Prolog: Carls Sternfahrt

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Wallis

Beitragvon Wallis » 20.02.2012, 22:31

1.
Langsam wird das Bild wieder scharf. Was zuerst wie ein Stoffstück mit eingewobenen Silberfäden aussieht, ist dann doch nur der Asphalt, auf dem er liegt. Es hat geregnet, er kann es zwischen den kleinen Steinchen glitzern sehen. Die Szene erinnert an eine Landschaft. Vielleicht der schwarze Strand einer Vulkaninsel? Er genießt ihn, diesen Blick – wie auf eine Miniatur. Das Gefühl hatte er schon lange nicht mehr. Oft lag er als Kind in der Badewanne im Schaum versunken, hat Berge und Fjorde aufgetürmt und wieder in sich zusammenfallen lassen. Manchmal blieb er so lange im Wasser, bis es eiskalt war. Auch das Bett thronte auf einem hohen Gipfel, bis zum Teppichboden in seinem Jungenszimmer waren es tausend Meter. Bloß nicht runterfallen, dann war alles aus! Aber er würde fallen, oh ja, wenn erst einmal der Nordwind kam, dann hatte er keine Chance mehr. Wie lang konnte man auf einer Bergspitze ohne Essen und ohne Trinken eigentlich überleben? Hielt das Zelt aus Decken dem Sturm stand?
Sein Blick wandert. In einiger Entfernung die Kante des Gehwegs. Grashalme hängen von der Rasenfläche in die funkelnde Steinebene hinein. Der Waldrand. Etwas weiter links davon ein massiger, fleckigweißer Turm mit einer Metallkrone, aus der Perspektive von unten ein Monster von einem Gebäude. Es ist ein Aschenbecher! Er liegt mitten auf dem Gehweg vor einem Aschenbecher. Irgendwie sitzt sein Kopf schief, sein linker Arm ist nach hinten verdreht und die Schultern schmerzen.
Carl Berkowitz, der gerade den ersten – und voraussichtlich letzten – Herzinfarkt seines Lebens hat, starrt auf das hässliche weiße Ding vor ihm. Nicht weit von seiner rechten Hand glimmt eine halb gerauchte Zigarette. Er kann sich nicht erinnern, wo genau er ist, was vorher war, warum er sich nicht bewegen kann, hat keine Ahnung, warum er hier auf dem feuchten Boden liegen muss.
Mit einem Schlag ist der Schmerz wieder voll da. Seine Brust fühlt sich an, als würde ein Riese auf ihm stehen. Er dreht einen glühenden Bohrer in ihn hinein, von vorne durch die Schultern in den Gehwegboden, was eine absurde Vorstellung war, denn bei Carls verdrehter Lage konnte sich gar niemand auf ihm halten, geschweige denn ein Loch in ihn bohren. Aber das hilft ihm jetzt auch nicht weiter.
Das ist zu früh!
Er war noch nicht einmal Vierzig, im Beruf zeigten sich erste Erfolge. Vor ein paar Wochen hatte er in seiner kleinen Grafikagentur einen Assistenten eingestellt, der ihn bei den Rechnungen unterstützen sollte. Auch mit Claudia klappte es so gut wie schon lange nicht mehr. Er ertappte sich in den letzten Monaten das eine oder andere Mal dabei, dass er nicht mehr davon rennen wollte, wenn sie die ernsteren Dinge ihrer Beziehung ansprach. Sie nannte das „auftafeln“ – ein komischer Begriff. Es ging meist um die gemeinsame Wohnung und ein, zwei Mal waren sie auch beim Thema Kinder hängen geblieben.
Claudia will Kinder, so viel ist klar. Vor drei Jahren noch hätte ihn die bloße Ahnung, dass das Gespräch so laufen könnte, das Weite suchen lassen, aber offensichtlich nutzte sich sein Fluchtreflex langsam ab. Ja, mit Claudia wird er zusammen bleiben. Sie war eine tolle Frau, die beste von denen, die es länger als ein Jahr mit ihm ausgehalten hatten.

