäglichen Denktrott herausfallen lassen und mich für eine Weile in ihren Bann ziehen.


Die Fragen nach dem Wie, Warum und Woher müssen ja nicht von einer Faszination her rühren. Dem kann ebenso eine Verstörung oder Beklemmung zugrunde liegen, oder? Aus dem alltäglichen Denktrott herauszufallen, empfinde ich als sehr positiv. Wobei ich keine konkrete Vorstellung oder Absicht hatte, in welche Richtung das Denken durch den Text gelenkt werden sollte.

Wo ich dir widersprechen möchte ist deine Ansicht über die Formulierung "Hiebe versetzen". Natürlich hätte man auch schlagen schreiben können. Aber zum einen wird das Wort eine Zeile davor schon verwendet und zum anderen klingt der Ausdruck "Hiebe versetzen" mehr nach Demütigung, es spiegelt ein Herr/Sklave Verhältnis, was mir sehr passend scheint. Außerdem kann man mit einem dünnen Geigenbogen ja nicht wirklich schlagen (mit dem Ziel körperlich zu verletzen). Hiebe versetzen mit dem Bogen, das ist weniger Tat als Geste.

Die Zuschreibungen wie "dem Juden" ist weniger eine Übernahme der Perspektive des Kommandanten, als ein Spiegel der Denkkategorien, welche den Hintergrund der beschriebenen Ereignisse bilden. Man findet sie ja ebenso in der Geschichte über den Brunnen (Juden/Araber).


Hallo Sethe,

vielen Dank auch dir (und schön, mal wieder etwas von dir zu hören!!).

Die Reihenfolge der Geschichten spielt für mich nur eine untergeordnete Rolle. Historisch betrachtet haben wir es mit parallel verlaufenden Entwicklungen zu tun. Im Grunde hätten beide Ereignisse auch gleichzeitig stattfinden können, oder die mit dem Brunnen später.

Welche Wirkung es auf den Leser hätte, stünden die beiden Geschichten in umgekehrter Reihenfolge, ist natürlich nicht zu beantworten, aber aus obigen Gründen für mich auch nicht wirklich von Interesse. Wesentlich gespannter bin ich, wenn du sagst, an der thematischen Klammer stört dich etwas. Da würde ich sehr gern erfahren, was es ist.


Euch beiden nochmals herzlichen Dank!


Gruß

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 30.09.2011, 11:38

Hallo Sam,

soll ich mal ein bisschen die Frequenz erhöhen. :mrgreen:

Nein, diesmal kommt von mir kein Aufschrei. .-) Der Text positioniert sich von Anfang an klar, wodurch die Provokation "fehlt", über die ich schon öfter heftig in deinen Texten gestolpert bin.

Ich denke, es ist wichtig, dass solche Geschichten geschrieben werden, die auch grausame "Realität" darstellen, die davor nicht zurückschrecken, bei denen aber das Wissen um die Fiktion dem Leser einen ganz anderen Zugang ermöglicht, als bei Tatsachenberichten.

Durch die Distanz des Erzählers, die schon durch die Zitate eingeleitet wird und sich dann durch den Text zieht, wird es möglich das Gefühl der Ohnmacht, und der Verstörung, Betroffenheit, die einen bei solchen Nachrichten und Berichten befällt, ein Stück weit zu überwinden und sich damit auseinanderzusetzen. Das Ganze in den Kopf zu holen, anschaubar zu machen.

Wenn hier eine Faszination entsteht, dann für mich die, dass jemand so einen Text schreiben kann, und über die Gedanken, die sich aus ihm entwickeln, über die Reaktionen, die er auslöst und nicht darüber, dass Menschen zu so etwas fähig sind, oder über die Taten selbst, oder das Böse an sich.

