Versuch zur Einleitung einer Novelle im alten Stil

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WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 14.11.2011, 14:18

Studie zu einer Novelle im alten Stil

„Zu den wunderlichsten Handlungsweisen gehört es, wenn Menschen zu einem späten Zeitpunkt eine Lebenserfahrung nachzuholen suchen, ohne sich der Widrigkeiten ihres Alters bewusst zu sein“, sagte Tymegade und gab dem leicht dahinfließenden Gespräch eine ernste Wendung.
„Sie denken bestimmt an die reiche Lady Craze“, bemerkte Isi, „die alles daran setzte, einmal in ihrem Leben die ,Königin der Nacht' aus Mozarts Zauberflöte zu singen, obwohl sie auch nicht die Bohne von Musik verstand. Da sie Geld wie Sand hatte, erfüllte sie sich ihren Wunsch und verschleuderte einen Teil iheres Vermögens. Schließlich brachte sie alles zusammen, was zu einer solchen Aufführung gehört: das beste Symphonieorchester Nordamerikas, die Stars des Opernchors, Publicitiy – Rundfunk, Fernsehen, was Sie wollen. Für ein volles Haus brauchte sie danach nicht mehr zu sorgen, denn der Geruch von Skandal, der sich an sie geheftet hatte, lockte die verschiedensten Leute herbei, so dass schließlich ein Teil der Ausgaben wieder eingespielt werden konnte.“
„Und das Ergebnis?“ warf ein junger Mann ein, der auch eingeladen war und nichts anderes im Sinn hatte, als die Aufmerksamkeit der spottlustigen Erzählerin durch seine Frage auf sich zu lenken.
„Mehr als erbarmungswürdig! Stellen Sie sich ein bunt gefiedertes Papageienweibchen vor, das sich vor den Augen der Menge in eine Novemberkrähe statt in eine Nachtigall verwandelt. Dazwischen räusperte sie sich unaufhörlich und schlug sich mit den Fingern an den Kehlkopf, intonierte einige heisere "Mimimimis", und zuletzt winkte sie dem Orchester, bis sie weitersingen konnte – die reinste Parodie. Und wie immer bei solchen unvergnüglichen Ereignissen folgten die unterschiedlichsten Reaktionen unter den Zuhörern: Einige prusteten vor Gelächter und setzten eine Kette von Lachsalven in Bewegung, andere wurden fuchsteufelswild und rächten sich durch Pfiffe an dem Sakrileg eines geschändeten Kunstgenusses. Am fürchterlichsten führten sich jedoch die Leute in den obersten Rängen auf, die ihr Geld zurückforderten, weil die ,Königin der Nacht' sich so völlig anders anhörte, als sie es von ihrer CD her kannten. Die Kritiker aber seufzten behaglich, denn sie freuten sich schon auf den letzten Satz: „Für Geld lässt sich vieles, aber eben nicht alles kaufen.“

