Die Sonne von Altruistan

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 29.12.2011, 15:17

Liebe Salonler,
hier die erste Fassung meiner diesjährigen Weihnachtsgeschichte. Manche Stellen sind noch etwas übereilt und eine reifere Ausarbeitung kommt nach, sobald ich die Zeit dazu finde - aber für Kommentare, Kritik, Vorschläge etc. bin ich wie immer dankbar.
Liebe Grüße
Merlin

Die Sonne von Altruistan

Denken wir ihn uns einmal, jenen idealen Egoisten, jenen Hungernden nach Kampf und Macht, der seine Erfüllung in nicht weniger fände als der völligen Unterwerfung von allem, was ist, unter das, was er will. So fremd und widerlich er uns auch sein mag, denken wir ihn uns, und machen wir dabei nicht den Fehler, ihn sogleich wieder als Abstraktion, als bloßen Typus zu nehmen: Stellen wir diesen monströsen Charakter einmal greifbar, leibhaftig vor uns hin, passend als hochgewachsenen Mann von etwa dreißig Jahren. Führen wir uns den nach wohldurchdachtem Trainingsplan aufgebauten, muskulösen Leib vor Augen wie auch das Gesicht mit scharf geschnittener Adlernase und kantig unter den Wangen hervortretenden Kieferknochen. Achten wir auf seine Augen, die uns an einen Gletscher erinnern: ebenso hell, ebenso hart und ebenso kalt. Wählen wir auch seinen Namen mit Bedacht, nennen wir ihn, auf die Gefahr hin, plakativ zu werden, Kaiser: Borgosius Kaiser. Und wenn wir ihn dann haben, unseren Mann, mit seiner Stärke und dem Trieb, sie zu bewähren, seiner Verachtung fürs Gemeine und Gemeinschaftliche, seinem Drang zur Höhe: Kann es uns noch wundern, dass wir ihn zu Anfang – im Gebirge finden?
Er steigt. Zielsicher greift er über sich, findet Halt, setzt einen Fuß nach und drückt sich empor. Mit jedem Schritt, den er so aufwärts tut, triumphiert er: Trotz seiner vielen Kilometer Höhe ist der Berg ihm nicht gewachsen. Die Steilwand mag sich sträuben wie sie will, er wird sie nehmen, wie er will. Er beherrscht den Berg wie sonst niemand. Er allein.
Aber er ist nicht allein: Der mit ihm klettert, etwa 30 Meter unter ihm keuchend und fluchend Haken in den Fels schlägt und sich aufwärts wuchtet, trägt bis auf weniges das Gepäck für zwei auf seinem Rücken. Gönnen wir uns die kleine Malice und nennen ihn, ein wenig albern, aber sprechend: Reinhart Tumberdien. Zur Charakterisierung mag uns das genügen: Der Gute wird uns ohnehin nicht lang begleiten.
Borgosius dagegen kämpft nicht, er siegt. Er hat es nicht nötig, erst zu erobern, der Berg gehört ihm bereits, und dass er ihn erklettert,ist lediglich Vindikation, die legitime Inanspruchnahme des seinen. Als Mensch von Rang ist er zum Herrn der Welt bestimmt. Zuweilen wirft der Mensch von Rang seinem schnaufenden Gefolgsmann
einen geringschätzigen Blick zu. Sieht, wie er sich, bar jeder Souveränität und Eleganz durch den Fels wühlt.
Einige Stunden später erkennt er in diesem geschmacklosen Treiben bereits die ersten Andeutungen dessen, was er sogleich als Liste der Verfehlungen des Esels Tumberdien Revue passieren läßt: Wahrlich, dieser Narr trägt selbst die Schuld an seinem Schicksal. Den Druckabfall zu übersehen, der als Vorbote einer nahen Wetteränderung auf dem Meßgerät an seinem Arm, das im Blick zu behalten ihm ausdrücklich anbefohlen war, deutlich erkennbar gewesen sein muß; oder diesen Anzeichen zum Trotz in eine Steilwand einzusteigen, deren Nähe von unserem Standpunkt aus nur als ungeheuer festzustellen, doch konkret nicht zu schätzen war, eine Idiotie, die nur durch Übermut und seinen Hang zur Prahlerei erklärbar ist; an dieser auch beim Einsetzen des Schneefalls nicht etwaq auf die gangbarere Route seines Herrn auszuweichen, sondern sich mit großspurigen Kommentaren eine Kräfte zehrende Schlacht mit der Vertikalen zu lifern; endlich, beim viel zu späten Versuch, eine inzwischen schon vereiste Wand noch zu verlassen, abzurutschen und den Rucksack zu verlieren - den Rucksack, mit allem an Ausrüstung und Proviant darin! Dann, statt wieder hoch zu steigen und den Weg zur Seite fortzusetzen, sich wie ein Urwaldmensch am Seil herüber zu schwingen, dabei den Anker aus der Wand zu reißen und mit dem Glück des Dummen auf einem schmalen Vorsprung zu landen; dabei schließlich einen Schreckensschrei zu tun, der die frischen Massen Schnees wie ein Marschbefehl mobilisiert, sich vom Berg herab zu ergießen - und das, was vorher Halt gab, entweder abzureißen, oder zu verdecken. Solche Albernheiten gehören nicht ins Gebirge, sondern in die Komödie, und es sind, wie Borgosius im Stillen konstatiert, ersichtlich Taten eines Mannes, der zur Freiheit und zum Leben wenig taugt - jedenfalls zum eigenen.

So sehen wir die beiden also wieder, auf einem schmalen Vorsprung dem Wind und der Kälte schutzlos ausgeliefert, ohne Möglichkeit zum Abstieg, ohne Proviant, ohne Hoffnung.
Tumberdien schläft. Kaiser nicht. Er schaut hinauf zu der kleinen Höhle, die Tumberdien in seiner Stumpfheit noch nicht gesehen hat und die vor Sturm, Schnee und Lawinen einigen Schutz verspricht. Verspräche. Wenn man nur irgendwie die Hände genug wärmen könnte, um an einen Aufstieg auch nur zu denken, und wenn man irgendwoher den Proviant bekäme, dort ein paar Tage abzuwarten. So sitzt er da, überlegt, erwägt die Möglichkeiten. Nach einer halben Stunde entblößt er ein Stück seines Halses, und legt die rechte Hand daran. Als er sie wieder bewegen kann, erhebt er sich, beugt sich über den schlafenden Begleiter und drückt ihm seinen Daumen durch das linke Auge. Es ist für ihn das erste Mal, er ist überrascht vom reibungslosen Funktionieren dieser Technik, und er verspürt Anerkennung für den nun toten Leibwächter, der sie ihm beigebracht hat.
Die Restwärme des Mannes genügt, auch die andere Hand ausreichend aufzuwärmen. Im Hosenbein des Toten versteckt findet er, wie erwartet, ein Wurfmesser. Das Schneiden nun gestaltet sich als etwas schwierig. Das Messer ist für Metzgertätigkeiten offenkundig nicht gemacht. Gleichwohl gelingt es ihm, ein paar nahrhaft aussehende Stücke herauszuschneiden, dann reißt er einen Fetzen aus der Kleidung des Toten und wickelt das Fleisch hinein. Noch einmal wärmt er sich Hände und Gesicht an dem Erkaltenden. Dann klettert er los und erreicht wenig später unter großen Mühen die Höhle.

