Selten war es mir so kalt gewesen wie im Zug von Tel Aviv nach Jerusalem. Ich hatte mich für die Wüste angezogen, kurze Hose und (zum Glück) zwei T-Shirts. Ein junger Soldat, eigentlich sind alle Soldaten jung, schlief. Ein erfolgreicher Geschäftsmann stieg ein und machte auch die Augen zu, er hatte einen feinen Aktenkoffer bei sich. Der Zug hielt an und er öffnete die Augen und fragte mich, auf Hebräisch, ob das die Stadt so und so sei. Eigentlich sagte er nur den Namen der Stadt.
Ich wollte Wüste sehen, sah aber nur Grünes. Israel ist das einzige Land auf der Welt, das am Ende des 20. Jahrhunderts einen größeren Baumbestand als am Anfang desselben aufwies. Bei allen anderen Ländern war es umgekehrt. Israel ist der Wille, die Wüste in einen Garten zu verwandeln. Streckenweise, als ich aus dem Fenster schaute, fühlte ich mich in Europa, in Rheinland-Pfalz.
Jerusalem enttäuschte mich. Es ist ein Riesenbasar. Als wir mit dem Taxi zur Altstadt fuhren, erblickte ich eine Fußgängerzone mit netten Cafés ... Wir hätten gleich dort aussteigen sollen. Mir war kalt und ich hatte Hunger, es war fast Mittag und wir hatten nichts gefrühstückt, denn wir hatten das Hotel schon sehr früh verlassen. In einem kleinen Restaurant tranken wir einen Cappuccino und teilten uns einen Käsetoast. »Das hier ist ein libanesisches Restaurant«, hatte uns der alte Besitzer gesagt, der wie ein Bruder von Jean Gabin aussah. Der Cappuccino kostete 35 Shekel, schmeckte aber vorzüglich, mit einem Cinammon Touch. Unter dem Käse waren leider auch Tomatenstücke, wovon Heike begeistert war, ich aber bin der Meinung, Tomaten haben in einem Käsetoast nichts zu suchen.
Um zur Toilette zu gehen, musste ich an einem Tisch vorbei, an dem die ganze libanesische Familie saß, Freunde und Verwandte. Einer musste seinen Stuhl rücken, damit ich vorbei konnte, die Toilette war fast direkt vor dem Tisch, sehr klein und mit Spiegelwänden. Alles schien nachträglich gebaut worden zu sein. Zum Glück musste ich nur pinkeln.
Wir betraten den christlichen Teil des Basars. Ich wollte mir unbedingt einen Pulli kaufen und schnell fanden wir den passenden Laden. Der junge Mann gab mir einen grauen Pulli ohne jedes Muster zum Anprobieren und ich wollte ihn nicht mehr ausziehen. »Sie können haben einen mit einem schönen Motiv,
was sie wollen«, sagte er und zeigte mir alles, was da an der Wand hing, I LOVE ISRAEL und so weiter.
Ich liebe Israel, aber ich wollte diesen grauen Pulli behalten. »Und Socken, führen Sie Socken?«, fragte ich. »Leider nicht«, erwiderte der junge Händler, »aber hier ganz in der Nähe hat ein Kollege welche, ich kann Ihnen sofort welche holen.« Ich dachte, er tat das aus Nächstenliebe, wir waren schließlich in Jerusalem. Er verschwand und ließ uns für etwa fünf Minuten alleine in dem Laden, wo es Tausende von Sachen gab, auch ganz kleine, die man als Souvenirs hätte mitnehmen können … Da war er wieder mit zwei Paar Socken in der Hand. »Sie haben Glück gehabt, der Kollege hatte welche. Die hier sind die besten, die es gibt.« Ich habe noch nie so viel für ein Paar Socken bezahlt, ich zog sie gleich an, denn ich hatte nur Sandalen an und es war recht frisch in dieser Stadt. Wir verabschiedeten uns von dem Händler, der immer noch nicht glauben konnte, dass wir ohne zu feilschen bezahlt hatten. »You saved my life«, sagte ich zu ihm, als wir uns mit einem Händedruck verabschiedeten.
