Karin

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 03.02.2014, 17:22

Karin

Der kühle Ostwind hatte bereits Ende Oktober riesige Schneemassen in unser Tal transportiert, viel zu früh, und schon tauten sie wieder ab. Im Stadtwald war ein Geräusch, als wenn tausende Wasserhähne tropften. Vereinzelt lagen Schneeplacken herum wie eine versprengte Schafherde. Und mit der aufkommenden Dämmerung schlichen graue Dunstschwaden umher.

Etwas Luftbewegung kam auf und vertrieb den Nebel. An den Ästen der Bäume klammerten sich noch einige Blätter mit den Resten ihrer versiegenden Lebenskraft; in den Wipfeln säuselte ein leichter Wind, und für einen Moment war mir, als hörte ich eine weibliche Stimme meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“ Wanderer hatten immer wieder von einer umhergeisternden Karin berichtet.

Hinter einem verwaisten Hausbrunnen schlenderte ich über eine Wiese, die abschüssig an einem Bachlauf endete. Inzwischen verzauberte der Halbmond mit seinem gedimmten Licht die Landschaft. Bauchhoch versank die Flur in silbernen Nebelschleiern. Wie durch ein Getreidefeld watete ich darin herum, blickte staunend über die dunstende Fläche weit hinauf in einen gigantischen Himmel. Die Sterne schienen der Erde ganz nahe; so tauchte ich ein in die Unbegreiflichkeit dieses endlosen Raumes.

In der Feuchtwiese am Waldrand war es still. Zarte Nebelgespinnste krochen den Boden entlang, und etwas später hinter einer Anhöhe tauchten in der Ferne verschwommen die Lichter von einem Bauernhof auf. Ruhig und verschlafen lag er da, wohlig an den Süllberg hingeschmiegt.

Auf der einzigen Bank dort saß eine engelsgleiche Gestalt; dass also war Karin. Nach einer Weile stakste sie davon, zog das rechte Bein etwas nach. Über einen verwilderten Pfad quälte sie sich hinauf ins Gebirge.

Mein Atem ging schwer und Greif, mein Hund, ein Kromfohrländer, stellte urplötzlich einem Hasen nach, hetzte einen Moment hinter ihm her, vorbei an einer jämmerlichen Esche, ließ aber genauso schnell wieder ab von seiner Jagd. Aus Greifs hechelnder Schnauze stoben wie aus einer Dampfpfeife winzige Wolken hervor. Durchs dichte Unterholz von der Anhöhe her brannten sich Karins Augen wie zwei glühende Kohlen in die Nacht, und über uns plötzlich die klagenden Schreie verspäteter Wildgänse, die rasch am Halbmond vorbeiflogen, unwirklich, aneinandergebundene Papierdrachen, die magisch davongezogen wurden.

Dann verlor sich ihr Anblick, während Greif unruhig knurrte und fiepste, mich kurz fragend anschaute. Mit meinem Nachtglas erspähte ich einen Sprung Rehe auf der gegenüberliegenden Seite des Baches, auf einem dieser liederlich abgeernteten Stoppelrübenfelder. Ab und zu schnellte eins ihrer Häupter mit langem Hals und gespitzten Lauschern empor, verharrte eine Weile wie versteinert und tunkte ruckartig wieder in die Nebelschicht hinein. Mein Hund beruhigte sich wieder. Ich aber war sehr nervös, denn es ging die Legende, dass keiner Karins bösem Blick widerstehen könne.

Greif drängte nach Hause, ich folgte müden Schrittes. Unser einsames Gehöft am Rande des Tales erschien vom weitem wie ein riesiger Scherenschnitt. Eine Schleiereule schwebte dicht über uns hinweg, wir schreckten auf, denn ihr leichter Luftzug und ihr Schatten überraschten uns wie ein Schlag aus dem Nichts; sie glitt weiter um den Giebel des Hauses und es hörte sich an, als würde sie meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“

Fröstelnd öffnete ich die Eichentür zu meiner Diele; eine heimelige Wärme strömte uns entgegen.

Am Kamin saß Karin, der schmale Körper verschluckt von einem zu groß geratenen, alten Mantel, aus dem dies bleiche zierliche Gesicht hervor lugte, von seidigen blonden Haaren umfangen. Ich verspürte einen unfehlbaren Instinkt in mir, und wusste sofort, es wäre sinnlos sich zu wehren oder davonzulaufen.

Mit einem Kartoffelschäler trennte sie mir ein Auge raus, zerhackte blind vor Wut meine Beine, sowie man es vor Jahren mit ihrer Tochter getan hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war. Man konnte nie den Täter ermitteln. Karin hatte damals mit ihrem Leben Schluß gemacht.