Das sind Carls Gedanken ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als ein zwei Millimeter dickes Blutgerinnsel, das sich am Morgen von einer entzündeten Stelle seiner rechten Koronararterie löste, den dahinter liegenden Gefäßast verstopft und in seiner Herzhinterwand ein großes Gebiet von der Blutversorgung abschneidet. Das Martyrium, das er dabei durchleiden muss, trifft ihn, soweit man das beurteilen kann, zufällig. Er hatte keinen über die Maßen ungesunden Lebenswandel und auch nicht die genetischen Voraussetzungen, die einen schweren Infarkt in seinem Alter besonders wahrscheinlich machen würden. Ein banales Gerinnsel in einem langweiligen kleinen Blutgefäß, eine Sache, mit der man eigentlich gut fertig werden könnte, ein statistischer Ausrutscher, dem man außer in der Hinsicht, dass er eine Regel intakt hält, im Alltag keine Aufmerksamkeit zukommen lassen sollte.

2.
Das Gleißen durchfährt Carl als kalte und harte Strahlung. Sie zerlegt ihn in kleine Stücke, als wäre er eine Porzellanfigur, die man versehentlich vom Regal gefegt hat und die in unzählige Teile zersplittert, genau hier und jetzt, auf dem Gehsteig vor seinem Fitnessclub. Niemand wird ihn wieder zusammensetzen können. Es ist ein Gefühl, das er nicht kennt und wovon er, selbst wenn er zu Bewusstsein käme, keinem erzählen wird, an die bodenlose Tiefe erinnern wir uns einfach nicht, der Mensch schützt sich vor solchen Dingen. Dann ist er weg. Black-out.

3.
Der kleine Defibrillator summt und klickt, das Gerät ist im Diagnosemodus. Der junge Arzt, der zufällig im Studio war und den eine der netten Damen vom Eingangsbereich ausgerechnet aus der „Cardio-Lounge“ geholt hat, runzelt die Stirn.
„Ist er tot?“ fragt das Mädchen.
„Nein, ist er nicht. Aber lange wird das nicht mehr dauern. Haben sie nach dem Krankenwagen gerufen? Wo bleiben die denn?“
Sie hat rote Flecken im Gesicht und starrt auf den kleinen Bildschirm. Darauf ist eine gekräuselte Linie zu sehen, die in unregelmäßigen, kurzen Abständen stolpert, als hätte sie Schluckauf.
„Ähh, ja, ich hab meiner Kollegin Bescheid gegeben.“
„Hören sie, ich muss kurz zu meinem Auto, da habe ich einen Medikamentenkoffer. Bitte bleiben sie bei dem Mann. Reden sie mit ihm. Kennen sie seinen Namen?“
„Nein. Ja, das heißt, ich glaube, ich weiß, wer das ist. Carl Borrowitz. Oder so. Der hat für uns die Programmflyer vom Pilates-Programm gemacht. Ist ein Grafiker.“