Die Frage ist für mich aber, und ich denke das ist eine Gratwanderung, ob der Text glaubhaft bleibt, oder ob man das Gefühl hat, dass der Autor am Erfinden von Abscheulichkeiten "Freude" hattte, sie auskostet, oder ob sie die Geschichte nur aufpeppen sollen, die ansonsten keine Substanz hat und das Böse so zum "Gruseleffekt" gerät. Das Gefühl hatte ich hier nicht. Trotzdem gehen mir die Ratten zu weit und auch die Reaktion von Scheenspill vor allem am Ende erscheint mir nicht glaubhaft in Anbetracht seiner Lage und dem Wissen, dass auch seine Familie sich im Lager befindet.

Ein wenig problematisch finde ich die klare Gut-Böse Zuweisung der einzelnen Figuren. Ich denke das Teuflische ist gerade oft, dass das so nicht möglich ist. In sofern würde der Text mich vermutlich stärker bewegen, oder auch gedanklich aufscheuchen, oder erhitzen .-), wenn ich mehr erfahren würde, mehr von den Menschen sehen würde, wenn z.B. auch Griebe eine Geschichte jenseits des Zaunes hätte und ich ihn als "Mensch" wahrnehmen müsste. So ist schon alles entschieden, das Urteil gefällt.

Die zeitliche Abfolge der Geschichten wird durch die Nennung der Jahreszahl und die "vertauschte" Anordnung natürlich schon auch in den Fokus gerückt und die Frage taucht unweigerlich auf, ob der Erzähler damit tatsächlich eine Art Relativierung beabsichtigt hat. Ich glaube für mich wäre es besser, oder weniger von deiner intendierten thematischen Klammer ablenkend, diese zweite Episode zeitlich offener zu halten und zumindest die Jahreszahl rauszunehmen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Yorick

Beitragvon Yorick » 30.09.2011, 20:24

Mich bewegt der erste Text.

Da gibt es diesen Witz über Larry Ellison (Oralce-Chef):

Was unterscheidet Gott und Larry Ellison? Gott hält sich nicht für Larry Ellison.

In vielen dieser abscheulichen KZ-Geschichten kann man die Suche nach dem Geheimnis des Lebens entdecken. Eine grausame und pervertierte Suche. Griebe als Geschäftsführer einer der Todesfabriken ist für mich in diesem Text auf dieser Suche.

Was ist das für eine Idee, auf die er kommt? Was will er sehen, erfahren?

Der Ausgang des Experiments steht ohnehin schon fest. Spielt Scheenspill gut, wird er aus Neid erschossen, spielt er schlecht, ebenso. Zumal es nicht möglich ist, mit Menschenhaar gut zu spielen.

Neid. Auf den besseren Geiger. Auf die Frau, auf die Tochter. Neid auf die größere Liebe zur Musik. Neid auf die Liebe. Das Abschneiden der Haare zeigt seinen (sexuellen) Besitzanspruch auf die Tochter, eine Machtdemonstration. Das Geheimnis des Lebens ist eng verknüpft mit dem Geheimnis der Liebe. Kann Macht Liebe erzwingen? Griebe kombiniert in dieser Symbolik die Liebe zur Musik mit der zwischenmenschlichen Liebe, das Haar der Tochter, der Frau auf dem Geigenbogen. Scheenspill scheitert in diesem Experiment, erweist sich beider Lieben als unwürdig in den Augen von Griebe. So wie er selbst scheitert, am Geigenspiel und in der Liebe (zum Menschen). Wenn nun scheitern menschlich ist, wenn sogar berühmte Geiger scheitern, kann er selbst so schlecht nicht sein. Kann er nicht wirklich böse sein.

Das Schöne verwandelt sich in dieser Versuchanordnung zum Abscheulichen - dessen Vernichtung Griebe nicht bedauerlich erscheinen muss. Dabei verdrängt er natürlich, dass er dieses Setting geschaffen hat, mit unausweichlichem Ausgang. Die erwünschte Rechtfertigung für den Größenwahn - und das erloschene Gefühl.

