Fliegen

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 24.04.2012, 22:22

Ein etwas älterer Text. Will ihn am Samstag lesen, weil er gut zum Riss passt. Ich dachte, ich hätte ihn schon hier, kann ihn aber nicht finden. Seltsam, ich werd alt.


[tabs][tabs: Version 2]Das Stimmengewirr verklang hinter ihm, mit einem hässlichen Schaben fiel die Tür ins Schloss. “Auch kaputt”, dachte er. Der Ärger der Mieter amüsierte ihn. Klingelstreiche hatte er früher nie gemocht, er war immer zu langsam beim Wegrennen. Vermutlich das erste Mal, dass die Bewohner dieses Hauses heute miteinander sprachen, mit blechern verzerrten Stimmen über die Gegensprechanlage, im gemeinsamen Zorn über den Störenfried. Zumindest einer hatte den Türöffner betätigt, hatte ihn, den Fremden, hereingelassen. Schweigend vermutlich. Er empfand so etwas wie Freude über den Unangepassten. Oder Gleichgültigen?

Am Aufzug vorbei ging er zur Treppenhaustür in der hinteren Ecke der Eingangshalle, die ihren Namen nicht verdiente. Sprünge im drahtverstärkten Glas. Graffiti an den Wänden. Keine besonders talentierten Sprayer, schade. Die Luft im Treppenhaus roch schal, ein wenig nach Urin und altem Rauch. Allzu oft wurde es nicht genutzt, vermutete er. Die Bequemlichkeit siegt immer und der Aufzug schien zu funktionieren. Weiße Kunststeinstufen mit dunklen – wie nannte man so was, Einsprengseln? Stippen? Und schwarze Gummileisten an den Kanten. Genauso wie in dem Haus seines damals besten Freundes. Dieselbe grobe Sandpapierstruktur an der Wand. Wer denkt sich so was aus? Es war eine feindliche Wand, rau, scharfkantige Sandkörner stets bereit, Haut oder Kleidungsstücke aufzureißen. Er probierte den Klang des Metallgeländers, ein dunkles Dröhnen. Vorsicht! Nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen!

Damals hatten sie Papierflugzeuge aus den Dachfenstern fliegen lassen. Erst nur so – wer schaffte es am weitesten? Dann mit China-Böllern und Benzin bestückt. Flogen nicht mehr richtig, aber dafür knallte es gut. Gab mächtig Ärger mit dem Hauswart. Als er an die Scherben in den Fersen seiner Gummistiefel dachte, musste er lachen. Flachmänner sprengen, knallt auch gut. Gab genug davon, Trinker und Flachmänner unter den Balkonen des Hochparterres. Hätte schiefgehen können, damals.

Langsam stieg er die Treppe hinauf. Las die Schilder an der Wand, “Notausgang”, “Feuerlöscher”, “Spielen verboten”. Er hatte schon immer alles gelesen, zwanghaft. Es hatte Momente gegeben, wo er hatte die Augen schließen müssen – Schilder, Tafeln und Texte überall, in der Bahn, auf Toiletten, in Restaurants, auf der Straße, im Kaufhaus. Unnötige, unwichtige Informationen – und er hatte sie aufgesogen bis ihm der Kopf schwirrte, bis er fast platzte. Jetzt konnte er sie ertragen, sie waren nicht mehr wichtig. Er war nicht gemeint, dessen war er sich sicher, er verzichtete auf die Hausordnung.

Auf dem Fensterbrett der fünften Etage standen ein kleiner Topf mit einer halb vertrockneten Pflanze und ein Aschenbecher. Sorgfältig ausgedrückte Kippen. An einigen meinte er, eine Spur eines Lippenstifts zu entdecken. Ein Rückzugsort. Die Fenster hier liessen sich öffnen, vom Rahmen abgeblätterte Farbe lag auf dem Boden. Dort, wo er wohnte, konnte man sie nicht vollständig aufmachen. Aus Sicherheitsgründen. Lächerliche Bevormundung. Sie hatten das Rauchen in den Kneipen verboten, das war so ähnlich. Alles wurde geregelt und für nichts gab es eine Lösung. Er hatte es mal versucht mit dem Rauchen. Nur um dazu zu gehören, um cool zu sein. War nicht sein Ding, also hatte er es wieder aufgegeben. “Wenn ich jetzt eine hätte”, dachte er, “jetzt wäre der richtige Moment wieder anzufangen. Hier, an dieser Stelle.” Er zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack, nahm einen Schluck und goss ein wenig in den Topf. Dann ging er weiter.