„Schön. Carl, hören Sie mich? Ich komme gleich wieder, ich muss etwas für sie besorgen. Etwas, das ihnen hilft. Es wird alles gut! Hören sie das? Bitte, hier, nehmen sie seine Hand. Oder legen sie ihre auf seine Schulter.“
Sie starrt auf den Mann vor ihr. Der Arzt hat Carls Jacke aufgerissen, ihm so gut es ging das Hemd hochgeschoben und gerade die letzte rote Elektrode angelegt. Der Oberkörper ist bleich und es ist nicht zu erkennen, ob sich sein Brustkorb hebt und senkt. Sie wird ihn nicht berühren können, denkt der junge Arzt. Vielleicht haben die Leute immer Angst vor denen, die gehen.
„Reden sie mit ihm, das ist das wichtigste! Ich bin gleich zurück, versprochen.“
Er steht auf und rennt los. Sie schaut ihm hinterher und dann einer Amsel, die laut protestierend ihr Sichtfeld kreuzt und auch dem Auto, das gerade vom Parkplatz fährt, will auf keinen Fall den verkabelten Leib sehen, der vor ihr liegt. Plötzlich fängt das kleine Gerät an zu piepen. Erst leise, dann ein durchdringender Ton, genau wie in dieser Krankenhaussendung, die sie aus dem Nachmittagsfernsehen kennt.
„Sie müssen nun den Schock auslösen! Bitte drücken sie dazu kurz den roten Knopf rechts vom Bildschirm des Defibrillators. Sie können nur einen einzelnen Schock auslösen, danach werden die Vitalwerte erneut überprüft. Gegebenenfalls wird ein weiterer Schock vorbereitet.“
Sie erschrickt und dreht sich im Reflex um, als hätte ihr jemand von hinten zugerufen, aber da ist natürlich niemand. Nein, das kam eindeutig aus dem Apparat. Sie schaut zum Parkplatz, der Arzt ist immer noch nicht zu sehen. Die Linie ist jetzt ganz flach, da ist kein Schluckauf mehr. Dann spricht das Gerät noch einmal.
„Sie müssen nun den Schock auslösen! Bitte drücken Sie dazu kurz den roten Knopf rechts vom Bildschirm des Defibrillators. Sie können nur einen einzelnen Schock auslösen, danach werden die Vitalwerte erneut überprüft. Gegebenenfalls wird ein weiterer Schock vorbereitet.“
Schnell drückt das Mädchen den Schalter. Der elektrische Impuls fließt in alle Muskeln. Ein Zucken geht durch Carls Körper und er kommt für den Bruchteil einer Sekunde zurück aus dem dunklen See, in dem er fast schon versunken war. Nur ein Bild friert auf seiner Netzhaut fest: Das Mädchen trägt eine Halskette aus Bernstein. Als sie sich über Carl beugt, hängt die Kette genau vor seinem Gesicht, am tiefsten Punkt ein pflaumengroßes Prunkstück vom satten Farbton eines kräftigen Waldhonigs, mit eingeschlossenen Blütenblättern oder Insektenflügeln. Der Stein lässt das trübe Februarlicht leuchten. Das ist es, was er sieht. Licht im Bernstein.