Die Bilder und Symbole in diesem Text finde ich stark. Der zweite Text hingegehn fällt gegen diesen stark ab, geht erzählerisch in eine ganz andere Richtung.

Ein paar Gedanken und viele Grüße
von
Yorick.

p.s:

Scharführer, nicht so scharf.

"Sturmbahnführer" --> Express-Schaffner? Außerdem ein schneller Aufstieg um gleich 7 Dienstränge, wenn Sturmbannführer gemeint ist.

Herby

Beitragvon Herby » 30.09.2011, 23:25

Hallo Sam,

Sam hat geschrieben:Natürlich wäre es für mich sehr interessant zu erfahren, welcher Art dieser Bogen ist, den du zwischen beiden Texten spannen kannst.


Der Bogen lag und liegt für mich in dem jeweils ersten Vers deines Gedichtes: "Wenn es einen Gott gibt...", der mich wiederum an die Theodizee - Frage/Thematik verweist.

Lieben Gruß,
Herby

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 01.10.2011, 21:31

Hallo Sam,



ich versuche mal zu erklären, was mich stört. Ganz geglückt dürfte es mir nicht sein.
Mein Unbehagen scheint wohl wirklich an der gewählten thematischen Klammer zu liegen, und an der zeitlichen Reihenfolge der Geschehnisse.

Sam:
Ihre Gemeinsamkeit liegt vor allem in der dargestellten Unmenschlichkeit, wobei natürlich der Zusammenhang zwischen dem Juden als Opfer und Juden als "Täter" eine Art Klammer bildet, die für mich rein thematisch ist und nicht in irgendeinem relativierenden Sinne.


Zum einen beschreibt der Text die Unmenschlichkeit, die sich Menschen gegenseitig antun.
Zum anderen verweist Du ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Juden als Opfer und Juden als Täter. Mir ist gerade erst aufgefallen, dass Du "bei Juden als Täter", das Täter in Anführungsstrichelchin gesetzt hast.

Die Entscheidung, bei dem Part "Juden als Täter" eine Ereigniss zu verwenden, welches zeitlich vor der ersten Episode liegt, ist ungewöhnlich. Den allermeisten Menschen ist bekannt, was mit den Juden zwischen 1933 und 1945 passiert. Den meisten Menschen ist bekannt, dass aufgrund der Judenverfolgung in dieser Zeit viele Juden aus Europa und die Überlebenden nach Palästina auswanderten bzw. wollten (was ja aufgrund der Politik insbesondere von Großbritanien nicht einfach war).
Dass es aber schon vor 1933 massive Judenverfolgung gab, und dass deshalb auch schon Juden vor 1933 nach Palästina auswanderten, und zu dieser Zeit auch schon Konflikte entstanden, ist wahrscheinlich nicht so präsent.

Die Verbrechen von (einzelnen) Juden in dieser Zeit in Palästina, in der Gründungsphase von Israel oder auch die Poltik des heutigen Israels, kann man damit erklären - nicht rechtfertigen oder gar entschuldigen- dass das jüdische Volk ein Trauma erlitten hat, welche bis heute nachwirkt und es deshalb alles in seiner Macht stehende tut, um nicht nochmal fast ausgerottet zu werden, manchmal leider auch um den Preis der Unmenschlichkeit.
Das kann man aber nicht, wenn man mit einem Ereigniss aus 1923 konfrontiert wird, zu einem Zeitpunkt also, wo die Protagonisten der 2. Episode noch gar nicht wissen konnten, was ihrem Volk ab 1933 angetan wird. Die Judenverfolgungen der Jahrhunderte vor 1933 waren im Vergleich zu der systematischen Ausrottung zwischen 1933 und 1945 -wie soll ich es sagen- eben keine systematische Ausrottung von einem Volk durch ein anderes Volk, die so nachhaltig nachwirkt, wie die zwischen 1933 und 1945.

