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Wo die Seele baumelt
Gestern musste sie fallen, die Eiche von gegenüber. Sie hing schon so weit über die Straße, dass sie beim nächsten Sturm auf unser Haus zu stürzen drohte.
In der Küche ist es sehr viel heller und gleichzeitig unheimeliger geworden. Immer wieder fängt sich mein Blick in der Tücke* der Lücke, dort, wo mir früher die Zweige zugewinkt haben, manchmal stürmisch jubelnd oder mürrisch grantelnd, manchmal auch einfach nur so, wie man einen Nachbarn im Vorübergehen grüßt.
'Denkst du, dass Bäume eine Seele haben?'
Ich überlege. Es ist typisch für meine Tochter, so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen. Nein, Seele würde ich nicht sagen, weil ich eine gewisse Scheu vor so großen Begriffen habe.
Ob ein Baum nicht doch durch all das, was er aufnimmt, sammelt, bewahrt, durch all das, was man in ihn hineinlegt, beseelt ist?
Natürlich war sie nicht bloß ein Baum, die alte Eiche, die wohlwollend zusah, wie unser Haus in die Höhe wuchs, obwohl wir ihr dadurch Licht und Aussicht nahmen. Dafür boten wir ihr eine Menge Abwechslung. Sie sah zu, wie ich mit den Kleinen Kekse ausgestach; damals, als sie mir noch nicht über den Kopf gewachsen waren, als sie nicht nur Schmutzwäsche abladen und umpacken kamen, Kuchen und Kekse ungehemmt verdrückten, ohne an das Zuviel an Fett und Zucker zu denken.
'Als Kind, hab ich mir vorgestellt, sie wäre eine alte, weise Frau. Manchmal hat sie mir zugezwinkert, als wolle sie sagen, mach nur, ist schon in Ordnung.'
Marie spricht ohne Scheu aus, was ich zwar so nie gedacht, wohl aber auch des öfteren empfunden habe. Das ist Marie, direkt offen, ein bisschen versponnen ... und mir so nah.
Ja, die Eiche war wie eine Nachbarin, der ich mich jederzeit anvertrauen konnte, ein Muster an Diskretion und Einfühlung.
Sie musste mitanhören, wie wir laut und lebhaft um die Ausgehzeiten feilschten, und sie war da, wenn ich an der sonnengelben Jumbotasse mit heißem Tee meine Hände wärmte und unruhig darauf wartete, dass sie alle wieder heil heimkämen, übersprudelnd von dem, was sie erlebt hatten.
Sicherlich blieb ihr auch nicht verborgen, als es zwischen meinem Mann und mir immer einsilbiger wurde.
Sie spürte, wie ich mich grämte, als die Lebendigkeit in unserer Beziehung unterm Graustaub der Tage zu ersticken drohte, alles selbstverständlich und glanzlos wurde; wie ich dagegen ankämpfte und verlor, wie ich trauerte und resignierte.
Sie sprach zu mir und tröstete mich, als die Jüngste für ein Jahr nach Frankreich ging und das Haus mit einem Mal so still und leer wurde. Und ich beneidete sie ein wenig, weil sie den ganzen langen Winter über ihre dürren Blätter behielt, erst nach und nach abgab, als sie schon in frischem Frühlingsgrün verjüngt dastand.
Noch liegen einige ihrer raschelbrauen Blätter in unsrem Garten verstreut, aber es werden keine mehr nachwachsen in diesem Frühling.
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*auf Nifls Anregug hin gestrichen. Danke!
Wo die Seele baumelt
Hi Poeta,
ich mag den Text. Er wird deinem Nick gerecht aber nicht aus einer bemüht wirkenden Haltung heraus. Und das ist die Kunst, eine poetische Wirkung zu transportieren, ohne dass es gewollt rüberkommt und dadurch genau das Gegenteil bei mir als Leser auslöst. "baumeln" ist im Kontext genial. Es ist ein Text übers Älterwerden, über stete Veränderungen, die irgendwann als Wechsel wahrgenommen werden kann, aber später erst. Und über Begleitung, Gemeinsamkeit und Tod. Nur fehlt die Erneuerung und das macht ihn traurig, deinen Text, schirmt ihn aber auch vor der ewigen stereotypen Circle of Life Thematik ab...
Finde ich durchweg gelungen. Irgendwo war ein Vertippser, aber den finde ich jetzt nicht mehr.
Gruß
ich mag den Text. Er wird deinem Nick gerecht aber nicht aus einer bemüht wirkenden Haltung heraus. Und das ist die Kunst, eine poetische Wirkung zu transportieren, ohne dass es gewollt rüberkommt und dadurch genau das Gegenteil bei mir als Leser auslöst. "baumeln" ist im Kontext genial. Es ist ein Text übers Älterwerden, über stete Veränderungen, die irgendwann als Wechsel wahrgenommen werden kann, aber später erst. Und über Begleitung, Gemeinsamkeit und Tod. Nur fehlt die Erneuerung und das macht ihn traurig, deinen Text, schirmt ihn aber auch vor der ewigen stereotypen Circle of Life Thematik ab...
Finde ich durchweg gelungen. Irgendwo war ein Vertippser, aber den finde ich jetzt nicht mehr.
Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
zugewinkt - zugewunken?
Tücke der Lücke - finde ich ein bisschen zu verspielt
und mir so nah -passt das zu -so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen
ich habe ihn, ich habe ihn: trauert
Tücke der Lücke - finde ich ein bisschen zu verspielt
und mir so nah -passt das zu -so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen
ich habe ihn, ich habe ihn: trauert
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
hi nifl,
dein so wohlwollender komm
ist mir eine große freude, gerade weil ich in der prosa noch ein wenig wackelig unterwegs bin und nie ganz sicher, ob ich nicht doch gelegentlich unter die kitschgrenze rutsche.
du fasst sehr schön zusammen, worum es mir in diesem text ging, nix großartiges, überraschendes, nix neues. das leben gleitet so dahin, mal hängst ein wenig durch, dass steigst wieder an...
ich meine da grundsätzlich zwei gegenpole verwebt zu haben:
- eh man sichs versieht, ist das leben auch schon vorbei - und
- wir leben weiter in unsren kindern, in nachkommenden generationen, dazu müssen wir sie aber los- und eigene wege gehen lassen
und da ist eigentlich noch unterschwellig ein drittes, sozusagen der Rahmen für die ganze weberei:
- das leben ist schön und kostbar und will ausgekostet werden
jedenfalls so die absicht!
da hast du recht, es ragt ein bisschen raus, ich habe versucht, das in 'Graustaub der Tage' etwas dezenter nachklingen zu lassen. das allein ist aber wohl zu wenig, um der person 'wortfantasie' zuzuordnen, wie ich das gern gehabt hätte. ich denke, ich werde die 'tücke' rausnehmen.
bei der gelegenheit, werde ich dem 'trauert' am ende noch ein 'e' spendieren. danke für den fehlerhinweis. ich lese über sowas immer drüber, weil ich ja weiß, wies sein soll.
für dieses nachhaken bin ich dir sehr dankbar. ich denke schon, dass es passt. denn dieses 'mir würde das nie einfallen' wird doch sofort relativiert:
es geht eigentlich nur um den begriff seele und das laut aussprechen. in gedanken formuliert sie 'ob nicht doch ... beseelt ist' da steckt sogar 'seele' mitdrin, wodurch sie die erste aussage schwächt, zurücknimmt.
sie betrachtet die tochter als 'weiterentwicklung' des eigenen selbst, weil si auf den punkt bring und ausspricht, was sie nur diffus fühlt. jedenfalls ware das meine gedanken dazu.
also, ich nehm jetzt die tücke raus und geb dem trauert ein 'e' und lass alles weiter vorerst so. vielleicht meldet sich ja noch jemand mit neuen impulsen.
vielen herzlichen dank für dein feedback, das mich wirklich sehr ermutigt und gefreut hat.
liebe grüße, poeta
ps.: duden meint 'gewinkt' und 'gewunken' beides möglich, 'gewunken' eher umgangssprachlich; hier bei uns ist aber auch umgangssprachlich 'gewinkt' üblich.
dein so wohlwollender komm