Zwölf Etagen. Zu Fuß eine ziemliche Strapaze – jedenfalls für einen wie ihn. Sport hatte er nie gemocht, noch nicht mal im Fernsehen. Sie hatten immer über ihn gelacht, weil er die Fußballergebnisse nicht kannte. Warum war es so still hier? Wo waren die Geräusche des Lebens? Er hätte sich ein Radio mitbringen sollen. Bedächtig stellte er den Rucksack ab, nahm noch einen Schluck aus der Flasche, stellte sie neben den Rucksack. Aus der Außentasche nahm er einen handbeschriebenen Zettel und faltete ihn sorgfältig. Er lächelte. Dann öffnete er das Fenster. Kalte Luft, ein erbarmungslos blauer Himmel – ein schöner Tag zum Fliegen.

[tabs: Version 1]Das Stimmengewirr verklang hinter ihm, mit einem hässlichen Schaben fiel die Tür ins Schloss. “Auch kaputt”, dachte er. Der Ärger der Mieter amüsierte ihn. Klingelstreiche hatte er früher nie gemocht, er war immer zu langsam beim Wegrennen. Doch heute … Vermutlich das einzige Mal, dass die Bewohner dieses Hauses heute miteinander sprachen, mit blechern verzerrten Stimmen über die Gegensprechanlage, im gemeinsamen Zorn über den Störenfried. Zumindest einer hatte den Türöffner betätigt, hatte ihn, den Fremden, hereingelassen. Schweigend vermutlich. Er empfand so etwas wie Freude über den Unangepassten. Oder Gleichgültigen?

Am Aufzug vorbei ging er zur Treppenhaustür. Sprünge im drahtverstärkten Glas. Graffiti an den Wänden. Keine besonders talentierten Sprayer, schade. Die Luft im Treppenhaus roch schal, ein wenig nach Urin und Rauch. Allzu oft wurde es nicht genutzt, vermutete er. Die Bequemlichkeit siegt immer und der Aufzug scheint zu funktionieren. Weiße Kunststeinstufen mit dunklen – wie nannte man so was, Einsprengseln? Stippen? Und schwarze Gummileisten an den Kanten. Genauso wie in dem Haus seines damals besten Freundes. Dieselbe grobe Sandpapierstruktur an der Wand. Wer denkt sich so was aus? Es war eine feindliche Wand, rau, scharfkantige Sandkörner stets bereit, Haut oder Kleidungsstücke aufzureißen. Er probierte den Klang des Metallgeländers, ein dunkles Dröhnen. Vorsicht! Nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen!

Damals hatten sie Papierflugzeuge aus den Dachfenstern fliegen lassen. Erst nur so – wer schaffte es am weitesten? Dann mit China-Böllern und Benzin bestückt. Flogen nicht mehr richtig, aber dafür knallte es gut. Gab mächtig Ärger mit dem Hauswart. Er lachte in sich hinein, als er an die Scherben in den Fersen seiner Gummistiefel dachte. Flachmänner sprengen, knallt auch gut. Gab genug davon, Trinker und Flachmänner unter den Balkonen des Hochparterres. Hätte schiefgehen können, damals. Damals!

Langsam stieg er die Treppe hinauf. Las die Schilder an der Wand, “Notausgang”, “Feuerlöscher”, “Spielen verboten”. Er hatte schon immer alles gelesen, zwanghaft. Es hatte Momente gegeben, wo er hatte die Augen schließen müssen – Schilder, Tafeln und Texte überall, in der Bahn, auf Toiletten, in Restaurants, auf der Straße, im Kaufhaus. Unnötige, unwichtige Informationen – und er hatte sie aufgesogen bis ihm der Kopf schwirrte, bis er fast platzte. Jetzt konnte er sie ertragen, sie waren nicht mehr wichtig. Er war nicht gemeint, dessen war er sich sicher, er verzichtete auf die Hausordnung.