Mehrere Personen lächelten - wohl mehr aus Höflichkeit, als dass sie die Geschichte komisch gefunden hätten, denn sie war tagelang durch die Medien gezerrt worden.
Tymegade hatte - halb amüsiert, halb gelangweilt - Isis Redefluss über sich ergehen lassen. Jetzt schüttelte er den Kopf: „Ich habe vorhin an etwas ganz anderes gedacht, etwas Ernsteres.“
„Noch ernster? Als ob es nichts Ernsteres gäbe als eine verpatzte Arie.“
„Ihre Geschichte, liebe Luise, ist einfach zu banal, als dass sie zu meiner Einleitung passte. Schließlich ging es Ihrer Lady Craze um nichts weniger als um ein bisschen Rampenlicht. Außerdem zahlte sich ihr Wahnwitz aus: Sie bewirkte einen kleinen Skandal, und damit rückte sie in das von ihr so begehrte illustre Licht von Verrücktheit, wie es sich Prominente erlauben dürfen. Aber was s i e wollte, ist eben doch nicht sehr erhebend. Der Fall, an den i c h denke, setzt hingegen ein gerüttelt Maß an Tragik voraus, besonders dadurch, dass der Held meiner Geschichte einen Wunsch verwirklichen will, der sich auf eine Erfahrung bezieht, die er schon einmal in einem früheren Stadium seines Lebens gemacht hat und die deshalb unwiederholbar bleiben muss.“
„Dann kann es sich wohl nur um eine Liebesgeschichte handeln“, meinte Herr Steffen, ein etwas korpulenter Angestellter, der sich gerne aus einem drehbaren Ständer bei HERTIE mit Lesestoff versorgte. „Ich kenne das doch doch .... Ein leicht ergrauter Herr hatte eine wunderschöne Episode mit einer jungen Dame verbracht, die er aus rätselhaften Gründen nicht heiraten durfte. So heiratete er eine andere, Kinder kamen und gingen, und schon war ein guter Teil seines Lebens vertan. Und da trifft er nun plötzlich auf einer Badereise ...“
„Badereise?“ unterbrach ihn der junge Mann. „Sie meinen wohl ,Kur’?“
„Nein, - Badereise“, - Doktor Steffen wirkte verärgert über die Unterbrechung.
„Also so etwas gibt es doch gar nicht mehr“, behauptete der junge Mann fest.
„ Hey, Doktor Steffen“, fiel Isi ein. „Sie erzählen doch wohl nicht ihre eigene Geschichte?“
„Nein. Es war nur die Geschichte, die ich zuletzt gelesen habe.“
Er stand wie ein begossener Pudel, als alle herausplatzten.
„Sagte ich doch“, nickte der junge Mann und blinzelte Isi zu, „das Ganze war schlechte Literatur."
„ Es hätte aber doch Ihre Geschichte sein können, Doktor Steffen“, neckte Isi, indem sie den jungen Mann überhörte. „Sonst hätten sie die Geschichte nicht so ... leidenschaftlich vorgetragen.“
Wieder erntete sie Gelächter.
„Gestehen Sie, dass Sie nichts dagegen unternommen hätten, die schöne Dame ein zweites Mal wiederzusehen?“
Steffen errötete leicht und wurde steif wie ein Schuljunge.
„Nein, lieber Herr ... “, nahm Tymegade den Faden auf, „es handelt sich auch um keine Liebesgeschichte. Zumindest nicht um eine ... dieser Art. Dem Stoff meiner Erzählung sind sie immerhin näher gekommen. Denn es dreht sich weniger um die Liebe zu einer Frau als um eine Leidenschaft. Und wie bei allen derartigen Erfahrungen geht es um Leben oder Tod.“
„Ach Gott, wie dramatisch“, meinte der junge Mann, der gerne den Zyniker herauskehrte. „Haben alle verehrten Anwesenden ihre Taschentücher dabei, damit wir schon im voraus weinen dürfen?“
„Ihnen“, entgegnete Tymegade, „würde auch kein Taschentuch mehr nützen. Sie wissen gar nicht, was weinen heißt.“
„Wenn ich nicht wüsste, dass sie schon immer ein entschiedener Pazifist waren, hätte ich gedacht, dass wir uns jetzt alle eine von diesen scheußlichen Kriegserlebnissen anhören müssten“, meinte Isi. „Aber wahrscheinlich kommt es viel besser.“
„Der Jugendwunsch Ihres Helden war wohl“, schaltete sich der junge Mann wieder ein, „wie Daniel in einem Harem voll Löwendamen eingesperrt zu werden und beim Besuch, sie zu bändigen, von allen auf einmal gefressen zu werden.“
„Ach lassen Sie doch diese perverse Erotik!“, entrüstete sich Frau Dagmar Hypepalon, Empfangsdame im Hotel ,Asgard', die auf Anstand hielt. "Sie sind ein dummer Junge, der sich wichtig machen will."
Der junge Mann verzog nicht einmal die Mundwinkel.
Tymegade aber, nach einigem Zwinkern der neugierigen Damen, die ungeduldig mit den Füßen scharrten oder mit den Armbändern klapperten, ließ ein deutliches „Also...“ vernehmen, das keinen Einspruch duldete.
„Jetzt erzählen Sie doch endlich“, forderte ihn Isi auf, „und verzeihen Sie mir, dass ich sie so lange von Ihrer Geschichte abgehalten habe.“
„Tymegade verneigte sich: „Im Gegenteil. Ich habe Ihnen zu danken. Nichts schafft so viel Distanz und Würze, wie der Humor. Nun aber hören Sie ...“

Er schenkte das Glas mit Rotwein voll und begann.
Zuletzt geändert von WladimirSyree am 18.11.2011, 13:02, insgesamt 8-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.11.2011, 16:25

Hallo Walter,

dieser Anfang macht neugierig! Ich, als Leser, möchte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Dieser Einstieg gefällt mir sehr gut. Nur zwei Meckerlis: Worte wie "kugelten sich" und "Weltkriegstories" passen hier nicht, da zu modern.
Ansonsten: mehr!

Saludos
Gabriella

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 15.11.2011, 12:59

Guten Tag,

die Einleitung habe ich mit Schmunzeln gelesen, so stellt sich der Durchschnittsbürger eine Gruppe ach so gebildeter und weltläufiger Zeitgenossen vor - die eigentlich das Gegenteil sind.

Und mich hat diese Einleitung neugierig gemacht auf die eigentliche Geschichte.