Es wird der Leserin die Möglichkeit genommen, das Verhalten der Täter in der zweiten Episode zumindest halbswegs erklären zu können.
Die Judenverfolgung, die das massivste, nachhaltigste Trauma des jüdischen Volkes bewirkte, hatte 1923 noch gar nicht begonnen.
Also was bewirkte diesen Hass, und dieses Verhalten?
Mitglieder des jüdischen Volkes genauso unmenschliche Menschen, wie die Deutschen zwischen 1933 und 1945?
Schon ist man beim vergleichen und relativieren.
Ich habe es oben auch schon getan.
Die Verbrechen zwischen 1933 und 1945 sind meiner Meinung nach "einzigartig". Es kann mit nichts anderes verglichen werden, auch nicht ansatzweise. Die Taten in dem eigentlichen Zeitraum, aber auch die bis in die heutige Zeit reichende Wirkung, können nicht verglichen werden.
Werden aber die die Taten beider Völker nebeneinandergestellt, und wie hier auch noch in historisch umgedrehter Reihenfolge mit einem Ereignis aus 1923, findet ein Vergleich statt, was zur Relativierung führen kann.

Juden als Täter darzustellen, im direkten Zusammenhang mit Verbrechen in der Nazi-Zeit, also ich weiß ja nicht, das öffnet doch Tür und Tor, die Verbrechen der Nazi-Zeit zu relativieren und abzuschwächen.

Der Text verursacht deshalb Unbehagen, ich meine Du selbst setzt in Deinem Kommentar das Täter bei "Juden als Täter" in Anführungsstriche.
Natürlich haben auch Menschen aus dem jüdischen Volk Verbrechen an anderen begangen, aber doch nicht solche, wie die, die wir Deutschen zwischen 1933 und 1945 begangen haben.

Insofern lenkt die Klammer - Jude Opfer, Jude Täter- von der Thematik der Unmenschlichkeit, des Bösen ab. Es sei denn, Du wolltest einen Text als Diskussionsgrundlage für die Frage der Vergleichbarkeit schreiben.

Ich kann mein Unbehagen nicht besser erklären.

.....

Mich hat bei zwei Kommentaren etwas irrtiert.

Flora schreibt:
und auch die Reaktion von Scheenspill vor allem am Ende erscheint mir nicht glaubhaft in Anbetracht seiner Lage und dem Wissen, dass auch seine Familie sich im Lager befindet.


und Yorick schreibt "vom Abschneiden der Haare."

Geht ihr etwa davon aus, dass in dem Moment, wo der Vater auf der Geige spielen muss, das Mädchen noch lebt?
Also ich nicht. Die Tochter ist tot. Das entspricht der Logik der KZ´s, da wurden nicht nur Haare abgeschnitten, da wurde getötet.
Der Vater hätte selbst, wenn man auf Menschenhaar als Saiten Geige spielen könnte, keinen vernünftigten Ton aus der Geige herausbringen können, er spielte auf den Haaren seiner toten Tochter. Eine Entweihung der Musik, hier Beethoven und Mozart, eine Entweihung der Tochter und eine Abgesang an die Menschlichkeit.
Der Vater hatte nichts mehr zu verlieren, seine Tochter tot, und seine Musik war damit auch gestorben und damit die Zivilisation.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Sam

Beitragvon Sam » 02.10.2011, 10:13

Hallo Flora,

kein Aufschrei - das freut mich. Hatte ehrlich gesagt schon damit gerechnet, als ich sah, dass du einen Kommentar geschrieben hast. :-)