Sie ist tiefer, als er angenommen hat. Was er findet, ist keine bloße Aushöhlung, sondern ein regelrechter Gang, der unabsehbar weit ins dunkle Innere des Berges hinein führt. Warme Luft strömt ihm von dort entgegen, also geht er hinein.
Der weitere Gang der Ereignisse, denen ich unseren Mann auszusetzen gedenken, erfordert es nun, dass ihm alsbald der Rückweg abgeschnitten wird. Zweifellos haben Sie dergleichen schon oft genug gelesen und werden es mir mit einem Schmunzeln vergelten, wenn ich den Stollen ohne weiteres nach zwanzig Schritten mit dramatischem Grollen in sich zusammenstürzen lasse.
Wohlan! Der Kaiser ist gefangen, und so folgt er dem einzigen Weg, tiefer in den Berg hinein. In vollkommener Finsternis tastet er sich vorwärts, ohne Sinn für Richtung, Raum und Zeit. Hofft inständig, nicht im Kreis zu laufen und sieht diese Hoffnung durch den Eindruck bestätigt, dass es beinahe immer abwärts geht. Stille umfängt ihn. Nirgends ist ein Geräusch außer von ihm. Zuweilen rastet er, dann setzt er sich, schüttelt die Beine aus,
tastet nach dem durchtränkten Stoffbeutel an seinem Gürtel und nimmt einen Bissen. Einmal schläft er sogar ein und kann, als er erwacht, nur raten, er habe in Gehrichtung geschlafen, mit den Füßen zum noch unbekannten Teil gewandt. Je weiter er geht, desto wärmer wird es.
Dann nimmt er eine Biegung und glaubt plötzlich seinen Augen nicht zu trauen: Sieht hin. Und wieder hin. Zieht tief Luft durch die Nase ein, doch sie ist klar und frisch, weder unterirdische Gase noch noch der beginnende Erstickungstod können das Bild erklären, das er nun allmählich als wahr anzunehmen beginnt: Das eine Waldes in der Dämmerung, mit üppig belaubten Eichen am Rande einer kleinen Lichtung, auf der einige Rehe äsen. Als er nach oben schaut, sieht er keinen Himmel, nur,in diffusem Licht, die Ahnung von Fels unvorstellbar weit über ihm. Da er sich einstweilen um wichtigeres, nämlich sich selbst, zu kümmern hat, erkennt er für den Moment an, dass der Wald unter der Erde liegen muss.
Die Rehe heben kaum den Kopf, als er die Lichtung überquert. Er schließt, dass sie den Menschen entweder zu gut oder gar nicht, zumindest nicht als Jäger kennen. Dann geht er einige Schritte in den Wald hinein. Und lauscht. Aus dem Waldesinneren trägt der Wind einen Klageruf zu ihm herüber.
In der Hoffnung auf eine leichte Art, seinen ebenso mageren wie makabren Vorrat aufzustocken, folgt er dem Ruf. Alsbald sieht er sich dem absonderlichsten und unsinnigsten Geschöpf gegenüber, das je seinen Weg gekreuzt hat. Er denkt zugleich an einen Hamster, einen Dackel und eine Katze. Vor ihm liegt eine knapp kniehohe, pelzige Kugel. Sie trägt ein schwarz-weißes Fleckenmuster, das an die Zeichnung einer Kuh erinnert, und schlägt mit einem viel zu kurzen Schweif nach einem Schwarm von Insekten, die seine unnatürlich großen, runden Augen umschwärmen. Ansonsten ist das Wesen gliedlos. Die Insekten bereiten ihm offenkundig Ungemach, immer wieder versucht es, mit linkischen Rucken fort zu rollen, mit dem Erfolg, dass jene Fliegen, die sich zeitweise auf seinem Fell niedergelassen haben, aufgescheucht und wieder auf die Augen hingewiesen werden.
Das Wesen winselt. Wie, ist unklar, denn eine Mundöffnung ist zumindest auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Doch irgendwie geht es. Lautstark fiept und jammert es. Es kennt ein erstaunlich differenziertes Spektrum an Schmerzlauten, die denen von kleinen Kindern oder Hundewelpen ähneln. Dennoch findet er weder offenbare Zeichen der Krankheit noch der Unreife an ihm. Die Kreatur scheint in all ihrer Erbärmlichkeit doch fertig, abgeschlossen, ein Rätsel der Natur wohl für einen Forscher, doch Kaiser ist kein Forscher, sondern hungrig. Also zieht er das Messer aus der Tasche und bewegt sich auf das Wesen zu.
"Tschub!" bellt es hinter einem nahen Baum, als er noch einen Schritt von der Kugel entfernt ist. Plötzlich steht da ein Mann, der auf ihn zeigt.
Der Kaiser reagiert schnell. Er versetzt der Kugel einen Tritt, die sie schwungvoll auf den Mann zufliegen läßt, und wendet sich im selben Augenblick zur Flucht. Hinter sich hört er noch einen dumpfen Aufschlag und ein Jaulen.
Gleich darauf springt ein halbes Dutzend maskierter Gestalten aus den Büschen, einer entreißt ihm das Messer, ehe er weiß, wie ihm geschieht, die anderen drücken ihn auf den Boden und beginnen, seine Taschen auszuleeren.
Unser Mann versucht keine weitere Gegenwehr. Sie sind mehr als er, stärker als er. Sie sind mächtiger, also nehmen sie von ihm. So ist die Welt. Falsch ist an diesem Moment nur die Verteilung der Rollen, und er nimmt sich vor, seine Angreifer das, sobald es sich machen läßt, auch spüren zu lassen. Einstweilen aber schaut er dem ins Gesicht, der sich gerade über ihn beugt. Es ist der, der den anderen zu befehlen scheint. Er sieht in eine Augen, findet sich darin aber nicht wieder. Da ist keine Raubleidenschaft in diesem Blick, keine Lust am Unterwerfen, eher eine verborgene Note von Schmerz und Widerwillen.
Enttäuscht stellt er fest, dass er den Falschen angesehen hat: Denn dieser hier ist offenbar ein Schwächling.
Irgendwelche widrigen Umstände mögen ihn in diese ihm ganz fremde Bahn getrieben haben, und wenn er auch eine Räuberbande
kommandiert, so ist er doch kein Räuber und wird nie einer sein. Der Kaiser wendet seinen Blick, will sich einen anderen suchen, um sich mit ihm zu messen, doch da haben sie ihm schon alles vom Leib gerissen, was er bei sich trägt, und sind im Wald verschwunden. Auch das Wimmerwesen liegt nicht mehr an seinem Platz, sie haben es wohl mit sich fortgenommen.
Nur kurze Zeit bleibt er benommen liegen, dann stemmt er sich hoch und läuft. Läuft vor den Räubern fort, die inzwischen in den Beutel gesehen haben müssen und vielleicht erkannt haben, was darin ist. Läuft, um wilden Tieren nicht als leichte Beute aufzufallen, läuft gegen die Kälte an, die seinen nackten Leib beschleicht, läuft weiter und weiter und von überall gleich wieder fort.
Und mit Recht! Kälte und Tiere würden ihn tatsächlich töten, hörte er zu laufen auf. Und so mancher Leser sähe es jetzt vielleicht gerne, wenn ich ihn in seinem Lauf erlahmen, niedersinken, und, wie er es verdient, qualvoll verrecken ließe. Das wäre gerecht. Aber so kommt es nicht. Geschichten werden nicht geschrieben, weil sie gerecht sind. Zumindest diese nicht.
Und so ist es reine Effekthascherei, wenn wir ihn am Ende eines langen, verzweifelten Laufes entkräftet auf einer kleinen Wiese zusammenbrechen lassen, auf deren anderer Seite man das rettende Haus schon sehen kann.

