Kurztext November

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WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 19.11.2011, 18:36

Passion

Zuletzt war ich im Sommer auf der Presanella. Deren Felsmassiv befindet sich in jener Region, wo die Frontlinie des Ersten Weltkriegs zwischen Österreichern und Italienern verlief. ,Die weiße Hölle’ oder ,La Guerra Bianca’ wurde sie genannt, weil viele Soldaten sich dort oben verkrochen hatten und winters wie sommers im Gletscher ausharren mussten.

Als wir über das schwitzende Eis stiegen, entdeckten wir alte Telefondrähte aus dem Krieg, auch Patronenhülsen - die gab der apernde Gletscher frei. Und wenn man Pech hat, so erscheinen auch Kleider- und Knochenreste.

Zweitausend Meter Luftlinie südlich von hier, unterhalb des Adamello, verlief die italienische Front. In der Garibaldihütte hängen Schwarz – Weißfotos an den Wänden - schattenhafte Umrisse von Soldaten, die aus den Dörfern in die ungewisse Einöde steigen. Arbeiter des Mezzogiorno bauten aus Kieselbrocken Steige, über die Maultiere Material zur Versorgung der Soldaten trugen.

Ein Stein liegt links rum, der andere schaut wie ein spitzes Ei mitten aus dem Weg heraus. Ein dritter ist übermäßig tief in die Erde gerammt, so dass sich ein Lehmloch bildet – Folge einer Hast, mit der die Taglöhner fronten. Ich höre sie innerlich fluchen - und mehr noch die Lazaretthelfer, die auf den Kieseln ausrutschten, wenn sie bei Schnee und Regen verwundete Kameraden zu Tal schleppten.

Es muss eine Tortur gewesen sein, Tag für Tag, Woche für Woche diesen Teufelssteig bergauf, bergab zu keuchen. Noch heute wundern sich die Wanderer über den beschwerlichen Pfad. Knie und Rückenwirbel geben ein beredtes Zeugnis vom Schicksal derer, die diesen Weg durchlitten: Station um Station – manche bis Golgatha.

Weit unten der See, blau und flach wie ein Himmelsauge. Vier weiße Bäche stürzen hinab. Grüner Granit überm Uferdamm. Außer dem Schrei einer Dohle - kein Laut.

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Eule
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Beitragvon Eule » 20.11.2011, 13:01

Hallo Walter, der Text gefällt mir gut, er fängt Vieles von der bewegten Geschichte dieses Landschaftsraumes ein und verbindet dieses mit moderner Sprache und Gegenwart. Klasse !
Zuletzt geändert von Eule am 20.11.2011, 20:42, insgesamt 2-mal geändert.
Ein Klang zum Sprachspiel.

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 20.11.2011, 20:02

Hallo, Eule,

schön, dass dir der Text gefällt.

Vielen Dank

Walter

Gerda

Beitragvon Gerda » 20.11.2011, 21:56

Guten Abend, Walter,

das Prosastückchen gefällt mir sehr und zwar in zweierlei Hinsicht.
Zum einen die Beschreibung der Leiden, ohne auf die berühmten Tränendrüsen zu drücken, zum anderen anschaulich die eisige karge Landschaft, die ich mir sehr gut vorstellen kann, aber auch der brutale Schönheit der Natur.
Der Titel passt auch in seiner umfassenden Bedeutung, im Hinblick auf das Lied und die Leidenschaft der Bergsteiger.

Einzig dieser Satz scheint mir, so, wie er dasteht, noch nicht recht zu passen. Jedenfalls verstehe ich die Aussage nicht.
WladimirSyree hat geschrieben:Knie und Rückenwirbel geben ein beredtes Zeugnis vom Schicksal derer, die diesen Weg durchlitten: Station um Station – manche bis Golgatha.

Wenn Knie- und Rückenwirbel eine beredtes Zeugnis geben, wie habe ich mir das vorzustellen?
Weshalb bis Golgatha, du sprichst doch von der Gegenwart.

Liebe Grüße
Gerda

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 21.11.2011, 19:36

Liebe Gerda,

vielen Dank für deinen richtigen Einwand. Gemeint war nicht Golgatha als früheres Geschehnis, sondern als grausamer Ort, als Schädelberg. Ich dachte, nachdem zunächst die Spur des Passionswegs durch meine Beschreibung angelegt war (als Weg des Martyriums), müsste dieses stellvertretende Wort für den Ort der Hinrichtung azsreichend assoziativ verknüpfbar mit jenem Ort werden, an dem Menschen im tödlichen Kampf ihren Tod fanden: Golgatha als Todesberg. Dazu berechtigte mich auch der Bericht eines Weltkriegssoldaten, der davon schreibt, dass er und seine Kameraden sich vorkämen wie Sträflinge, die man zur Hinrichtung führe. Die Vaterlandsbegeisterung war ja bereits im zweiten Kriegsjahr völlig dahin, und viele junge Männer sahen in dem Irrsinn des gegenseitigen Tötens nur noch eine Art Todesurteil.
Das Wort "Golgatha" knüpft auch an an den ersten Textabschnitt an : Der Wanderer findet auf dem ersten Berg - der Presanella - im Eis Knochenreste. Hier wie drüben wurden die Menschen also ,gekreuzigt'. Eine zeitgenössische Karikatur - ich glaube von Lovis Corinth - zeigt Jesus mit einer Gasmaske ans Kreuz gefesselt , eine Art moderner Ecce Homo - auch an dieses Nild hatte ich gedacht.

Aber nun sage mir, ob dich diese Erklärung überzeugt, oder ob sie deinem Sprachgefühl nach wie vor nicht gerecht wird. Vielleicht hast du deine bessere Formulierung?

Vielen Dank und Grüße

Walter

Gerda

Beitragvon Gerda » 22.11.2011, 20:53

Lieber Walter,

so einfach ist es nicht. Es ist nicht nur das Sprachgefühl, oder geschmäcklerisch. ;-)
Was mir auffällt, dass ich den Zeitsprung nicht ohne Weiteres nachvolziehen kann, ja als störend empfinde und mich deshalb frage, wie andere Leser das sehen.
Du schreibst doch, dass die Rückenwirbel und Kniee heutiger Wanderer beredtes Zeugnis ablegen ... jedenfalls lese ich es so.
Das hört sich eher danach an, als ob du auf die Beschwerlichkeit des Pfades hinweisen möchtest und nicht darauf, dass früher Menschen zu Tode gekommen sind.
Ich empfinde diese Formulierung unglücklich, gerade auch weil Knie und Wirbelsäule nichts sprachlich ausdrücken können, sie schmerzen halt. M. A. n. können nur Menschen selbst ein beredtes Zeugnis ablegen.


In meinem Kopf geistert ein treffenderes von George Grosz herum, habe ein wenig gegooglet und das gefunden.
http://www.dober.de/jesus/20jhbsp.html
Das ist Ecce homo auch dabei.

Liebe Grüße
Gerda

WladimirSyree
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Beitragvon WladimirSyree » 26.11.2011, 23:05

Liebe Gerda,

jetzt weiß ich, was du meinst. Es ist mir gar nicht aufgefallen. Ich werde die Stelle noch einmal überdenken.

Zu Ecce homo: Ich hatte Grosz gemeint, aber Corinth auch gesehen und beide miteinander verwechselt. Vielen Dank für deinen Hinweis.

Mit Grüßen

Wladimir


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