Auf dem Fensterbrett der fünften Etage standen ein kleiner Topf mit einer halb vertrockneten Pflanze und ein Aschenbecher. Ein Rückzugsort für eine verlorene Seele. Es wunderte ihn, dass sich alle Fenster öffnen ließen. Dort, wo er wohnte, konnte man die Fenster nicht vollständig öffnen. Aus Sicherheitsgründen. Lächerliche Bevormundung. Sie hatten das Rauchen in den Kneipen verboten, das war so ähnlich. Alles wurde geregelt und für nichts gab es eine Lösung. Er hatte es mal versucht mit dem Rauchen. Nur um dazu zu gehören, um cool zu sein. War nicht sein Ding, also hatte er es wieder aufgegeben. “Wenn ich jetzt eine hätte”, dachte er, “jetzt wäre der richtige Moment wieder anzufangen. Hier, an dieser Stelle.” Er zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack, nahm einen Schluck und goss ein wenig in den Topf. Dann ging er weiter.

Zwölf Etagen. Zu Fuß eine ziemliche Strapaze – jedenfalls für einen wie ihn. Sport hatte er nie gemocht, noch nicht mal im Fernsehen. Sie hatten immer über ihn gelacht, weil er die Fußballergebnisse nicht kannte. Warum war es so still hier? Wo waren die Geräusche des Lebens? Er hätte sich ein Radio mitbringen sollen. Bedächtig stellte er den Rucksack ab, nahm noch einen Schluck aus der Flasche, stellte sie neben den Rucksack. Aus der Außentasche nahm er einen handbeschriebenen Zettel und faltete ihn sorgfältig. Er lächelte. Dann öffnete er das Fenster. Kalte Luft, ein erbarmungslos blauer Himmel – ein schöner Tag zum Fliegen.[/tabs]
Zuletzt geändert von Zakkinen am 25.04.2012, 22:37, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.04.2012, 22:55

Hallo Henkki,

Guter Text! Vor allem, weil er so harmlos beginnt und dann dieser Schluss, hui!
Auch die eingeflochtenen Erinnerungen gefallen mir gut, ebenso wie die genauen Details, wie er z.B. der vertrockneten Pflanze Wasser gibt. Diesen Platz mit der Pflanze und dem Aschenbecher hab ich so richtig vor Augen.
Und die Andeutungen, die auf den Schluss hindeuten, wie "Auch kaputt" oder "er war immer zu langsam beim Wegrennen. Doch heute ...", "Jetzt konnte er sie ertragen, sie waren nicht mehr wichtig". Raffiniert gemacht.

Einzig überrascht hat mich der blaue Himmel. Als ich die Geschichte las, dachte ich die ganze Zeit, dass es später Abend oder zumindest dunkel wäre. Vermutlich wg. der Klingelstreiche. Die verbinde ich mit Dunkelheit.

Dieser Text ist klasse zum Vorlesen!

Liebe Grüße
Gabi

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 25.04.2012, 09:35

Nicht zu viel Pathos? Zu vorhersagbar?

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 25.04.2012, 11:41

Hallo Henkki,

gefällt mir, ein guter Lesetext, nur ein paar kleine Anmerkungen. (Ich habe gerade leider nicht mehr Zeit, aber es eilt ja ein wenig. :))

Doch heute …
Würde ich streichen. Klingt so nach Trommelwirbel und für meinen Geschmack schadet das der Geschichte.
Vermutlich das einzige Mal,
Vermutlich das erste Mal ... wenn er sich aus dem Fenster stürzt, reden sie mit Sicherheit nochmal miteinander.

Die Luft im Treppenhaus roch schal, ein wenig nach Urin und Rauch. Allzu oft wurde es nicht genutzt, vermutete er.
Als Klo? :o) Ein komischer Übergang, außerdem müssen sie um zum Aufzug zu kommen, vermutlich schon auch ein Stück durchs Treppenhaus laufen? Wozu brauchst du den Aufzug? Für mich passt er nicht wirklich in meine Vorstellung des (Treppen)Hauses, ich würde daher wohl gleich zu den Treppenstufen springen.

