Jahre wechseln

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 31.12.2011, 16:42

Er geht eine Straße entlang, den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass nur noch die Mundpartie zu erkennen ist. (Er hat keine Ahnung, ob er lächelt. Möglich wäre es, denkt er.)

Drei Männer sind ihm begegnet, aber er hatte keine Namen für sie gewusst und war ihnen deshalb ausgewichen. (Sollte er das merken?)

Das Haus zu seiner Linken kommt ihm bekannt vor. Es ist erbärmlich heruntergekommen, wie man so sagt. Dachziegel sind herabgefallen. Farbe blättert von der Fassade ab; Feuchtigkeit hat das Mauerwerk mürbe und brüchig gemacht. Große, vergitterte Fenster erzählen davon, dass hier einst ein Geschäft gewesen sein muss. Eine schwarz riechende Eisenwarenhandlung vielleicht. Oder eine Molkerei mit appetitlich gekachelter Verkaufstheke? Vor der schlampig vernagelten Tür steht eine alte Frau in Kittelschürze. Sie fegt leise summend den Gehsteig. Putzreste, Scherben und Zigarettenkippen rieseln in den Rinnstein.

Hoch über ihm donnert eine Bahn heran. Es könnte eine S-Bahn sein - oder einer dieser windschnittigen Hochgeschwindigkeitszüge, aber er kann sich auch eine altmodische Dampflok vorstellen, die schnauft und stöhnt. Der Qualm, den sie ausstößt, liegt schwer in der Luft.

Unter dem rechten Arm trägt er ein Bild. Er hat es sorgsam in Zeitungspapier eingeschlagen und mit rotem Bindfaden verschnürt. Beide Hände fassen das Paket: eine hält jene Ecke, die nach vorn zeigt, die andere stützt die lange Unterseite. (Es müssen beide Hände sein, ganz unbedingt.)

Er spürt den Rahmen. Was auf dem Bild zu sehen sein wird, weiß er noch nicht, aber er freut sich unbändig auf den Moment des Auswickelns. Er wird jeden Knoten einzeln lösen, das raschelnde Papier bedächtig glattstreichen. Vielleicht wird er eine Sommerimpression erkennen, vielleicht einen Harlekin. Eine Winterlandschaft oder ein düsteres Fabrikgebäude. Es ist ihm gleich.

Nur noch wenige Schritte und er ist heraus.

Sam

Beitragvon Sam » 01.01.2012, 18:04

Hallo allerleirauh,

das ist ein Text wie ein Traum und man kann die Unsicherheit über das, was man gelesen hat nicht abschütteln.

Fast würde ich sagen, hier wandelt jemand durch ein Bild, das zu betrachten er mit Spannung erwartet.


Gruß

Sam

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annette
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Beitragvon annette » 01.01.2012, 19:42

Steht das Tempus hier mit Bedacht "Was auf dem Bild zu sehen sein wird"? Heißt das, dass das Bild erst im Moment des Enthüllens entsteht? Die Idee würde mir gefallen, das wäre ein reizvoller Kontrast zur realistischen Umgebung.
Die Stimmung erinnert mich an einen Film Noir, die Einsamkeit, die Verlorenheit, das Beobachten und Reflektieren: sehr dicht. Soweit die eigentliche Szene.

Die übertragene Bedeutung des "Jahre Wechselns" erschließt sich mir nicht. Das Jahr wechseln wie ein Bild? Das aber nur eine einzige Darstellung zeigt? Das Jahr liegt doch nicht plötzlich ausgewickelt vor einem. Vielmehr erlebt und bewirkt man den Prozess seines Entstehens mit jedem (nicht korrigierbaren) Pinselstrich. Oder habe ich etwas übersehen?
Die Metapher des unbekannten Bildes, das man sorgfältig durch dunkle Gassen nach Hause trägt, gefällt mir, ich weiß nur nicht genau, wofür sie hier steht.

