Wilhelmina

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MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 25.07.2006, 15:02

Wilhelmina


Kalte Luft an Füßen und Waden ließ Klara aus ihrem unruhigen Schlaf aufschrecken. Reflexartig versuchte sie, das mollig warme Federbett festzuhalten. Aber gegen eine hellwache Wilhelmina, wie ihre pelzige Hausgenossin gerufen wurde, hatte sie keine Chance
"Frau Wilhelmina vom Fehlatal, lass das!"
Die Perserkatze ignorierte diese spezielle Art des Ausgeschimpftwerdens. Mit ihren Zähnen packte sie Frauchens Federbett, zog es vollends vom Bett.
"Wilhelmina, was soll der Blödsinn. Es ist doch noch dunkel, Liebes. Viel zu früh zum Aufstehen."
Die Katze kümmerte sich nicht um die Nörgeleien Klaras. Mit Krallen und Zähnen ging sie aufs Federbett los wie auf einen Feind, und nach wenigen Augenblicken flogen die ersten Federn, verteilten sich wie übergroße Schneeflocken auf Bett und Fußboden. Murmelnde Laute, wie nur Katzen sie hervorbringen können, quittierten Klaras vergebliche Versuche, die Decke zurückzuerobern.
"Elendes Viech!", herrschte Klara die Katze an. "Was ist bloß in dich gefahren? Zu nachtschlafender Zeit so einen Schwachsinn zu veranstalten. Hast du noch alle Krümel aufm Kuchen?"
Wilhelmina ließ vom Federbett ab. Mit wenigen Sätzen war sie bei der Zimmertüre. Hier drehte sie sich in rasendem Tempo im Kreis, als wolle sie ihren eigenen Schwanz fangen, jaulte, als hätte sie sich selbst gebissen.
Klara hockte noch immer auf ihrem Bett. Verschlafen, total perplex von dem aberwitzigen Verhalten ihrer Hausgenossin und mit einem Gefühl von Beklemmung versuchte sie, die Situation zu analysieren. Kein Überschallknall einer Militärmaschine hatte Wilhelmina so in Schrecken versetzt. Davon wäre sie, Klara, selber wach geworden. Zudem hatte sich die Perserkatze während der letzten drei Wochen an diese Art 'Sound of Freedom' gewöhnt. Außerdem war das Manöver seit gestern zu Ende.
Missmutig stand Klara auf, ging zum Fenster, zog die Rollläden hoch. Ihr Blick fiel auf die fünf Klewiane, die im Dämmerlicht wie futuristische Dinosaurier auf der Hochebene thronten. Sie bewegten sich nicht, produzierten mangels Wind keine Energie, somit keinen Infraschall.
Wilhelmina hasste den Windpark. Die Infraschallwellen waren für die Katze eine Qual. Auch Klara litt seit Inbetriebnahme der Klewiane unter Beklemmungen und Angstzuständen. Symptome, die von kaum jemandem ernst genommen wurden. Besonders nicht von Schulmedizinern.
Ein Vibrieren im Unterkiefer, so als würde sie auf den Gleisen eines herannahenden Güterzuges stehen, ließ sie aufstöhnen. Schweißperlen tropften von der Stirn, wie sie registrierte. Ihre Hände zitterten.
"Oh Mann", stöhnte sie leise, "jetzt machen mich die Dinger schon fertig, wenn sie gar nicht laufen. Scheiß Mandelkern! Kann der bei mir nicht so gestrickt sein, wie bei anderen auch?! Muss der sich bei der kleinsten Kleinigkeit melden und Alarm schlagen?!"
Die Katze gab es auf, den eigenen Schwanz zu jagen, bearbeitete mit ihren Krallen nun die Zimmertüre, heulte mit unverminderter Lautstärke weiter. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Und das Vibrieren in Klaras Unterkiefer wurde von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Die Wände ihres Schlafzimmers schienen die Schwingungen des Kiefers aufzunehmen und zu verstärken.