Als er erwacht, sind seine Lider so schwer, dass er sich entschließt, die Augen vorerst nicht zu öffnen. Es ist warm, und er liegt sehr bequem unter etwas, was sich wie eine Daunendecke anfühlt. Ein Geruch von würzigem Tee liegt in der Luft. Erst als er Schritte und Stimmen hört, schlägt er die Augen einen Spalt weit auf. Er liegt in einem hellen, hölzeren Raum. Außer ihm, seinem Bett und einem Fenster finden sich darin noch einen kleiner Nachttisch und ein Ofen enthält, der wohlige Wärme verbreitet. Eine Tür gibt es nicht, nur eine Art Vorhang, der wohl diesen Raum vom nächsten trennt. Da wird er auch schon beiseite geschoben und eine Frau tritt herein, der ein gesunders, aber arbeitsreiches Leben das Gesicht in freundliche Falten gelegt hat. Ihr nach folgt ein gleichgesichtiger Mann, der ein Tablett mit Tee neben dem Bett abstellt. Beiden eignet etwas einfaches, bodenständiges, und noch der Kaiser beschließt im selben Moment, sie Bauer und Bäurin zu nennen.
Die Bäurin schüttelt ihm Decke und Kissen auf, während der Bauer die Tasse vom Tablett nimmt und zu Borgosius Mund führt. Erst da bemerkt er, dass dessen Augen offen sind, tritt zurück und fragt etwas in einer Sprache, die unser Mann noch nie gehört hat. Als sie das Unverständnis in seinem Blick bemerken, schauen die beiden noch ein wenig freundlicher.
Mild. Gönnerisch. Sorgenvoll. Augenscheinlich ist er in der Obhut guter Menschen. Der Kaiser schätzt diesen Schlag nicht. Er ist selbst Mensch und weiß, dass einer einem anderen nur Gutes tut, wo er sich schließlich mehr von ihm zurück erwartet.
Nun, die beiden werden ihren Preis schon nennen. Einstweilen ist er nicht in der Position für Verhandlungen. Er trinkt aus der Tasse, die der Alte ihm reicht, und sogleich legt sich wieder eine Müdigkeit auf ihn, die ihm irgendwie willkommen ist. Er konnte sich ohnehin kaum rühren. Es geht ihm schlecht.
Wie schlecht, bemerkt er erst allmählich, als er viele Tage später noch immer kraftlos im Bett liegt, von seinen Rettern mit niemals nachlassender Hingabe umsorgt. Die Versuche, mit ihm zu sprechen, haben sie eingestellt, vermutlich halten sie ihn für taub oder stumm. Er beläßt sie ihn dem Glauben. Von ihren Unterhaltungen und gelegentlichen Selbstgesprächen hat er inzwischen dies und jenes aufgeschnappt, was er zu verstehen glaubt. Die Sprache ähnelt dennoch keiner, die er je gehört hat.
Aber viel ist aus ihrem Gerede ohnehin nicht zu lernen, denn ihre Themen sind begrenzt: Meist liefern sie sich groteske Zänkereien, in denen sie versuchen, einander Arbeit abzunehmen oder Ruhe zu verordnen. Solchen Unsinn hört er sich an, und liegt im Bett, tagein, tagaus, bis ihn eines Abends eine frühe Müdigkeit übermannt, so dass er einschläft, ohne zuvor die bereitgestellt Medizin zu trinken.
Einige Stunden später erwacht er. Er fühlt sich frisch, sogar in der Lage, aufzustehen, obwohl die Beine kurz fast unter ihm nachzugeben drohen. Draußen ist es noch dunkel, und er beschließt, die wiedergewonnen Kräfte auf einen kurzen Spaziergang in der kühlen Luft zu verwenden. Also tritt er vor der aus, wo alsbald merkwürdige Geräusche aus einem stallähnlichen Anbau seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er geht hinein, und findet in der Tat eine Art Stall, der geräumige hölzerne Verschlag ist mit frischem Stroh ausgelegt, hier und da befinden sich kleine Wasserbecken.
Die Wesen aber, die er hier sieht, gehören sicher nicht in einen Stall. Eigentlich gehören sie nirgendwo hin, selbst als Fantasiegebilde sind sie reichlich geschmacklos. Nur mit Mühe erkennt er in den bizarren Formen gliedlose Spottbilder von Pferden, Kühen, Schweinen und Hunden, alle von der Gestalt pelziger Säcke. Ihre Beine sind nutzlos herabbaumelnde Anhängsel, kaum länger als ein Finger, bei den meisten fehlen sie völlig. Sie alle haben die gleichen großen, unnatürlich runden Augen, und alle jammern mit einer Stimme, die noch entfernt an das Wesen erinnert, das vor undenklicher Zeit ihr Vorfahr gewesen sein muß.
Schritte! Instinktiv versteckt sich der Kaiser hinter einem Ballen Stroh. Er beobachtet, wie der Bauer die Scheune betritt und beginnt, die Wesen zu versorgen. Er läßt sich viel Zeit, findet für jedes der Geschöpfe eine Streichelei und ein paar gute Worte. Schneidet ihnen das Futter in kleine Happen, reicht sie ihnen einen nach dem anderen und wartet geduldig, bis jeder in dem winzigen Maul verschwunden ist.
Die Sorgfalt, mit der er zu Werke geht, läßt Borgosius vermuten, dass ihm an den Tieren sehr gelegen sein muss. Doch warum? Wozu braucht er sie? Milche geben sie offenbar keine, und die Idee, sie als Arbeitstiere zu verwenden, ist absurd. Als Schlachtvieh? Aber in der Zeit hier hat er nie Fleisch zu essen bekommen, noch gerochen, dass welches zubereitet wurde.
Erst als der Bauer sich einem struppigen, grauen Ding zuwendet, das, seine Augen verraten es trotz ihrer Entstellung, von Wölfen abstammen muss, versteht er: Dass diese Wesen keinem anderen Zweck dienen als dem, umsorgt zu werden.
Und er versteht nun auch, warum er selbst hier ist, warum die Bäurin so darauf achtet, dass er seine Medizin nimmt, warum er sich danach immer so müde fühlt und mit der Zeit nicht gesünder, sondern immer kränker, schwächer, abhängiger wird.
Kaum ist der Bauer aus dem Stall heraus, da ist der Kaiser ihm schon nachgeschlüpft und macht sich davon.