Die Distanz, die du erwähnst und die u. A. durch die einleitenden Zitate hergestellt wird, war mir sehr wichtig. Es sind ja keine Tatsachenberichte, sondern erfundene Geschichten innerhalb eines historischen Kontextes. Wobei das Erfinden mir besonders wichtig ist, da es um ein Einverleiben und Verarbeiten von historischen Tatsachen ging. Geschichtsberichte sind ja erst einmal etwas abstraktes (so wie auch Nachrichten, wenn es z.B. heißt, bei einem Anschlag wären dreißig Menschen zu Tode gekommen.) Natürlich hat man die Möglichkeit, um mal beim Beispiel des Holocausts zu bleiben, Berichte von Überlebenden zu lesen oder deren Romane. Dadurch geht das Abstrakte verloren, das Bild wird wesentlich schärfer. Die für mich als Schreiber nun reizvolle Frage ist die - und damit komme ich auf die Frage, die du indirekt gestellt hast, nämlich wie es kommt, dass jemand darüber und auf diese Art schreiben kann - auf welche Weise kann ich als "Unbeteiligter" meine Schrecken und mein Erschrecken über den Ausbruch von Unmenschlichkeit darstellen. Und da gibt es eben diese drei Begriffe: Distanz, Zuspitzung und Erfindung.
Deswegen auch in der ersten Geschichte das Gut-Böse Schema. Gerade hier war mir das Modellhafte sehr wichtig.
Zum Thema thematische Klammer und die Reihenfolge der Geschichten und ihren zeitlichen Aspekt werde ich in meiner Antwort auf Sethe noch genauer eingehen.
Was übrigens die Ratten angeht: Das ist etwas, dass ich nicht erfunden habe. Solche Arten jemand zu Tode zu bringen und damit die Feinde abzuschrecken gab (und ich befürchte gibt es auch heute noch) es wirklich.

Hallo Yorick,

erst einmal vielen Dank für deine Hinweise den Scharführer bzw. Obersturmbannführer betreffend. Habe ich nicht nur falsch geschrieben, sondern auch noch durcheinander gebracht. Ich werde das gleich verbessern.

Deine Analyse der ersten Geschichte ist sehr interessant. Das Thema Neid in Verbindung mit dem Judenhass der Deutschen hat ja erst kürzlich Götz Aly in seinem neuesten Buch behandelt. Jedenfalls gibst du eine nachvollziehbare Erklärung für das Handeln von Griebe. So komplex hatte ich es nicht im Sinn, aber das macht nichts. Es spricht ja nicht gegen einen Text, wenn er wesentlich mehr enthält, als sein Autor meinte hineingetan zu haben.
Entscheidend für mich waren die Widersinnigkeit und das Perfide der Versuchsanordnung. Das vorprogrammierte Scheitern. Es ist ein passendes Bild für die Unmenschlichkeit, mit der die Deutschen damals die Juden behandelt haben, nicht nur in den KZ sondern auch in den vielen Vorschriften und auch in den Organisationsstrukturen, die z.B. in den Ghettos etabliert wurden.
Die zweite Geschichte ist bewusst völlig anders gehalten. Im Aufbau, in der Sprache. Das Modellhafte und Symbolische fehlt hier fast. Ist bei der ersten Geschichte von vornherein ein unauflöslicher Konflikt beschrieben, so ist bei der zweiten gerade die doch scheinbar leichte Lösbarkeit des Problems entscheidend. Hat man in Griebe jemanden der überhaupt nicht Willens ist einen guten Ausgang zu finden, sind mit Efim und Zati zwei Personen beschrieben, die eben diesen Willen haben. Aber dennoch scheitern sie am Ende - was dann doch wieder zum Modell oder Symbol wird.

Hallo Herby,

ja, diesen Bogen kann man durchaus schlagen. Und ist damit auch eingebettet, in die Themen, die mich beim Schreiben immer wieder beschäftigen.