4.
Zuerst ist es ein leichter Sog, dann ein Rauschen, das zu einem Sturm wird, der Orkan bricht los, endlich! Es wird strahlend hell, alle seine Synapsen feuern zugleich. Der Bernstein bläst sich zu einer gigantischen Kugel auf, ein feuriges Zentralgestirn in einem endlosen, pechschwarzen Raum. Es gibt nur noch Carl und die Bernsteinsonne, er kreist um sie, ihr immer zugewandt. Er weiß nicht, wie lange er so verbringt, aber es fühlt sich gut an, da ist keine Angst mehr. Die Sonne wärmt ihn und flüstert ihm Dinge zu, lässt ihn wissen, dass jede Sekunde in jedem Leben, auch in seinem, sicher in der Zeit eingeschlossen sind, dass sie von ihr behütet werden, wie der Stein seit Jahrmillionen das Blütenblatt in seiner Mitte behütet. Alle Momente sind immer da und miteinander verbunden wie durch ein Netz.
Seine Mutter hält ihn als Dreijährigen fest an sich gedrückt. Sie hat gerade erfahren, dass ihr Bruder bei einem Autounfall in Südfrankreich gestorben ist. Carl kannte seinen Onkel nicht. Er nimmt die Situation aus der Vogelperspektive wahr und im selben Moment ist er das Kind, das die schöne, traurige, stolze Mutter anstarrt. Er kann den zerfledderten Stofftiger, den er in seiner kleinen Hand hält, riechen. Es duftet warm und nach seinem Bett. Mit der anderen Hand fährt er durch das glatte, braune Haar, will ihren Kopf streicheln, so wie sie es bei ihm macht, wenn er weint.
Er sieht seinen Vater von hinten, der vor ihm davonläuft. Alles wackelt und holpert. Carl sitzt auf seinem kleinen roten Fahrrad, zum ersten Mal fährt er ohne Stützräder. Er strampelt über den kleinen Feldweg vor dem Haus, immer dem Vater hinterher. Das Fahrrad wird schneller. Plötzlich verliert er die Kontrolle und rauscht in die Böschung und dann in das Maisfeld dahinter. Der Lenker knallt ihm gegen den Unterarm, Carl erschrickt, das Fahrrad kommt zum Stehen und er fällt in die Stauden. Als sein Vater sieht, dass nichts passiert ist, richtet er erst Carl und dann das Fahrrad auf. Er hat einen amüsierten Gesichtsausdruck. Carl will seinen Schrecken unterdrücken, tapfer sein, aber es hilft nichts. Vater nimmt ihn in die Arme, hält ihn in die Höhe und gibt ihm einen festen Kuss auf die Stirn. Der Bart kratzt und er fühlt sich wieder sicher.
Er sieht seine Großmutter, wie sie mit ihren krummen Fingern eine Landkarte auf seine Brust zeichnet. Carl sitzt am Bett in der Pflegestation des Altersheims. Seit ein paar Monaten schon wirft sie die Dinge durcheinander und findet nicht immer die richtigen Worte. Die Krankenschwester sagt, es wird nicht mehr lange dauern. Sie ist völlig in ihre Erzählung versunken und lächelt, während sie ihm erklärt, dass Opa an diesem Bahnhof in Oberschlesien einen reichen Inder kennengelernt habe, der so freundlich zu ihnen gewesen sei, und dass er sie und den Opa im Auto noch bis zum Khaiberpass hochgefahren habe. „Oma, Schlesien und Pakistan liegen doch ganz weit auseinander!“ Sie hört ihn nicht und zeichnet weiter, verbindet die losen Dinge, die ihr Angst machen, wieder fest miteinander. Er nimmt ihre Hand von seiner Brust und hält sie fest. Sie ist trocken und warm.
Seine Freunde sind da und auch die unangenehmen Situationen. Er erlebt noch einmal, wie er durch die Führerscheinprüfung rasselte. Seine erste Kamera, der erste Comic, den er zeichnete, das erste U2-Konzert. Bono holt ein Mädchen auf die Bühne und nimmt sie in seine Arme. Sie drehen sich, haben die Augen geschlossen, die Szene dauert ewig, der Rest der Band spielt leise um das tanzende Paar herum. Er war ziemlich stoned. Der ungnädige Blick seines Professors in der Zwischenprüfung in Geschichte. Zwei Wochen danach hatte er seinen Eltern erklärt, dass er nach Berlin gehen wolle, um dort ein Grafikstudium zu beginnen. Er sieht seine erste Liebe und die letzte.
Claudia, Du fehlst mir. Ihr fehlt mir alle.
Carl spürt, dass die Zeit für den Abschied gekommen ist. Ohne sich umzudrehen läuft er dahin, wo alle Momente, die schönen und auch die grausamen, aufgehoben sind.
Das war es also, was Du mir sagen wolltest.
Ja. Du wirst vergessen. Du wirst Dich aber wieder erinnern.