Er läuft. Soweit es seine Kräfte zulassen, was heißt: Er schleicht, humpelt, strauchelt, taumelt
von einem Baum zum nächsten, in eine Richtung, von der er hofft, dass es nicht dieselbe ist, aus der er kam. Erst nach und nach erinnern seine Beine sich der alten Kraft. Er kann nun gehen, doch er geht nicht schnell genug. Wie spät es ist, kann er nicht sagen; es wechseln zwar die Helligkeiten auch hier unten, doch in welchem Rhythmus, kann er nicht sagen, und dass Sonne hier herunter dringt, ist schlechthin auszuschließen.
Noch ist es recht dunkel, wenn sie ihn weckten, war es viel heller, also sind seine Aussichten gut, einen achtbaren Vorsprung zu gewinnen, wenn nicht vorzeitig jemand auf die Spuren stößt, die er gut sichtbar in der weichen Erde hinterläßt.
Nach einer Stunde etwa beginnt der Kampf: Er wird müde, zwingt sich weiter, die Müdigkeit beharrt auf ihrem Recht, er auf dem seinen. Doch inzwischen ist es hell geworden und er weiß, dass sein Verschwinden längst bemerkt sein muss, dass sie ihm, wenn er die Zeichen nicht mißdeutet hat, schon auf den Fersen sind. Es ist nicht leicht, zu fliehen. Er ist nicht nur müde: Etwas von ihm will zurück, will liegen und ruhen und gefüttert werden, für immer. Es ist etwas Fremdes, Schwaches an ihm, das ihn Schaudern läßt, als er es bemerkt. Aber noch ist er stark, selbst aus dem Schaudern schöpft er neue Kraft, und so geht er weiter, bis er schließlich in einen hypnothischen Trott verfällt.
Weiter, weiter, weiter geht eine Trommel in seinem Kopf, und mit ihrem Takt marschiert er, gedanken- und willenlos, ein gleichförmig beschleunigter Körper auf seiner Bahn. Er versinkt in den Takt seines Schrittes, ist erfüllt davon, geht darin auf, das ist kein Wald mehr und keine Gefahr, es gibt nur den Schlag und den Tritt.
Nur diese.
Und dann auf einmal: Stimmen.

Er versteht nur Fragmente von dem, was da gerufen wird, doch die Stimmen erkennt er sofort. "Da... schnell... wieder..."
Ein Blick zurück zeigt Bauer und Bäuerin, keine dreihundert Meter entfernt, sie zeigen auf ihn, sie kommen auf ihn zu.
"Warte... Halt... krank..." Er taumelt zurück, stolpert, kriecht rückwärts, während er sich hochrappelt.
"zurück... Ruhe... Gefahr..."
Seine Beine Schmerzen, sein Puls rast. Sie sollen ihn nicht kriegen. Nicht freiwillig. Nicht durch seine Schwäche.
Er fährt herum, rennt und prallt sofort gegen einen gewaltigen Baum, nein, das ist kein Baum, das ist ein Stein, ein glatter, großer, grauer Granitquader.
"Halt... Zu uns... Warte..."
Benommen hält er sich die Stirn, zugleich tastet er mit der anderen Hand nach dem Rand des Monolithen und zieht sich darauf zu. Die Stimmen sind jetzt näher, aber auch lauter, schriller, fast verzweifelt.
"Nicht!... halt!... Ende... Nein... Nein... Nein!..."
Als er den seltsamen Block passiert hat, verstummen sie plötzlich.
Sie schauen ihm zwar noch nach, wagen sich aber nicht in die Nähe des Steines, und daran vorbei schon gar nicht.

Offenbar fürchten sie ihn, es scheint ihnen geradezu eine Qual zu bereiten, ihn auch nur anzusehen.
Was auch immer sie anficht - der Kaiser ist zufrieden. Er ist in Sicherheit. Einstweilen folgen sie ihm nicht mehr,
auch wird der Boden ein wenig glatter und fester. Bald schon hinterläßt er keine Spur mehr, der man folgen könnte.
Dann werden die regelmäßigen Steine zahlreicher, ihre Anordnung wirkt zunehmend absichtsvoll, und als er die ersten verfallenen Mauern sieht, bestätigt sich, was er seit einer Weile schon vermutet: Dass er in eine Ruinenstadt hinein gelaufen ist. Schlingpflanzen wuchern aus den leeren Fensterhöhlen, stämmige Bäume haben das Straßenpflaster aufgesprengt und werfen Schatten auf die Häuser, die seit mehreren Jahrhunderten keine menschlichen Bewohner mehr gesehen haben mögen. Während er so läuft, den Blick nach oben gerichtet, gibt plötzlich etwas mit einem knirschenden Geräusch unter seinem Fuß nach und schrammt schmerzhaft an seinem Bein entlang. Kurz erschrickt er, eine Falle befürchtend, beruhigt sich dann aber rasch wieder: Der ihn schrammte, wird ihm nicht gefährlich. Er ist in den Brustkorb eines Gerippes hinein getreten.
Nun, da sein Blick für derlei geschärft ist, erkennt er sie überall, mit Moos bewachsen im Gras und in den Büschen. Auf den Gassen, Straßen, Plätzen - überall liegen verkrümmte Skelette, die Beine wie ein Fötus zur Brust gezogen. Bei denen, die noch Arme haben, liegen die Hände am Schädel und bedecken die Stellen, wo sich einst Augen und Ohren befunden haben.
Irgend etwas muss sie auf schmerzvolle Weise getötet haben - vermutlich war es das, was Bauer und Bäuerin davon
abgehalten hat, ihn weiter zu verfolgen. Kein Grund zur Sorge: Was immer es gewesen sein mag, es ist augenscheinlich lange her. Vermutlich hält nur noch ein alter Aberglaube seine Verfolger fern.
Nach kurzer Suche findet er einige Früchte, die eßbar scheinen und ißt sich satt. Als es dunkel wird, legt er sich im Schutz einer der alten Mauern schlafen.
Mit der Helligkeit erhebt er sich und läuft weiter, ohne recht zu wissen, wohin. Er findet einen Fluß und beschließt, seinem Lauf zu folgen. Geheuer ist ihm die Ruinenstadt noch immer nicht, so ist er erleichtert, als er einige Stunden später ihre letzten Ausläufer hinter sich läßt.
Er rastet erneut, bricht aber bald wieder auf. Nicht lange danach lichtet sich der Wald, und als es dämmert, erblickt er in der Ferne schon versprengte Tupfer von Licht, erste Zeichen einer bewohnten Stadt.

