„Mazeltov, Onkel Abi“, begrüßt der Ober den alten Herrn, und wie jeden Vormittag winkt Abraham Goldmann, während er zu seinem Stammtisch humpelt und sagt: „Wo is a Mazel?“ Dabei kichert er.
Mit einem wohligen Seufzer lässt er sich auf den Stuhl sinken, zieht ein Taschentuch aus der Sakkotasche und schnäuzt ausgiebig seine Adlernase.
„Heiß ist es heut, viel zu heiß“, raunzt er, als ihm der Ober einen doppelten Cognac im Schwenker serviert.
„Dabei ist grad erst Ende Jänner“, gibt der Ober, Herr Josef, zurück, „so ein narrisches Klima, also so was.“ Josef ist schon ein paar Jahre pensioniert, aber zu Hause mit seiner Angetrauten ist ihm so langweilig gewesen, dass er immer noch jeden Vormittag im Café Central nahe der Hofburg aushilft.
Als er Abraham vor langer Zeit fragte, wie er den verehrten Gast titulieren dürfe, bekam er zur Antwort: „Onkel Abi.“ Herr Josef nahm es hin, ohne zu fragen, warum er so simpel genannt werden wollte.
„Zahlen S’ was dafür, dass immer noch arbeiten dürfen?“, scherzt der gebrechliche Gast. Es wirkt, als bestünde er nur aus Haut und Knochen.
„Statt dem Cognac sollten S’ einmal was essen, Onkel Abi“, kontert Herr Josef streng. „Wie wärs mit einer Eierspeis und einem Semmerl dazu?“
Abraham taucht die Nase in das bauchige Glas und zieht den Duft des Weinbrands ein. Dann schwenkt er es eine gute halbe Minute, um seinen Inhalt zu erwärmen.
„Lieb von Ihnen, Herr Josef“, antwortet er endlich, „aber Sie wissen doch, das Essen geht nicht mehr so... Eier vertrag ich überhaupt nicht mehr.“
Schulterzuckend entfernt sich der Ober.
Noch einmal atmet Abraham den aufsteigenden Alkoholgeruch ein. Dieses Getränk erinnert ihn für Sekunden an eine bessere Zeit, lange, ehe er von den Nazis nach Auschwitz verschleppt wurde, lange, bevor er halbnackt und abgemagert in eine Stadt heimkehrte, in der die Wiener nur ein paar Meter vom Kaffeehaus entfernt auf dem Heldenplatz „Heil!“ gebrüllt haben.
Und nun hebt er das Glas an die Lippen, lässt den Schluck im Mund verweilen. Er denkt daran, wie er seinerzeit gegen die Feiglinge aus dem Freundeskreis gewettert, sie meschuggene Deppen genannt hat.
„Wegen so einem Tinnef wegrennen, die Heimat verlassen, angesehene Österreicher, die ihr seid!“, hat er geschrien damals. Eines miesen, kleinen Brüllaffen wegen, der komplett beschickert war vom Traum, die Welt zu beherrschen. Aber alle haben Abraham den Vogel gezeigt und sind gegangen.
„Hab ihnen einfach nicht geglaubt“, murmelt er dem Cognac zu, „hab’s nicht glauben können und bin ins Schlamassel mittenreingefallen. Und meine Mischpoke hab ich auf dem Gewissen.“
Diese Gedanken, dass außer ihm keiner der Familie den Albtraum überlebt hat und er und sein Glaube an die Menschlichkeit daran schuld waren, die spült er jeden Tag mit dem Cognac aufs Neue aus sich heraus. Vor allem schmerzen ihn der Verlust seiner Schwester Miriam, die damals nach Buchenwald verbracht worden war, und der bestätigte Tod des kleinen Bruders Abi.
Herr Josef stört Abraham auf, indem er mit Nachdruck einen Teller mit einem Paar Würsteln vor ihn hinstellt.
„Und jetzt essen wir, Onkel Abi, aber flott!“, sagt er mit einer Stimme, die keine Widerrede duldet.
Abraham lacht. „Aber Herr Josef, Würstel sind Schwein, das kann ich nicht essen.“
Nun lacht Herr Josef. „Ha, nix da! Ist alles ganz koscher, ist nämlich Rind! Also los, essen S’!“
Was soll schon sein, denkt Abraham Goldmann, auch wenn das auf dem Teller Schwein sein sollte, vielleicht trifft ihn endlich Gottes Rache, damit er tot umfallen könnte. Er beißt von einem Würstel ab.
Onkel Abi
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