Liebe Grüße
Marlene

Sam

Beitragvon Sam » 15.11.2011, 17:01

Hallo Wladimir,

das Vorwort hättest du dir schenken können. Ein Autor weiß nie auf welche Leser sein Text trifft. Aber wenn sich diese mehrheitlich schon einer gewissen Kategorie zugewießen fühlen, dann machst du es ihnen schwer, sich dem Text unvoreingenommen zu widmen.

Dein Text macht Lust auf mehr, das steht fest. Aber einen Erzähler finde ich hier nicht. Es ist eine klassische Konversationsgeschichte, bei der der Erzähler sich auf Randbemerkungen beschränkt. Im Übrigen wird der Rest der Geschichte nicht von einem auktorialen Erzähler berichtet werden, sondern von jenem Tymegade (oder Timegade, je nach Schreibweise).

Erinnert mich von Aufbau an Conrads "Herz der Finsternis", das ja auch mit einem Gespräch von Matrosen auf einem Boot beginnt, dann aber einer von ihnen, Marlowe, anfängt seine Geschichte zu erzählen.

Und was modernes Erzählen angeht:
Nach Ansicht einiger befinden wir uns ja mittlerweile in der Postmoderne. Und da ist ja bekanntlich alles erlaubt ;-)

Gruß

Sam

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Eule
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Beitragvon Eule » 15.11.2011, 17:07

Mir gefällt der Text auch, hier nur ein paar kleine Fehler bzw. Verbesserungsvorschläge: 3 Zeilen unter "Papageienweibchen": "siedem", 2 Zeilen weiter eher "ergaben" statt "schlossen" ?

Absatz 3, Zeile 2: Tymegade oder Timegard (?), 8 Zeilen weiter "wie es" statt "wie sie" und "Der Jugendwunsch ihres Helden ... " statt "Ihr Jugendwunsch ihres ...".
Ein Klang zum Sprachspiel.

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 15.11.2011, 19:26

Lieber Nachtvogel,

vielen Dank für die mit Eulenblick erspähten und von mir übersehenen Stilfehler. Ich werde sie dankbar aufgreifen.

Grüße

Wladimir

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 15.11.2011, 19:42

Vielen Dank!
Interessant fand ich deine Ausführungen über den ,Erzähler am Rand' einer Konversationsgesellschaft. Ich dachte ein Erzähler erscheine auch dann bereits als ,auktorial', wenn er durch seine Erklärungen und Kommentare in der Redeführung versteckte Wertungen über die betreffenden Erzählfiguren einfließen lässt. Ab wann beginnt der Erzähler aukrorial zu werden - erst ab dem Zeitpunkt, ab dem er sich unmittelbar in belehrendem oder unterhaltendem Ton an den Leser wendet?
Und dann noch das Problem mit dem modernen Erzählen. Bei einer Lesung von Hans Joseph Ortheil fragte ich ihn, wie weit bestimmte Grundformen modernen Erzählens für die Ausdrucksweise eines Autors heute verbindlich seien (da ich empfand, dass Ortheil eher auf recht konventionelle Weise erzählt). Er antwortete, etwas ungehalten: Es komme doch wesentlich darauf an, dass man persönlich seinen eigenen Stil fände. Da wär ihm eine solche Frage eher gleichgültig. Er selbst ließe sich nie in seinen Stil hineinreden.
Andererseits kenne ich aus Kommentaren auch den Standpunkt: Wer nicht modern erzählt und bestimmten Grundregeln moderner Poetiken, z.B. der von Sol Stein, folge, solle lieber gleich einpacken.
Verstehe ich deinen Hinweis auf die ,Postmoderne' so, dass solche stilistischen Grundfragen beim Erzählen weitgehend zweitrangig sind bzw. sich nicht grundsätzlich beantworten lassen?

MfG

Wladimir

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 15.11.2011, 19:53

Hallo Gabrielle, hallo Marlene,

danke für die kritischen Hinweise zur Wortwahl.

Grüße

Walter

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.11.2011, 20:14

Hallo Walter,

na, die Hinweise auf die beiden in meinen Augen zu modernen Worte waren doch nur nebenbei bemerkt. Ich wollte dir vor allem sagen, dass dein Einstieg neugierig macht.
Wirst du denn an dieser Geschichte weiterschreiben bzw. hast du die Fortsetzung bereits im Kasten?

Saludos
Gabriella

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 16.11.2011, 10:45

Liebe Gabriella,

würde ich gerne - aber später. Ichhatte ,kritisch' im positiven Sinn gemeint. Deutlicher wäre vielleicht: ,hilfreich' - oder?

Grüße

Walter

carl
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Beitragvon carl » 17.11.2011, 07:56

Hallo Walter,

mir gefällt der Text auch sehr! Gabrielles Einwände kann ich nachvollziehen, aber das sind doch Kleinigkeiten.

LG, Carl


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