Hier wird es Nahrung geben, einen Unterschlupf, vielleicht auch Hilfe - doch der Kaiser hat gelernt, der hiesigen Gastfreundschaft mit Vorsicht zu begegnen. Erst im Dunkeln schleicht er sich hinein, durch enge Gassen, von Kerzen- und Fackelschein spärlich beleuchtet.
Obwohl es ihm fern liegt, auf so etwas zu achten, kommt ihm die Stadt, je weiter er läuft, immer eigenartiger vor. Die Häuser sind wohl zahlreich, doch verstreut, fast alle stehen einzeln, es ist, als wichen sie einander aus. Anfangs findet er nur windschiefe Holzhütten, dann mischen sich vereinzelt einfache Steinhäuser hinein, hier und da in der Nachbarschaft hoher, reich ornamentierter Prunkbauten. Die Mehrzahl der Gebäude aber sind einfache hölzerne Verschläge, viele ähneln Ställen mehr als Häusern.
Dergleichen schnappt er im Vorbeigehen auf, während er etwas zu essen sucht. Schließlich wird er fündig: Durch ein Fenster erspäht er das Innere einer weitläufigen Lagerhalle, in der Brot, Obst und Gemüse lagern. Fleisch und Eier dagegen sucht er vergebens.
Das Fenster ist nur angelehnt, also steigt er vorsichtig ein, stopft erst sich, dann seine Taschen voll und findet am Ufer unter einer Brücke ein geeignetes Versteck. Es ist warm genug, also beschließt er, hier einstweilen Quartier zu nehmen.
Und so wartet und beobachtet er viele Tage lang, doch je länger er bleibt, desto weniger versteht er. Es gibt Geld hier, das bemerkt er rasch, flache Quadrate aus Gold oder Silber, doch ohne Prägung. Es gibt Händler und Handwerker und Wachen, eine Art Polizisten, die Schwerter umgegürtet haben.
So weit, so gut. Doch was er sonst zu sehen bekommt, läßt ihn vermuten, er sei im Tollhaus gelandet.
Eine alte Frau geht über die Brücke. Eine Schar Halbstarker versperrt ihr den Weg, hält sie fest, stopft ihr Gold- und Silberstücke in die Jackentaschen. Dann fliehen sie. Die Alte sieht in ihre Tasche und beginnt, zu schluchzen.
Eine Kreuzung ist eine gute Viertelstunde lang blockiert mit Kutschern, die anscheinend darum streiten, einander die Vorfahrt zu lassen. Die Wachen tauchen auf und befehlen einem, zu fahren. Als er sich weigert, ziehen sie ihre Schwerter und halten sie einander an den Hals! Der Kutscher lenkt ein und fährt, mit niedergeschlagener Miene und gesenktem Kopf.
Allenthalben tragen die Menschen klagende Fellkugeln mit sich herum wie jene, die er im Wald gesehen hat, oder schieben größere, wie jene aus dem Stall des Bauern auf hölzernen Karren vor sich her.
Die Abende riechen nach Wein, und er sieht lallende Menschen in schäbigen Lumpen tragen sich auch diese noch vom Leib reißen, um sie anderen, die in Samt und Seide gehen, als Geschenke anzubieten.

Wohl lernt er, ihre Sprache zu verstehen. Doch je länger bleibt, desto scheuer wird er. Diese Stadt ist offenbar von Wahnsinnigen bewohnt, und der Himmel weiß, wie sie reagieren würden, würde er sich zeigen. So bleibt er viele Tage lang in seinem Versteck. Nur im Dunkeln wagt er sich heraus, dann schleicht er sich zum Lager herüber, schiebt das Fenster auf, welches anscheinend nie verschlossen wird, und nimmt sich, was er braucht. Immer findet er es gut gefüllt, auch ändert sich zu seiner Freude mit der Zeit die Anordnung der Waren so, dass jenes, was ihm nützt, nah am Fenster liegt.
Ab und zu kommen bei seinen Einbrüchen auch Wachen nah an ihm vorbei, doch sie sind unachtsam, und ziehen weiter, ohne ihn zu bemerken.

Derart geht es lange, bis er endlich in einer ungewohnt finsteren Nacht den Schritt der Wachen hört, als er noch durch das Fenster steigt.
Da springt er, statt zu steigen, mit einem Satz herab, stößt innen mit dem Schienbein gegen eine Kiste, die da gestern noch nicht war, und ist vom Schmerz so überrascht, dass er aufschreit.
Gleich darauf erstarrt er, doch zu spät - diesen Schrei zu überhören, ist selbst für jene Wachen ganz unmöglich. Von der Gasse hört er alarmiertes Rufen, eilige Schritte, mehr und mehr, eine ganze Armee von Wachen scheint sich vor dem Haus zu sammeln. An Flucht ist nicht zu denken: Sein Schienbein würde ihm nicht mehr erlauben, als zu humpeln, und wohin denn auch? Die Halle ist inzwischen sicher längst umstellt.
Sie stürmen herein. Im Schein ihrer Fackeln erkennt er noch etwas auf ihrem Kopf, was wie Ohrenschützer aussieht, da ist er entdeckt und ergriffen. Jemand schiebt ihm einen Knebel in den Mund, ein anderer stülpt ihm einen Sack über den Kopf. Dann schleppen sie ihn fort.