du fasst sehr schön zusammen, worum es mir in diesem text ging, nix großartiges, überraschendes, nix neues. das leben gleitet so dahin, mal hängst ein wenig durch, dass steigst wieder an...
ich meine da grundsätzlich zwei gegenpole verwebt zu haben:
- eh man sichs versieht, ist das leben auch schon vorbei - und
- wir leben weiter in unsren kindern, in nachkommenden generationen, dazu müssen wir sie aber los- und eigene wege gehen lassen
und da ist eigentlich noch unterschwellig ein drittes, sozusagen der Rahmen für die ganze weberei:
- das leben ist schön und kostbar und will ausgekostet werden
jedenfalls so die absicht!
Tücke der Lücke - finde ich ein bisschen zu verspielt
da hast du recht, es ragt ein bisschen raus, ich habe versucht, das in 'Graustaub der Tage' etwas dezenter nachklingen zu lassen. das allein ist aber wohl zu wenig, um der person 'wortfantasie' zuzuordnen, wie ich das gern gehabt hätte. ich denke, ich werde die 'tücke' rausnehmen.
bei der gelegenheit, werde ich dem 'trauert' am ende noch ein 'e' spendieren. danke für den fehlerhinweis. ich lese über sowas immer drüber, weil ich ja weiß, wies sein soll.
und mir so nah -passt das zu -so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen
für dieses nachhaken bin ich dir sehr dankbar. ich denke schon, dass es passt. denn dieses 'mir würde das nie einfallen' wird doch sofort relativiert:
Nein, Seele würde ich nicht sagen, weil ich eine gewisse Scheu vor so großen Begriffen habe.
Ob ein Baum nicht doch durch all das, was er aufnimmt, sammelt, bewahrt, durch all das, was man in ihn hineinlegt, beseelt ist?
es geht eigentlich nur um den begriff seele und das laut aussprechen. in gedanken formuliert sie 'ob nicht doch ... beseelt ist' da steckt sogar 'seele' mitdrin, wodurch sie die erste aussage schwächt, zurücknimmt.
sie betrachtet die tochter als 'weiterentwicklung' des eigenen selbst, weil si auf den punkt bring und ausspricht, was sie nur diffus fühlt. jedenfalls ware das meine gedanken dazu.
also, ich nehm jetzt die tücke raus und geb dem trauert ein 'e' und lass alles weiter vorerst so. vielleicht meldet sich ja noch jemand mit neuen impulsen.

vielen herzlichen dank für dein feedback, das mich wirklich sehr ermutigt und gefreut hat.

liebe grüße, poeta
ps.: duden meint 'gewinkt' und 'gewunken' beides möglich, 'gewunken' eher umgangssprachlich; hier bei uns ist aber auch umgangssprachlich 'gewinkt' üblich.
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