Von Draußen der Ruf eines Kauzes und hier in der Stube Greifs Winseln. Nun beende ich meine Aufzeichnung, lege den Stift beiseite und mich zum Sterben, wie alle Wanderer, die Karin früher oder später begegnen und von ihr hingemetzelt würden oder doch nur Opfer einer grundlosen Angst sind, wie das Rotkäppchen, das in Wirklichkeit nicht vom Wolf (die mögen keine Menschen) verschlungen worden war, sondern von ihrer Furcht vor jenem.
Zuletzt geändert von Kurt am 09.02.2014, 08:02, insgesamt 2-mal geändert.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.02.2014, 19:07

Hallo Kurt,

hier hätte ich mich gern gegruselt, denn Du hast ja vieles, was zu einer Gruselgeschichte gehört - Nebel, Nacht, Eulen- und Kauzruf - zusammengetragen. Dann ist da diese Wiedergängerin, eine Untote, die sich für die Vergewaltigung ihrer Tochter an Wanderern rächt. Gut, akzeptiert, das ist eine fiktive Setzung, die ich gern mal mitmache. Aber: Muss sie Karin heißen? Ich kenne ein paar Karins, und der Name hat sich so vollgesogen mit ihrer freundlich-netten Alltäglichkeit ... Muss sie überhaupt einen Namen haben? Wäre ihre bloße Beschreibung nicht intensiver? Dies ist mein Hauptproblem mit der Geschichte.
Gut finde ich die kontrastierenden beruhigenden Momente: Den Bauernhof, der "ruhig und verschlafen" daliegt, "wohlig an den Süllberg hingeschmiegt". Auch den Halbmond, der mit seinem "gedimmten Licht die Landschaft verzaubert".
Nun gut, das war mein Leseeindruck.
Gruß
Quoth
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Beitragvon Kurt » 03.02.2014, 19:53

Nö, ne Gruselgeschichte sollte es nicht werden. Die mag ich nich. Es sollte schon eine (irrationale) Furcht dargelegt sein, die sich ganz „normal“ im dunklen Wald zu einem dazugesellt als Begleiterin und sich zum Schluß gefährlich verfestigt. Karin habe ich als Name gewählt, weil ich eine in einem Forum kennengelernt habe, die gerne Unheimliches schreibt.

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Beitragvon Zefira » 03.02.2014, 23:00

Hallo Kurt,
habe die Geschichte sehr gerne gelesen, da ich Gruselgeschichten liebe. Und Du hast eine wunderbare Atmosphäre geschaffen mit der Beschreibung des nächtlichen Spaziergangs.
Die gespenstischen Rufe und der Name des Hundes "Greif" verweisen ebenfalls ein wenig in Richtung der gothic novel, es klingt ein wenig altertümlich, man möchte sich, wie Quoth schon schrieb, gerne mitgruseln.
Mit dem vorletzten Absatz drfitest Du dagegen urplötzlich - und für mein Empfinden nicht sehr gekonnt, verzeih - ins Splattergenre ab, und mit der "ängstlichen Zwangserwartung" befinden wir uns plötzlich in der psychologischen Gruselgeschichte. Vielleicht alles nur eingebildet?
Irgendwie gefällt mir der Schluss nicht; er klingt für mich, als hättest Du keinen ähnlich stimmungsvollen Weg aus der Geschichte herausgefunden, wie Du hineingefunden hast. Oder wolltest Du eine leicht ironisierende Marke setzen? Der Kartoffelschäler weist ein wenig in diese Richtung. Überhaupt weist vieles am Schluss in ganz verschiedene Richtungen.
Wie gesagt, jedenfalls gerne gelesen!
Für den Krohmforländer schenk ich Dir ein H ... soviel aus dem Klugscheißmodus.

Grüße von Zefira
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Beitragvon Kurt » 04.02.2014, 11:55

Danke, Zefira!

ich glaube ja daran, dass Rotkäppchen nicht vom Wolf gefressen wurde. Sie wurde von ihrer eigenen Angst verschluckt und der Jäger war der Therapeut, der sie befreite. Denn hätte der böse Wolf sie wirklich vertilgt, naja lässt sich ja denken, was dann ...
In meiner Episode hier sollte es so ähnlich sein mit der bösen Karin, welche die Furcht verkörpern soll, die (irrational) besonders nächtigens den Wanderer durch den dunklen Wald begleitet und auch, indem er sie abwehren würde, eher harnäckiger werden könnte.

Aber, wie du schon bemängelt hast, sollte ich das Ende hier mit etwas stimmungsvolleren Worten ausklingen lassen, als ich es mit der trockenen „Zwangserwartung“skizziert habe. Ma schauen. Ich möchte es jedoch in der "Weise" so belassen.

Gruß Kurt
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Beitragvon Kurt » 09.02.2014, 08:18

Wie gesagt, jedenfalls gerne gelesen!
Für den Krohmforländer schenk ich Dir ein H ... soviel aus dem Klugscheißmodus.

Grüße von Zefira[/quote]

Wenn, dann abba auch richtig:

Kromfohrländer
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Beitragvon Zefira » 09.02.2014, 10:33

Oje. Klassischer Fall von Verschlimmbesserung. Warum hast Du auch keinen Dackel? :mrgreen:

Sonntagmorgengrüße
Zefira
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