Um sich ein bisschen abzulenken, suchte sie den Bücherstapel auf dem Beistelltisch ab: zwei Krimis, drei Romane, einige alte Heimatkalender, die längst ins Altpapier gehörten ... Erinnerungen, klarer und schärfer als jede normale Sinneswahrnehmung oder Gedächtnisleistung.
"Oh nein! Alles nur nicht das!"
Mit fahrigen Fingern schlüpfte sie in die Kleidungsstücke, die noch vom Vortag auf dem Stuhl neben dem Bett herumlagen. Geldbörse und Schlüsselbund vom Nachttisch verschwanden in ihren Jeanstaschen. Mit der Linken schob Klara ihre Hausgenossin ein Stück zur Seite, öffnete mit der Rechten die Türe. Wie von Furien gejagt, so schoss es der Frau durch den Kopf, rannte Wilhelmina aus dem Haus.
In Klaras Arbeitszimmer herrschte altpreußische Ordnung. Die beiden Ordner mit den wichtigsten Papieren wurden aus dem Regal gezogen. Darin befand sich alles, was der Mensch des 21. Jahrhunderts zum Überleben braucht.
"Hoffentlich habe ich noch genug Zeit", murmelte sie leise. "Minuten oder Stunden, das ist hier die Frage. Wenn sich wenigstens die Leutchen in den Foren einig wären! Hoffen wir das Beste."
In ihrem Kalender, ordentlich auf Seite Zwei, waren die wichtigsten Nummern mit den dazugehörigen Kurzwahlnummern aufgelistet. Sie drückte die erste Nummer, ließ es klingeln. Dreimal, fünfmal. Endlich meldete sich Viktor, der einzige Mann, der ihr in den letzten Jahren etwas bedeutet hatte. "Hör, Viktor. Ich hab nicht viel Zeit. Du musst machen, dass du fortkommst. Hörst du, Viktor. Du musst fort. Es gibt eine Katastrophe, wie wir sie nicht einmal am 3. September 1978 bei uns auf der Alb hatten. Wir haben Infraschallwellen, ich spüre sie, wie ich sie noch nie gespürt habe. Glaub es mir Viktor, glaub es einfach."
Sie wartete nicht auf die Reaktion des jungen Mannes. Knallte den Hörer auf die Gabel, wählte die nächste Nummer, wiederholte ihren Spruch. Ignorierte die Angst, die ihre Kehle hochkroch wie viel zu saures Mineralwasser. Viel zu viel anerzogenes Pflichtgefühl und die vage Hoffnung, dass die Infraschallwellen ein langsames Aufbauen der Spannungen in der Erdkruste bedeuteten. Hätte es sonst nicht längst krachen müssen?
Ihr Vetter Gisbert erklärte sie für verrückt, beschimpfte sie mit jenen unflätigen Worten, die er für alle übrig hatte, die nicht in sein Raster passten. Verwandtschaft mit 'Spintistereien und Übersinn' gehörte auch dazu.
Monika, ihre Freundin, hörte aufmerksam und höflich zu, wie es immer und bei jedermann tat. Sie glaubte ihr kein Wort, riet zu Baldriantropfen in warmer Milch, ihr Tipp für jede Lebenslage.
Fünf Anrufe insgesamt, einschließlich Polizei und Feuerwehr, mehr stand nicht auf ihrer Notfallliste, wie Klara mit einem bitteren Lächeln registrierte. Sie hatte ihre Pflicht getan, würde Ruhe haben, auch vor ihrem Gewissen. Sterben müssen als Strafe fürs Ablehnen und Auslachen war zu viel, das verdiente niemand.
Jetzt konnte sie an sich selber denken, musste es auch, denn das Vibrieren in ihrem Kiefer war unerträglich geworden.
Das Luftholen machte ihr Probleme, zwang sie, ganz bewusst ein- und auszuatmen. Die Schritte zur Haustüre musste sie sich befehlen, ebenso wie das Rufen nach Wilhelmina.
Draußen, vor der Garage, kratzte eine vollends hysterische Perserkatze am Holztor, jaulte und kreischte mit unverminderter Lautstärke. In Rekordzeit wurden Papiere und Katze im Wagen verstaut, los ging die Fahrt. Raus aus dem Fehlatal, so schnell wie möglich auf die Hochebene, immer nach Norden. Dort konnte sich die Erde zwar immer noch unter den Füßen auftun, aber man war wenigstens vor herunterfallenden Felsbrocken sicher.