Hallo Sethe,

ich glaube schon, dass es dir geglückt ist, auszudrücken, was dich stört. Zumindest meine ich, dich sehr gut verstanden zu haben.
Zunächst nochmals zur thematischen Klammer: Ich habe mich wahrscheinlich nicht gut ausgedrückt, wenn ich diese Klammer auf den Aspekt Juden als Opfer/Juden als Täter reduzierte. Sie ist für mich viel weiter gesteckt. Deswegen habe ich auch Anführungszeichen verwendet. In der zweiten Geschichte empfinde ich die Juden nicht als Täter, so wie man Griebe als Täter empfindet. Besser wäre es zu sagen, sie sind hier aktiv Handelnde, denen in ihrem Handeln eine Wahlmöglichkeit offensteht, wohingegen Scheenspill überhaupt keine Wahl hat - außer letztlich das zu verdammen, was er eigentlich liebt.
Die thematische Klammer ist also einmal ein zeitlicher und auch politischer Kontext. Es ist zwar richtig, dass die Judenverfolgung der Nazis herausstechend ist und den größten Bekanntheitsgrad hat, aber ich setze bei dem Leser, der sich für meine Geschichten interessiert, Wissen darüber voraus, dass Judenprogrome nicht erst von Hitler erfunden wurden und dass diese durch die Jahrhunderte immer wieder aufflackernde Intoleranz und Gewalt gegen Juden schließlich dazu geführt hat, die Idee eines eigenen Staates für die Juden nicht nur zu ersehnen, sondern ihn tatsächlich auch zu schaffen.
Der Text will keine Erklärungen für etwas geben, sondern Abbild sein einer tiefen Verstörung über die Abgründe menschlichen Tuns. Natürlich hätte man auch andere, vielleicht nicht so heikle Themen wählen können. Aber warum? Nur wegen der Gefahr missverstanden zu werden? Damit muss man glaube ich immer leben, wenn man sich in Bereiche vorwagt, wo sich die Geister schnell und auch manchmal heftig scheiden.
Neben der Tatsache, dass mich das, was in Deutschland in den Jahren 33 -45 passierte und welche Schrecken und Bosheit von ihnen in dieser Zeit ausging, immer wieder umtreibt und ich Formen suche, dies auszudrücken und auch immer mit der Angst lebe, all das könnte irgendwann in Vergessenheit geraten, schien mir diese Thematik auch passend hinsichtlich dessen, was ich Yorick am Ende meiner Antwort zu der Frage schrieb, warum beide Geschichten so unterschiedlich sind.

Das letzte was ich wollte, war irgendwelche Verbrechen gegeneinander aufzurechnen. Es war zwar eine intuitive Entscheidung, die zeitlich frühere Geschichte ans Ende zu setzen, aber gerade in dieser Hinsicht war es die richtige. Denn wollte man das, was in Palästina im Zuge der Besiedelung durch die Juden alles geschah (von beiden Seiten wohl gemerkt. Es ist zu beachten, dass Efim und Zati am Ende von den Arabern auf so grausamer Weise getötet werden) nur im Zusammenhang mit der Verfolgung und Vernichtung der Nazis sehen, wäre auch dies eine Relativierung bzw. eine unzulässige Verallgemeinerung.

Meiner Meinung nach taugt der Text durch seine Anlage und seinen Aufbau nicht für Aufrechnungen. Er kommt nicht mit Gründen für das Handeln der jeweiligen Personen daher, sondern die Personen agieren in einem Umfeld, das zwar historisch ist, aber dennoch durch den Erzähler gesetzt, bzw. "erfunden", wodurch sie zu einem Modell werden. Die Geschichten können und sollen keine Erklärung dafür liefern, was tatsächlich passiert. Sie sind für mich Echos dieser Ereignisse, ein Klang der in mir entsteht, wenn ich mich mit den historischen Tatsachen beschäftige und den ich irgendwie Ausdruck zu verleihen gesucht habe.

Zu den Haaren noch: Auch ich gehe davon aus, dass Scheenspill weiß, dass seine Tochter nicht mehr lebt.


Ich danke euch allen für eure ausführliche Beschäftigung mit dem Text. Sollte ich irgendetwas übersehen haben, biite ich um Entschuldigung. Aber dann könnt ihr ja gerne nochmals nachfragen.

Gruß

Sam


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