Gruß - annette

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.01.2012, 19:58

Hallo Annett,

faszinierend finde ich, dass man nicht weiß, was mit dem Mann los ist. Es gibt da viele Möglichkeiten oder besser gesagt, viele Assoziationen, die sich mir auftun. Alle sind irgendwie surreal. Es ist fast so, als ob dieser Mann aus einem Moment des Vergessens heraustreten wird und ihm dies bewusst ist. Er könnte dies schon mehrfach erlebt haben.
Vielleicht eine Art von Schüben, die immer wieder mal auftreten. Der Titel ist auch für mich ein Rätsel.
Du hast diese Szene so geheimnisvoll geschrieben, dass ich als Leser so richtig hineingezogen werde, was mir sehr gefällt.

Saludos
Gabriella

scarlett

Beitragvon scarlett » 01.01.2012, 23:17

ich lese den titel als "zwischen den jahren", als diese "niemandszeit", in der nichts sicher und alles möglich erscheint.
ich denke an raunächte, die drei gestalten, die dem mann begegnen- wer sind sie? SIND sie wirklich? was bringen sie? vielleicht haben sie einfluss auf das bild?

ein sehr beklemmender, weiter text, an dem nur die - für mich! - etwas zu vielen adjektive stören.

scarlett

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.01.2012, 23:42

Liebe a.,

ich weiß nicht, ob man das so sagen darf: Aber: Was ist nur mit Deiner Sprache geschehen?

Mir kommt das fast unbeholfen vor, die vielen Adjektive, das seltsame Plusquamperfekt. Dazu dieser Humphrey-Bogart-Anfang...

Ich komme gar nicht erst richtig hinein....

Schade... Ich glaube, dass viel mehr in Dir steckt, als dieser Text zeigen kann.

Liebe Grüße

leonie

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 02.01.2012, 10:34

lieber sam, liebe annette, liebe gabriella, liebe scarlett,

ich danke euch für eure rückmeldungen und freue mich, dass der text eine reihe von assoziationen und deutungsmöglichkeiten zulässt.
er ist tatsächlich zu einem bild entstanden, dass mir in den letzten stunden des alten jahres in die hände fiel. ich habe den dahindonnernden zug für mich als das vergehen der zeit, die entwicklung (auch die technische, wie im text angedeutet), den nicht-stillstand interpretiert und das alte haus, menschen, die einem bekannt vorkommen oder nahe sind, auch wenn man sie nicht (gut/näher) kennt, als eine bindung an das jetzt. eine bindung, die u.u. auch nur ahnungsvoll oder irrational sein kann.
der mann schleppt seine eigenen erinnerungen aus der szenerie, erinnerungen, die er für etwas schützenswertes hält. sie sind nicht "homogen", weil sie sich aus vielen schichten und facetten von erinnertem zusammensetzen (immer wieder "überpinselt werden können) und, das hat annette ganz gut formuliert, abhängig von umständen changieren. mal tritt die eine, mal die andere erinnerung in der vordergund. sie überlagern, verdrängen, ersetzen sich...
ich denke, ich muss noch einmal ran, scarlett hat ganz recht, was die häufigkeit von adjektiven angeht.

liebe leonie,
auch dir vielen dank für deine rückmeldung. sie erinnert mich an einen kommentar, den du mir vor jahren hier geschrieben hast. ich hatte damals eine endzeitgeschichte gepostet ("Skolopender"), für die es natürlich einen schreibanlass gab und so weiter. du schriebst mir damals sinngemäß, diese geschichte passe einfach nicht zu mir und du wärest enttäuscht, dass ich solche dinge schriebe. das fand ich sehr seltsam, fast ebenso seltsam wie dein "Was ist nur mit deiner Sparache geschehen?".
was für eine antwort erwartest du?
("meine Sprache hat mich verlassen!" - "ich benutze vorübergehend die meines Großonkels!" ...)
versteh mich bitte nicht falsch. es ist völlig ok, anzumerken, dass zu viel adjektive oder zu viel plusquamperfekt benutzt werden. damit kann ich etwas anfangen. das ist ein ansatzpunkt.
mir aber zum beispiel einen bogart-anfang zu unterstellen (der ja DEIN bogart-anfang ist :-)) und den text als einen zu deklarieren, der nicht aus meiner schublade zu erwarten ist oder, wie der skolopender, nicht zu mir passt, das finde ich komisch und schade.

herzliche jahresanfangsgrüße an alle!
allerlei

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leonie
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Beitragvon leonie » 02.01.2012, 13:19

Liebe allerleirauh,

nach meinem Eindruck hat Deine Sprache an Wirksamkeit verloren.