Anderthalb Stunden später, die Sonne ging irgendwo hinter dem Dunst des Stuttgarter Talkessels auf, gönnte sich Klara eine kurze Rast an einer Autobahntankstelle. Sie brauchte dringend einen heißen Kaffee, auch Benzin, musste nachdenken.
Der Mann an der Kasse schaute nach draußen, tippte mechanisch die Nummer der Zapfsäule ein, die anderen üblichen Daten folgten. Um diese frühe Tageszeit waren fast nur Lkws und Geschäftsleute unterwegs. Die Frau vor ihm passte weder in das eine noch in das andere Schema. Und der klapprige Geländewagen gehörte eher in den Wald als auf die Autobahn.
Das Nummernschild schreckte ihn auf.
"Aus Sigmaringen kommen Sie? Seit zwei Stunden überschlagen sich die Nachrichtensprecher fast mit ihren Horrormeldungen über das Erdbeben. Da unten soll ja kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Wir hier oben haben kaum etwas mitbekommen davon. Mann, da haben Sie aber ganz schön Glück gehabt, dass sie unterwegs waren."
Klara nickte.
"Ja, ich hab eine Menge Glück gehabt. Wenn meine Katze nicht mitten in der Nacht ein Heidentheater veranstaltet hätte, wäre ich jetzt nicht hier. So bin ich noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen, hatte auch sonst Glück."
Der Tankwart zog es vor, seine Meinung für sich zu behalten. Die Frau hatte Schlimmes hinter sich; wem schadete es, wenn sie an übersinnliche Katzen glaubte. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, schob ihr das Wechselgeld rüber. Eine Tasse Kaffee und ein Stück Bienenstich vom gestrigen Abend auf Kosten des Hauses folgten. Die Frau lächelte dankbar, nahm am Tresen gegenüber der Kasse Platz. Das bisschen Fürsorge tat ihr gut.
"Ich muss weiter, zu meiner Kusine nach Mannheim", verabschiedete sie sich nach ein paar Minuten Geplauder über Haustiere, Instinkte und Glück im Unglück. Der Mann war nett, stellte keine neugierigen oder ungläubigen Fragen, trotzdem mochte sie nicht bleiben, ihm erst recht nicht die komplette Geschichte erzählen. Einfach nur weiter. Nicht länger die dunstige stuttgarter Luft atmen müssen.
Auf dem Rastplatz war es merklich voller geworden. Auch musste sie sich beeilen, wenn sie nicht in den Berufsverkehr kommen wollte. Müdigkeit machte sich zudem bemerkbar, und ein erneutes Vibrieren im Unterkiefer. Nicht zu vergleichen mit dem, was sie hinter sich hatte, aber auch nichts, was sie ignorieren konnte. Infraschall von irgendwelchen großtechnischen Anlagen in Autobahnnähe oder der Vorbote eines Nachbebens? Im Moment einerlei, sie war ohnehin auf dem Weg nach Norden. Konnte und musste sonst nichts mehr tun.
Zuletzt geändert von MarleneGeselle am 02.08.2006, 19:31, insgesamt 3-mal geändert.

Birute

Beitragvon Birute » 25.07.2006, 15:19

Eine tolle Geschichte, Marlene.

Ich bin sicher, dass sie genau so geschehen könnte.