Wie lange sie ihn schleppen, weiß er nicht. Irgendwann wird der Sack ihm vom Kopf gezogen, und er findet sich auf einem Marmorboden, zu Füßen eines bärtigen Mannes,
der ihn mit einem strengen Blick betrachtet.
"Was hat er getan?" fragt er die Wachen.
Und eine der Wachen tritt vor und entgegnet: "Er hat geschrien."
Der Bärtige schaudert zurück. "Vor Schmerz?"
Die Wache nickt.
"Wo?"
"Im Lagerhaus am Fluß. Er ist dort durchs Fenster eingestiegen, um zu stehlen. Wir haben ihn dabei schon viele Male gesehen."
"Ein Dieb, der schreit? Ein seltsamer Kauz."
Einen Moment herrscht Schweigen, und der Kaiser fühlt, wie alle Blicke auf ihm ruhen.
"Möglicherweise ist er nicht von hier." gibt eine Wache zu bedenken. "Seht doch auf seine Kleidung, sie ähnelt eher denen aus dem Wald."
"Nicht von hier..." Der Alte spricht es leise vor sich hin. Dann strafft sich seine Haltung wie unter einem elektrischen Schlag. "Bringt mir die Sieben!"
Die Wachen verneigen sich und verlassen den Raum. Der Kaiser und der Bärtige sind nun allein.
"Weißt du eigentlich, was du getan hast?" wird der Kaiser gefragt und kann nicht anders als verneinen.
"Du hast gestohlen - eine edle Tat. Sie ist dir hoch anzurechnen - nicht viele sind hier dazu in der Lage.
Die Gemüsehändler werden dir sehr dankbar sein. Aber bist du denn wahnsinnig geworden, vor Schmerz zu schreien, wo andere es hören? Hier, wo jeder seines Nächsten Leid am eigenen Leibe spürt, und stärker meist als dieser selbst? Denke dir nur, es hätte jemand anders als unsere braven Wachen dich gehört, tapfere Männer, die dem Mitgefühl eine Weile widerstehen. Denke dir ein Kind, das dort vorbei läuft und dich hört. Es wird sich nichts mehr zu beherrschen wissen, und selbst stöhnend vor Schmerz wird es zu Boden sinken und jammern. Andere werden es liegen sehen, auch sie werden vom Mitschmerz überwältigt, und nicht mehr nur von jenem mit dem Kinde und mit dir, auch einander sehen sie ja leiden und wälzen sich bald in wachsender Qual im Staub, aus vollen Lungen klagend, unüberhörbar für die nächsten Häuser, wenn sie auch auf Abstand stehen. So nimmt das Unheil seinen Lauf, bald windet sich die ganze Stadt in Schmerzen, einem solchen Ansturm sind selbst Wachen nicht gewachsen, und was sollten sie auch tun?
Ein Mitleidsbeben, eine Woge von nachgefühlter Pein rollt über alle Menschen in der Stadt und endet erst, wenn sie gestorben sind. Danach packt jeden, der die tote Stadt auch nur von Ferne sieht, ein Schaudern vor den Schrecken, die sie birgt, und niemand wird sie je wieder betreten, ehe sie ganz und gar zu Staub zerfallen ist. So hättest du mit deiner Tat uns alle töten können - doch das alles mußt du wissen, man lehrt es jedes Kind. Es sei denn..."
Da unterbricht er sich, denn die Wachen kehren zurück. Jene, die mit ihnen kommen, von ihnen mit ehrfurchtsvoller Scheu behandelt und vom Bärtigen mit einer tiefen Verneigung begrüßt werden, erkennt Borgosius sofort: Da ist der Schwächling, in dessen Augen er gesehen hat, und dieser dort hat ihm die Jacke abgenommen. Und auch das stinkende, von Fliegen umschwärmte Bündel erkennt er, das Räuber nun dem Alten überreicht.
Der Alte deutet auf Borgosius, und der Schwächling nickt.
Da wendet er sich an die Wachen. Mit feierlicher Stimme ruft er ihnen zu:
"Jener den ihr brachtet - er hat Menschenfleisch gegessen!" Die Wachen erstarren. Ein Raunen geht durch ihre Reihen.
"Das Zeichen ist geschehen. Geht hinaus und verkündet es. Tragt die Kunde in die Stadt und in jeden Winkel von Altruistan.
Unsere größte Hoffnung hat sich erfüllt." Noch einmal holt er tief Luft, ehe er aus vollen Lungen deklamiert:
"Es ist ein Nehmender gekommen."

Dann tritt der Alte auf den Kaiser zu, der auf dem Boden hockt.
"Erhebe dich, Erwählter." flüstert er. "Verzeihe uns, dass wir dich nicht sogleich erkannten."

Und dann erklärt er dem Verwirrten, was er bisher nur zu ahnen wagte: Dass in diesem Tal unter der Erde die Natur den Menschen das Wohl der Anderen zum höchsten Ziel gemacht hat, das von sich aus niemand etwas besseres weiß, als sich für einen anderen zu opfern. Dass strenge Gesetze erlassen werden mussten, um diesen Trieb im Zaum zu halten, weil ohne solche Fessel jeder sich im Krieg mit jedem fände, stets bestrebt, ihm seine Wohltaten und Gaben aufzudrängen. Wilde Menschen gibt es in den Wäldern, die fern von den Gesetzen leben, und wehe denen, die in ihre Hände fallen. Aber auch Edle gibt es, die durch lange Übung die Kunst erlernt haben, den Trieb zu beherrschen und zu nehmen. Die Heiligsten unter ihnen ziehen als Räuber durch die Lande, und man wird niemand finden, der sich nicht sehnt, von ihnen beraubt zu werden.
Doch auch sie rauben nur aus Güte, denn indem sie nehmen, erfüllen sie den Geberdurst des Opfers. So sind die Menschen dieses Tales ewig friedlos, denn sie wollen schenken und finden doch niemand, dem sie schenken können.
Er aber! Er, der es vermochte, jene höchste und heiligste Tat zu vollbringen, einen Menschen zu töten und zu essen! Er ist kein falscher, kein verstellter Nehmender, kein mühsam Beherrschter, er ist ein wahrer Nehmender - einer, der nimmt, ohne dadurch zu geben, einer, dem man man wahrhaft geben kann. Er ist der lang erwartete Erlöser, in dessen Hände er, der Regent des Landes, nun alle Macht gern übergebe.
Und damit sinkt der Alte auf die Knie. Die Wachen und die sieben Räuber folgen seinem Vorbild.

Der Kaiser ist zufrieden. Er sieht sich erhoben und verehrt. Das erste, was ihm in den Sinn kommt, ist, seiner Herrschaft ein Zeichen zu setzen und an den Heiligen Sieben ein Exempel zu statuieren, nun, da die Kräfte wieder der Weltordnung gemäß verteilt sind. Also schickt er Wachen und den Alten aus dem Raum - sie mögen ihm noch nützlich sein - greift er sich irgendwoher einen Knüppel und tritt auf den jüngsten von ihnen zu, einen hübschen blonden Knaben von Anfang 20, von dem er zurecht vermutet, dass die übrigen unter seiner Qual am meisten leiden werden. Mit ihm also wird er beginnen, um danach, je nach Laune, fortzufahren, oder zuzusehen, wie ihr Mitleid ihm die Arbeit abnimmt. Ja, sie in endloser Agonie hier einen nach dem anderen verrecken zu lassen, das gefällt ihm, je länger er es erwägt, immer besser.

Nun, der Leser mag den Wunsch verspüren, sich von den jetzt folgenden Ereignissen fernzuhalten. Ich kann ihm das nicht verübeln, und lade ihn an dieser Stelle ausdrücklich ein, die Lektüre abzubrechen. Denn es liegt ja in seiner Hand: Er hat den Lauf der Dinge bisher nach meiner Anweisung gehorsam vorgestellt und im Geiste nachvollzogen. Auch der, dem da gleich mit wuchtigen Schlägen ein Glied nach dem anderen zertrümmert wird, bis er als wimmernde breiige Masse am Boden liegt, ist ja des Leser Werk, genauso wie sein Schicksal des Leser Werk ist. Den, der ihm vorschwebt, hat er selbst zu verantworten, und darum steht es ihm frei, nun das Geleit des Geschriebenen zu verlassen, den Kaiser in einem Anflug von Mitgefühl zurückschaudern, besser aber an einem Herzanfall sterben zu lassen oder dem Jungen zumindest den Wunsch einzugeben, sich zur Wehr zu setzen.
Dies alles könnte er tun, und wenn Faulheit, eine überstarke Lesegewohnheit oder gar Blutgier und Voyeurismus ihn daran hindern - so ist es seine Wahl und seine Schuld, diese seine recht egoistischen Motive über das Leben des Jungen zu setzen.
Genug! Im nächsten Absatz wird der Tanz beginnen. Wer dann noch dabei ist, weiß, was er tut.