Ich erinnere mich an Texte, in denen sie so unmittelbar wirkte, an Texte, denen man sich kaum entziehen konnte. An ganz dichte Worte.

Du hast ja auch Deinen Schreibstil sehr verändert, meine ich (oder zeigst jetzt jedenfalls andere Texte). Man muss sich ja auch entwickeln und manchmal ist etwas Neues an der Zeit.

Mich hat das Vorhergehende viel stärker erreicht. Und ich fand es auch "gekonnter", da war jedes Wort am richtigen Platz. Zuviele Adjektive gerade bei Dir? Das bin ich einfach nicht gewohnt...Ich kenne Dich als Meisterin der Sprache.

Es sind viele Stellen.



allerleirauh hat geschrieben:Er geht eine Straße entlang, den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass nur noch die Mundpartie zu erkennen ist. (Er hat keine Ahnung, ob er lächelt. Möglich wäre es, denkt er.)

wie gesagt, mich erinnert es an Bogart-Filme.

Drei Männer sind ihm begegnet, aber er hatte keine Namen für sie gewusst und war ihnen deshalb ausgewichen. (Sollte er das merken?)

Warum Plusquamperfekt?

Das Haus zu seiner Linken kommt ihm bekannt vor. Es ist erbärmlich heruntergekommen, wie man so sagt.

Show, don´t tell

Dachziegel sind herabgefallen. Farbe blättert von der Fassade ab; Feuchtigkeit hat das Mauerwerk mürbe und brüchig gemacht. Große, vergitterte Fenster erzählen davon, dass hier einst ein Geschäft gewesen sein muss. Eine schwarz riechende Eisenwarenhandlung vielleicht. Oder eine Molkerei mit appetitlich gekachelter Verkaufstheke? Vor der schlampig vernagelten Tür steht eine alte Frau in Kittelschürze. Sie fegt leise summend den Gehsteig. Putzreste, Scherben und Zigarettenkippen rieseln in den Rinnstein.

Die Häufung der Adjektive...

Hoch über ihm donnert eine Bahn heran. Es könnte eine S-Bahn sein - oder einer dieser windschnittigen Hochgeschwindigkeitszüge, aber er kann sich auch eine altmodische Dampflok vorstellen, die schnauft und stöhnt. Der Qualm, den sie ausstößt, liegt schwer in der Luft.


Ich denke, jeder kann eine S-Bahn von einer Dampflok unterscheiden.

Unter dem rechten Arm trägt er ein Bild. Er hat es sorgsam in Zeitungspapier eingeschlagen und mit rotem Bindfaden verschnürt. Beide Hände fassen das Paket: eine hält jene Ecke, die nach vorn zeigt, die andere stützt die lange Unterseite. (Es müssen beide Hände sein, ganz unbedingt.)

Das kann ich mir nicht vorstellen, wie kann man ein Bild, das man unter dem rechten Arm trägt, dann mit beiden Händen fassen?

Er spürt den Rahmen. Was auf dem Bild zu sehen sein wird, weiß er noch nicht, aber er freut sich unbändig auf den Moment des Auswickelns. Er wird jeden Knoten einzeln lösen, das raschelnde Papier bedächtig glattstreichen. Vielleicht wird er eine Sommerimpression erkennen, vielleicht einen Harlekin. Eine Winterlandschaft oder ein düsteres Fabrikgebäude. Es ist ihm gleich.

Er hat das Bild selber eingepackt, weiß aber nicht, was darauf zu sehen sein wird?

Nur noch wenige Schritte und er ist heraus.



Das sind nochmal ein paar konkretere Anmerkungen, weshalb ich nicht überzeugt bin. Ich verstehe den Effekt, den Du erzeugen willst, aber meiner Meinung nach ist es nicht gut umgesetzt. Für mich entsteht Irritation, die jener, die Du erzeugen möchtest, geradezu kontraproduktiv entgegenwirkt.

Ich meine das überhaupt nicht böse, ich frage mich wirklich, warum Dir das passieren kann? Weil ich Dich für so gut halte in der Sprache...

Liebe Grüße

leonie


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