Gab mächtig Ärger mit dem Hauswart. Er lachte in sich hinein, als er an die Scherben in den Fersen seiner Gummistiefel dachte.
"Er" der Hauswart? Das fand ich kurz verwirrend. Da du nicht aus der Ich-Perspektive erzählst, könntest du an dieser Stelle auch ein wenig das "Aussehen" des Ich-Er beschreiben. Er bleibt seltsam "unsichtbar", gerade weil du ansonsten viele schöne Details eingebaut hast.

Ein Rückzugsort für eine verlorene Seele.
Ist mir zu pathetisch für den Text. Ich würde lieber ein paar auf eine bestimmte Weise ausgedrückte Zigarettenkippen in den Aschenbecher legen und dieses Hinsehen für sich selbst sprechen lassen.
Es wunderte ihn, dass sich alle Fenster öffnen ließen. Dort, wo er wohnte, konnte man die Fenster nicht vollständig öffnen. Aus Sicherheitsgründen. Lächerliche Bevormundung.
Das fand ich im nachhinein sehr seltsam. Wenn er mit der Absicht hingegangen ist, sich aus dem Fenster zu stürzen, dann doch sicher auch mit dem Gedanken, dass sich das Fenster öffnen lässt, vermutlich hat er sich sogar deshalb dieses Haus ausgesucht? Und woher weiß er zu diesem Zeitpunkt, dass sich die Fenster öffnen lassen? Für mich wäre es schlüssiger, wenn dort etwas in diese Richtung stünde: Der Fensterflügel klapperte im Wind, er drückte ihn zurück in den Rahmen, das Scharnier klemmte und ein Stück abgeblätterte weiße Farbe blieb an seiner Hand kleben. Es wunderte ihn nicht, dass sich hier alle Fenster öffnen ließen. ...

Kalte Luft, ein erbarmungslos blauer Himmel – ein schöner Tag zum Fliegen.
Das Ende mag ich. Vor allem, weil es offen bleibt. Man kann die Geschichte weiterspinnen und ihn vor allem auch nicht springen lassen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.04.2012, 12:35

Hallo Henkki,

ich finde deine Geschichte nicht zu vorhersehbar. Als ich sie las, kam mir, trotz der Andeutungen, überhaupt nicht in den Sinn, wohin das Ganze führen würde. Der Schluss war für mich echt eine Überraschung.
Erst als den Schluss gelesen hatte, wurden mir die Andeutungen im Nachhinein klar.
Und, wie Flora schon schreibt, er könnte am Schluss ja auch nur den Zettel fliegen lassen.

Liebe Grüße
Gabi
P.S. Mit den Fenstern stimme ich Flora zu. Er dürfte nicht überrascht sein, dass sie sich öffnen lassen.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 25.04.2012, 14:06

Danke für die Anmerkungen. Sing gut, ich versuche noch, sie verarbeiten bis Samstag.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 25.04.2012, 14:09

Was das Treppenhaus angeht, da habe ich ein Bild im Kopf, wo man in der Eingangshalle erst mal nur den Fahrstuhl sieht. Das Treppenhaus ist hinter einer Glastür, selten für seinen eigentlichen Zweck genutzt. Angst- und Fluchtraum gleichzeitig.
Das mit den Fenstern stimmt, das Wundern muss raus. Der Unterschied zu seinem Wohnhaus kann bleiben, denke ich.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 25.04.2012, 16:47

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:23, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Zakkinen » 25.04.2012, 22:45

Hallo Rosebud,
danke auch Dir. Das hatte und hatte und das hatte, das lasse ich so. Das ist ein wenig mein Stil und liest sich gut für mich. Das überflüssige damals ist weg. Siehe oben.
Danke und Gruß
Henrik

Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.04.2012, 00:37

Hallo Henkki,

deine zweite Fassung finde ich sehr gut. Würde ich jetzt so lassen.

Liebe Grüße
Gabi


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