Wir liefen zwei-, drei-, vierhundert Meter geradeaus, wir sahen rechts und links nur Geschäfte. Manche wollten uns hereinlocken. Wir wurden in verschiedenen Sprachen angesprochen. Heike wollte die »Via Dolorosa« sehen, worüber sie in einem Führer gelesen hatte. Der Weg Jesu mit dem Kreuz zum Hinrichtungsplatz. Sieben Mal ist er dabei gefallen. Wir liefen und stolperten und fragten und dann stellte es sich heraus, dass wir mehr oder weniger auf diesem Weg waren, nur dass es damals nicht so viele Geschäfte gab. Ich selbst hätte gerne jemanden mit einem Kreuz auf seinen Schultern gesehen, es soll solche geben, das stand auch im Reiseführer. Ich hatte meine Digitalkamera dabei, machte aber kaum Fotos, denn hier gab es nichts Außergewöhnliches zu fotografieren.
Da fiel mir die Klagemauer ein. Wir fragten Passanten, wo sie sei. Ich wusste nicht genau, wie sie auf Englisch heißt. Ich fragte nach »Weeping Wall«, »Wall of Lamentations« … nichts. Dann sagte ich einfach, wie in dem berühmten Lied, »The Wall«, und es klappte, jemand wies uns die Richtung aus diesem labyrinthischen Basar. Aber es lohnte sich, denn vor dem Stück Mauer gibt es einen breiten, großen, hellen Vorplatz. Man muss Schlange stehen, um direkt an die Mauer zu gelangen. Vielleicht hätten wir es gemacht, aber dann sahen wir, dass Männer und Frauen getrennt klagen müssen, und verzichteten darauf. Wir hatten wieder Hunger, nein, nur Lust auf etwas Exotisches und betraten ein akzeptabel aussehendes Lokal. Am Nebentisch saß ein junger, erfolgreicher Geschäftsmann mit einer attraktiven Frau. Er hatte eine dicke Armbanduhr, so groß und so dick, dass man sie nicht übersehen konnte. Ich musste immer wieder hinblicken, versuchte mir auszurechnen, wie viel sie gekostet haben musste. Ich kam zu dem Schluss, dass sie sehr wahrscheinlich doch nicht so teuer gewesen war.
Ein Mönch und zwei Damen erschienen, sie schienen auch etwas zu sich nehmen zu wollen. Draußen war alles besetzt, drinnen aber machte das erwähnte Pärchen Anstalten, das Lokal zu verlassen, und die zwei Damen belagerten den gleich frei werdenden Tisch. Der Mönch, ein dicker Philippiner, fragte den Geschäftsmann, wo er her sei. »I am Israeli«, sagte ganz ruhig der junge Mann. »How many languages do you speak?«, fragte ich den Mönch. »Ten«, antwortete er. Er war überall auf der Welt gewesen. Er hatte eine braune Kutte und einen gelben Gürtel, wahrscheinlich gehörte er zu dem spanischen Orden, der damals die Philippinen eroberte.
Plötzlich sah der Mönch, dass draußen ein Tisch frei wurde, stürzte sich dorthin und belagerte ihn mit der Autorität seines Gewands. Er blieb da stehen, bis die Damen sich zu ihm gesellten. Der Tisch musste noch sauber gemacht werden. Der Mönch bot der Bedienung seine Hilfe an, wollte sogar selbst den Tisch säubern. Die Damen schienen gerührt von soviel Demut des offensichtlich von ihnen hoch verehrten Mönches.
Der von mir gekaufte Pulli erwies sich als überflüssig für den Rückweg, den wir mit einem kleinen Bus machten. Mittlerweile war es sehr warm geworden. Neben mir saß ein älterer Jude, der mich auf einmal auf Englisch fragte: »Where are you from?« Er war sehr freundlich und nicht penetrant, so ließ ich mich auf einen kleinen Small-Talk ein. Es stellte sich heraus, dass er ein Amerikaner aus Miami war. Er lebte seit über dreißig Jahren in Tel-Aviv, hatte zwei erwachsene Töchter. Ich wollte ihn fragen, ob er »Miami Vice« kannte, die Frage schien mir aber zu banal. Er sagte, er fühle sich in Israel sicherer als in den USA. »Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Land«, sagte er zu mir. Ich fing an, ihm zu erzählen, dass Ecuador ein relativ kleines Land sei, mit vielen sehr verschiedenen Regionen, man kann z. B. mit dem Flugzeug in weniger als einer Stunde die hohen Berge mit dem Meer vertauschen ... Mir fiel nichts mehr ein, da schaute ich zu ihm und sah, dass er eingeschlafen war.
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