Noch da? Ganz offensichtlich. Ich bin erfreut. Warum? Das will ich Ihnen sagen. Denn nun, am Ende der Geschichte, mag es scheinen, als hätte unser Mann nun seinen Platz gefunden, wie die Bewohner dieser sonderbaren Unterwelt den ihrigen. Sie alle dienen nun ihm, in allem, was sie tun, und helfen sie einander, helfen sie des Kaisers Dienern und auf diese Weise letztlich ihm. Sie halten Feiern ab, in denen er - selbstverständlich nur symbolisch - von ihrem Fleisch ißt und finden Trost und Erfüllung darin. Man könnte meinen, dass sie nun alle glücklich bis an ihr Ende leben könnten. Aber genau hier liegt das Problem: Ein Kaiser will nicht enden.
Er will ewig herrschen, ewig sein, und er wird danach streben, das zu erhalten, was ihm an sich das Beste zu sein scheint: Seinen Willen.
Den er will er fortgesetzt sehen, und wenn nicht im eigenen Leib und Geist, dann zumindest im Gedanken und Gedächtnis anderer.
Und also wird er ein Abbild seines Wesens schaffen, und mit allerlei Verführungskunst und Schmeichelworten um Betrachter werben, Betrachter, von denen er freilich annehmen muss, dass sie seiner Natur feindlich sind und seiner Absicht, sie zu erhalten, mithin abgeneigt. Und also wird er sich wohl zu Beginn verleugnen, wird sich frei erfunden nennen, so tun, als sei das ganze folgende nur mehr eine Charakterstudie, wird vielleicht selbst das eine oder andere Schmähwort für sich und seine Taten finden. Dadurch wird er den Leser dahin bringen, seinem Weg zu folgen, mit ihm zu gehen, vielleicht sogar mit ihm zu fühlen. So führt er ihn zu jener Stelle hin, an der dann er, der Leser selbst, die Freiheit hat, fremdes gegen eigenes Wohl abzuwägen und des Kaiser Tat selbst durchzuführen oder zu verhindern.
Aber über diese Stelle sind Sie ja nun schon hinaus, das Spiel ist vorbei, der Kaiser hat gewonnen, und wenn er nun seine Absichten offen legt, so nur darum, weil sie Teil des Wesens sind, das er bewahren möchte. Diese Offenbarung kommt natürlich erst, wenn es zu spät ist. Der Leser weiß nun alles, was er wissen muss, hat ihn nun - hat mich nun in sich und wird mich nicht mehr los.
Gleich, wenn ich den Stift aus der Hand gelegt habe, werde ich diese Schrift viele Male kopieren lassen und versiegeln. Ich werde verfügen, sie nach meinem Tod dem Fluss zu übergeben, der doch schließlich einmal außerhalb der Berge münden muss.
Und dann werde ich mich auf meinen Thron setzen und herrschen.
Ich, Borgosius.
Kaiser und Gott.
Sinn des Lebens.
Die Sonne von Altruistan.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 30.12.2011, 14:49, insgesamt 2-mal geändert.

pjesma

Beitragvon pjesma » 29.12.2011, 18:24

eine feine geschichte. hab ich glatt auf dem bildschirm gelesen(soll dir zusätzliches kompliment sein ;-)
es hat mich hineingezogen und nicht los gelassen. der letzter drittel---viertel---? unterscheidet sich ein bisschen im tempo, ist etwas schneller (gelesen, geschehen, geschrieben?)...der anfang aber finde ich großartig,makelos...ganz toll hast du "allwissenden erzähler"eingeflochten...bravo :-)
dank für die spannende viertel stunde!
pj

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Beitragvon Mnemosyne » 29.12.2011, 22:28

Hallo Pjesma,
danke dir! Der letzte Teil ist tatsächlich in einiger Eile enstanden - Weihnachtsgeschichten haben eben die unangenehme Eigenschaft, zur Bescherung fertig sein zu müssen. Da mache ich mich beizeiten noch einmal dran.
Ansonsten freue ich mich, dir eine spannende viertelstunde bereitet zu haben :-).
Liebe Grüße und einen guten Rutsch
Merlin

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.12.2011, 14:01

Hallo Merlin,

da du in meinen Augen ein hervorragender Prosa-Schreiber bist, habe ich deine Geschichte natürlich sofort neugierig gelesen gestern und auch in einem Rutsch. ;-)
Aber etwas länger als eine Viertelstunde brauchte ich schon. Was hat mich aufgehalten? Kann ich dir sagen. Ich hab mich über den Kaiser geärgert. Dass er so davon kommt. Grrrrrrr.
Gekonnt geschrieben, wie immer, der Erzähler führt mich als Leser frech durch die Handlung und verführt mich auch, immer weiterzulesen, gerade, wenn er mich auffordert, das Lesen einzustellen (raffiniert!)
Ansonsten ca. 200 Tippfehler (auch wie immer *lach*).
Verrückte Geschichte, sehr kreativ und ein eben nicht vorhersehbarer Ausgang.
Ich bin mal gespannt auf die von dir angekündigte Überarbeitung.

Saludos
Gabriella

Sam

Beitragvon Sam » 31.12.2011, 09:59

Hallo Merlin,

tolle Geschichte! Wirklich gut, wie du den Erzähler hier einsetzt.

Feinschliff fehlt noch, klar. Was ich noch als nicht ganz zu Ende gedacht empfinde, ist die Frage der Sprache. Kaiser versteht eigentlich nichts, aber irgendwie doch.

Ist dieses, doch sehr erschreckende, Töten eines Menschen, um seine Hände in der Kälte aufzuwärmen deine Idee, oder gibt es dafür historische oder literarische Vorlagen?