Änderungen:
- 4. Kapiteleinteilung eingefügt.
- 2. Kapitel wurde umgestellt, Inhalt stammt teilweise aus dem letzten Absatz des ersten Kapitels. "Das heißt aber nicht, dass es für uns nichts bedeuten wird. Die Geschichte ist hier nicht zu Ende und Carl löst sich nicht in Wohlgefallen oder gar in Nichts auf. Im Gegenteil: In wenigen Augenblicken wird er eine erstaunliche Reise unternehmen – und das, was er dabei erlebt und dessen glückliche, da unbemerkte Zeugen wir sein werden, hat mit einer klassischen Erlösung nicht viel zu tun. So viel kann an dieser Stelle schon einmal verraten werden!" wurde entfernt.
- 4. Kapitel, zweiter Absatz: "Erinnerungen ziehen an ihm vorbei und durch ihn hindurch." wurde entfernt.
- 3. Kapitel, Z. 16 "Sie fürchtet sich" wurde entfernt


© cp2012
Zuletzt geändert von Wallis am 16.03.2012, 23:35, insgesamt 7-mal geändert.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 05.03.2012, 15:30

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:27, insgesamt 1-mal geändert.

Wallis

Beitragvon Wallis » 10.03.2012, 22:25

Liebe Rosebud,

vielen Dank für Deine intensive Textbeobachtung. Das war ein wohltuendes Feedback mit einer Menge Hinweisen und der Hoffnung, dass ich die Wackler, die ich auch beim dritten Korrekturgang nicht sehe, im Lauf der Zeit noch fest bekomme. Zur Zeit suche ich mein Heil in der Reduktion, das hätte auch in dem einen oder anderen von Dir zitierten Fall gegriffen. Leider bleibt bei der Technik manchmal das unangenehme Gefühl zurück, dass man gerade etwas eigentlich ganz Gutes abgeschnitten hat...

Es war bewegend davon zu lesen, dass ich mit meiner Nahtod-Fiktion auch (gerade?) einen Menschen erreichen kann, der so etwas schon einmal erlebt hat. Wie gut, dass Du davon berichten kannst! Mir selbst ist das erspart geblieben, das Thema beschäftigt mich aber schon lange. Dein Bild
Rosebud hat geschrieben:"wenn das Bewusstsein eine Sinuskurve fährt"
ist hervorragend. Eigentlich kommt meine Umsetzung der sich überblendenden Denk- und Erinnerungsfragmente ja reichlich konventionell daher, wenn man bedenkt, welche Qualitäten ein sich derart transformierendes Bewusstsein entwickeln mag. Wie gesagt: Der Text ist reine Vorstellung, geschrieben in einer versöhnlichen Absicht und ursprünglich vorgesehen als Übergang in eine phantastische Geschichte - daher auch die letzten Zeilen.

Besonders gefreut hat mich, dass Dir die ersten Sätze gefallen haben. Ich teile Deine Aufmerksamkeit für den Anfang. Das ist doch ein ganz besonderer Moment, wenn sich Text und Leser noch reichlich fremd sind, man nicht mit der Tür ins Haus fallen will, aber doch irgendwie werben muss, ob laut oder leise....

Viele Grüße
Wallis

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 11.03.2012, 13:08

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:27, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.03.2012, 17:14

Hallo Rosebud,

mit großem Interesse bin ich deinen Ausführungen gefolgt, wie du beim Schreiben vorgehst. Bist du doch ein Vorbild für mich!
Interessant finde ich hier vor allem, dass du schreibst:
Rosebud hat geschrieben:Reduktion ist das Grundprinzip, nach dem ich bei jedem Text arbeite. In meiner Vorstellung ist Schreiben wie Bildhauern: Da steht ein großer viereckiger (Text-)Klotz im Raum, von dem man nach und nach Überflüssiges abspaltet - anfangs mit großem und grobem Werkzeug die dicken Stücke (Füllwörter, Adjektive, Girlanden, Stilblüten etc. pp.), dann mit immer feineren Werkzeugen die Feinsiselierung (Rhythmus, Klang, Zauber und Glitzer). Am Ende hat man die Geschichte in die perfekte Form gebracht mit genau so vielen Worten wie notwendig.

Bei mir ist es kurioserweise genau anders herum. Bei mir beginnen Geschichten klein, meist mit einem Gedanken, einem Satz, den ich oft als Dialog zu Beginn einbringe. Ich denke immer, dass man durch Dialoge eine Geschichte lebendig gestaltet und dem Leser dadurch einen leichten Einstieg ermöglicht.
Dann erst entwickelt sich die Geschichte bei mir, es kommt nach und nach mehr dazu. Wobei ich dann oft in einen Schreibfluss gerate - ein tolles Gefühl, wie ich finde - und sich die Geschichte so weitererzählt.
Klar, zum Schluss kommt dann noch ein Schleifen, Überflüssiges raus, etc.

Hallo Wallis,

falls du es noch nicht bemerkt hast: deine Story hier hat bei der Monatswahl ein Siegerplätzchen eingenommen und ist in die Anthologie gekommen. ,-)

Wenn deine Endfassung steht, sag mir Bescheid, damit ich diese dann in der Anthologie ersetze, ok?