Lieben Gruß
Birute

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 26.07.2006, 08:15

Hallo Birute,

danke für die schnelle Antwort. Bei Geschichten zwischen Realität, also wissenschaftlich erhärteten Fakten, und darauf aufbauender Phantastik/SiFi weiß ich nie so genau, wann ich was noch draufpacken kann oder nicht. Das ist manchmal eine ziemliche Gratwanderung bei mir. Um mehr Spannung aufzubauen "etwas mehr" oder um alles subtil im Hinterkopf des Leser stattfinden zu lassen "einiges weniger" zu bringen, ist die strittige Frage.

Liebe Grüße
Marlene

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 27.07.2006, 11:14

Hallo Marlene,

sehr schön und fesselnd geschrieben. Am Ende löst es sich aber so unbestimmt auf, da könnte ich mir etwas Spannenderes vorstellen. Sagen wir mal:
Klara hat ihre Katze im Auto, und als sie nach dem Bienenstich wieder in dasselbige steigt, beginnt die Katze, wieder durchzudrehen (es wird also auch Stuttgart erwischen?...open end)...
Das unterstriche vielleicht das Mystische an der Sache eindrucksvoller?!?

Nur so ein Vorschlag.

Gruß vom Tom.

p.s.: Müssten bei diesen beiden Sätzen nicht Fragezeichen gesetzt werden?
Kann der bei mir nicht so gestrickt sein, wie bei anderen auch? Muss der sich bei der kleinsten Kleinigkeit melden und Alarm schlagen?

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 28.07.2006, 09:51

Hallo Tom,

vielen Dank für deinen Vorschlag. Ein Nachbeben wäre völlig glaubwürdig, ist ja schon mehr als einmal passiert. Die Katze würde ich außen vor lassen, die hockt im Wagen. Aber da ist ja immer noch Klaras Unterkiefer!

Wegen der Fragezeichen: Klara weiß ja definitiv, dass ihr Mandelkern Veränderungen aufweist und körperliche Reaktionen hervorruft. In diesem Falle ist das keine Frage, sondern ein Aufstöhnen. Ich denke, ich mache da in der Verbesserung Ausrufezeichen hin.

Liebe Grüße
Marlene

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.07.2006, 09:58

Vielleicht entdeckt ja Klara beim Reiben des Unterkiefers, dass sich seitlich der Mundwinkel plötzlich so seltsame stachelige Borsten bilden... grusel....!!!!!

Kleiner Scherz...

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Beitragvon Pjotr » 29.07.2006, 03:18

Hallo Marlene,

ich schließe mich den Komplimenten meiner Vorredner an.

Was die Fragezeichen nach rhetorischen Fragen betrifft: ich habe mich auch immer gefragt, wie das geregelt ist. Im Wahrig, "Zeichensetzung", 2002, lese ich gerade, daß auch nach rhetorischen Fragen, also Fragen, wo keine Antwort erwartet wird, stets ein Fragezeichen folge. Tom hat wohl richtig gerochen.


Miau

Pjotr

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 31.07.2006, 08:19

Hallo Pjotr,

danke für deinen Tipp mit dem Wahrig. Bei mir daheim stapeln sich die Duden, klüger bin ich nicht dadurch geworden - seuf! Mach ich Fragezeichen hin, wird unklar, was gemeint ist, mache ich Ausrufezeichen hin, stimmt die Rechtschreibung nicht - stöhn! Da muss ich wohl auf Erleuchtung warten.

Liebe Grüße
Marlene

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 02.08.2006, 19:23

Hallo,

oben habe ich gerade die neue Version reingesetzt. Klaras innerer Zwiespalt sollte jetzt besser rüberkommen, hoffe ich.

Den Schluss habe ich, nochmals danke für den Tipp, Tom, auch geändert.

Nochmals meinen Dank für eure Tipps.

Liebe Grüße
Marlene


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