Gruß

Sam

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annette
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Beitragvon annette » 31.12.2011, 11:38

Inhaltlich gefällt mir das sehr, erinnert mich an Lovecraft. Auch das Spiel mit einem scheinbar auktorialen Erzähler ist gut konstruiert. Der betuliche Ton des Erzählers ist für meinen Geschmack aber übertrieben. Auch wenn am Ende klar wird, warum man den Erzähler von Anfang an nicht leiden kann, wäre die Überraschung doch größer, wenn man sich als Leserin zu Beginn besser aufgehoben fühlte. Der joviale Duktus, der Komplizenschaft mit dem Lesenden heischt, ist mir etwas zu dicke. Ich glaube, die Geschichte funktionierte auch, wenn der Erzähler sich etwas mehr zurücknehmen würde.

insgesamt war ich auf jeden Fall gut unterhalten!
Gruß - annette

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 31.12.2011, 13:09

Hallo,
@Sam: es gibt bei Heinrich Mann in Heinrich IV den Bericht vom Französischen Edelmann, der sich winters bei Überland-Ritten Bauernmädchen fing, ihnen den Bauch aufschlitzte und sich darin die Füße wärmte, Henri lies ihn hängen und erntete großen Ärger, da ein Edelmann Anspruch auf eine anständigere Hinrichtungsart hatte ... Bei Mann ist davon auszugehen, dass die Story nicht von ihm erfunden ist, sie wird immer mal wieder zitiert.
@Merlin: ein bißchen erinnerte mich das an einen alten Kinderwitz (Masochist zum Sadist: Quäl mich! und Sadist - genüsslich: Neeiiin!) der hier zum Über-Kreuz-Denken des Christentums Anstoß zu geben scheint. Gegen Ende wurde mir die Frequenz der Salti zu hoch - ich hätte vermutlich mit einem Finale, in dem Kaiser als die ideale Wächterfigur in Altruistan seine symbiotische Erfüllung findet mehr Gefallen gefunden. Lesevergnügen war dennoch hoch.
Grüße
Franz

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 31.12.2011, 16:05

Liebe Gabriella! Deinen Ärger kann ich gut nachvollziehen - und beim Schreiben selbst erlebt. Umso gemeiner, dass dieser Widerling einen auch noch zum Komplizen machen will. Die nächste Fassung wird hoffentlich noch ihren ganz eigenen Reiz haben, denn außer einer Überarbeitung - die u.a. auch die allerdings zahlreichen Fehler beseitigen wird und das ganze stilistisch glätten wird - werde ich da noch einiges einfließen lassen, was bisher aus Zeitgründen außen vor bleiben mußte.

Hallo Sam! Ja, Ecken und Kanten sind sicher noch da, die abgeschliffen gehört. Kannst du mir aber zu deiner Bemerkung etwas genaueres sagen? Die Position des Erzählers ist ja letztlich die Kaisers, der in der Rückschau seine Erlebnisse beschreibt, also schreibt er bisweilen verständig über sein früheres Unverständnis. Gibt es da irgendwo Unstimmigkeiten?
Für die Tötungsszene gab es nur ein indirektes Vorbild: Eine ideale Verkörperung selbstloser Liebe ist die Figur des Christus, der seinen Leib zur Erlösung der Menschheit hingibt. Also habe ich für diesen Gegentypus das Bild umgedreht, um den Charakter des Protagonisten gleich zu Beginn so klar und krass wie möglich darzustellen.

Annette! Danke für deinen Kommentar. Tatsächlich habe ich im letzten Jahr erhebliche Mengen an Lovecraft-Hörbüchern gehört, aber ohne mir je bewußt ein Vorbild an ihm zu nehmen. Interessant, dass offenbar ein sichtbarer Einfluss geblieben ist :-).
Soweit ich mich in diesen etwas speziellen Erzähler hineindenken konnte, kam mir der Ton der Erzählung recht natürlich vor. Bei der Überarbeitung werde ich trotzdem gerne nach möglichen Übertreibungen Ausschau halten - der Stil schlägt mir, wie ich weiß, im Übermut bisweilen etwas über die Stränge und treibt dort seine Blüten. ;-)


Hallo Franz! Der Witz kam mir beim Ausdenken auch immer wieder mal in den Sinn. Letztlich waren der Anstoß aber einige Aphorismen (Nr. 143-147) aus Nietzsches "Morgenröte". Vor allem diese köstliche Lästerei (Nr. 147) hier ist ja im Grunde eine direkte Aufforderung:

"Möge ein Dichter einmal im Bilde einer Utopie die allgemeine Menschenliebe als vorhanden zeigen: gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu beschreiben haben, dessengleichen die Erde noch nicht sah, — Jedermann nicht von Einem Liebenden umschwärmt, belästigt und ersehnt, wie es jetzt vorkommt, sondern von Tausenden, ja von Jedermann, vermöge eines unbezwingbaren Triebes, den man dann ebenso beschimpfen und verfluchen wird, wie es die ältere Menschheit mit der Selbstsucht getan hat; und die Dichter jenes Zustandes, wenn man ihnen zum Dichten die Ruhe lässt, von Nichts träumend als von der seligen liebelosen Vergangenheit, der göttlichen Selbstsucht, der einstmals auf Erden noch möglichen Einsamkeit, Ungestörtheit, Unbeliebtheit, Gehasstheit, Verachtetheit und wie immer die ganze Niedertracht unserer lieben Tierwelt heißt, in der wir leben."

Der Schluss hat allerdings ein noch zu hohes Tempo und hat daher seine Sprünge. Auch in der nächsten Fassung wird der Kaiser wohl Kaiser werden, aber auf etwas sanfterem Weg.

Euch allen vielen Dank für eure Kommentare und Hinweise - und einen guten Rutsch!
Liebe Grüße
Merlin

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.04.2013, 11:25

Ein Anti-Märchen?
Ich las das Buch: "Der Alte, der aus dem Fenster sprang und verschwand" Unheimlich viele Seiten, die eine seltsame Traurigkeit in mir hinterließen. Eine Art Depression. Das bewirken Märchen bei mir.

Hier ist ein Versuch, uns wachzurütteln. Was manche Träume, die wir uns selbst nicht eingestehen wollen, mit uns versuchen.

"Erst als der Bauer sich einem struppigen, grauen Ding zuwendet, das, seine Augen verraten es trotz ihrer Entstellung, Wölfen abstammen muss, versteht er: Das diese Wesen keinem anderen Zweck dienen als dem, umsorgt zu werden." Das ist die Situation, in welchem sich Pflegepatienten befinden.
Und weiter: "Und er versteht nun auch, warum er selbst hier ist, warum die Bäuerin so darauf achtet, dass er seine Medizin nimmt, warum er sich danach immer so müde fühlt und mit der Zeit nicht gesünder, sondern immer kränker, schwächer, abhängiger wird."
Er versucht zu fliehen und wird verfolgt: Er stirbt, er ist dann auf einem Friedhof. Da hört die Verfolgung auf.
Eine konsequent AD ABSURDUM geführte Geschichte. Ich muss an einen schwarzen Diamant denken: "Die Sonne von Altruistan".

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 02.04.2013, 10:56

Hallo Klimperer!
Vielen Dank für den "schwarzen Diamanten". :-)
"Schwarz" ist die Geschichte sicherlich, insofern sie die Grundlage gewisser Wertvorstellungen ins Zwielicht zu rücken versucht - in der Hoffnung, dass sich auch im Zwielicht etwas sehenswertes zeigt.
Aber sterben tut der Protagonist ja nun nicht, er wird sogar zum Kaiser gekrönt - oder meintest du jemand anders?
Liebe Grüße
Merlin


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