Liebe Grüße
Gabi

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 12.03.2012, 11:14

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:30, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.03.2012, 11:47

Liebe Rosebud,

alles klar! Das beruhigt mich ein wenig. ,-)
Rosebud hat geschrieben:Es soll Autoren geben, die gleich beim ersten Mal druckreif schreiben (ich hörte, Thomas Mann hat so seine Texte verfasst).

Wow, wie genial wäre es, wenn einem dies gelänge!
Rosebud hat geschrieben:Ich versuche das bei jedem Satz, letztlich aber sehe ich kaum die Tür meines Arbeitszimmers vor lauter Marmorstaub in der Luft *hust*.

*lach*

Ich finde den Einstieg von Wallis hier auch sehr gelungen!

Liebe Grüße
Gabi

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 15.03.2012, 09:39

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:26, insgesamt 1-mal geändert.

eve
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Registriert: 03.01.2010

Beitragvon eve » 15.03.2012, 12:53

Oh, da bin ich von Weisheit noch Lichtjahre entfernt. Würde es nie schaffen, ein Buch, das ich durch und durch genieße, frühzeitig aus der Hand zu legen! Aber ich verstehe durchaus, was er meint.

Wallis

Beitragvon Wallis » 16.03.2012, 23:23

Liebe Rosebud,

Deine Ausführungen zur Reduktion kann ich nachvollziehen. Erst ein kleiner Urknall, der Anlass, aus dem heraus entwickelt sich schnell viel - und dann mit der Schere die Schöpfung auf ein rechtes Maß trimmen. Im Moment sitze ich an einem Text, den ich schon so eingedampft habe, dass er in strammen 10-Wort-Sätzen geradezu marschiert, das wird mir langsam ungeheuer. Der Plan ist, das an wenigen Stellen wieder etwas aufzublasen, ich freue mich auf die Kontrastwirkung.

Rosebud hat geschrieben:Wenn das "nur" der Anfang von Carls Sternfahrt war, bin ich sehr gespannt auf die erste Zwischenlandung - vielleicht trifft Carl Herrn Tichy oder den kleinen Prinzen oder Arthur Dent?

Das muss erst einmal ruhen. Ich hatte eine leichte Entfremdung, braucht wohl noch seine Zeit. Aber so viel: Wenn ich jemanden auf dieser Zwischenlandung treffen wollte, dann wäre es der Herr Tichy, auch von Trurl und Klapauzius war ich immer begeistert. Toll wäre ein Tee mit Diziet Sma.

Vielen Dank auch für den Link, ein geistreicher Text. Besonders hängen geblieben ist mir die Geschichte mit der bauchpinselnden Rückmeldung mit dem dicken Ende, dass der Kollege nämlich 50 Seiten vor Schluss den Text für sich als gut und als deshalb als beendet erklärt hat. Wie aufschlussreich und verständlich, dass er über das Kompliment erst einmal gestolpert ist...


Liebe Gabriella,

Gabriella hat geschrieben:deine Story hier hat bei der Monatswahl ein Siegerplätzchen eingenommen und ist in die Anthologie gekommen. ,-)

1000 Dank für die Zustimmung! Schicke ich Dir gleich zu. I am very honoured...

Viele Grüße
Wallis

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 27.03.2013, 11:44

Wir haben hier mit einem Meisterstück zu tun. Obwohl es sich nur um eine Einführung, um ein Vorwort, um einen Pro-log handelt, wie es im Titel der Erzählung steht.
Spontan fiel mir Max Beckmann ein, der am 26. Dezember 1950 an einem Herzinfarkt mitten auf der Straße in Manhattan starb. Er war auf dem Weg zum Metropolitan Museum.
Die ganze Erzählung, insbesondere der letzte Absatz von Kapitel eins hätte Gottfried Benn besonders gut gefallen.
Wir haben hier mit einem Dichter, mit einem Lyriker zu tun, das merkt man in der Auswahl von Worten wie GLEISSEN, was mich an GESTADE denken lässt.
Das Wort "Juwel" ist zu abgegriffen, ich würde eher an ein Stück Ewigkeit in einem Bernstein denken.
Ohne Pathos, fast wissenschaftlich, und doch poetisch und philosophisch erzählt.

Klimperer.


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