Der Mann neben mir

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Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 26.01.2006, 13:04

Der Mann neben mir


Der kommt nie an, denke ich noch. Der hinterlässt keine Spuren bei seinen Wanderungen durch die U-Bahnhöfe.
Ungeduldig lauscht er und hofft auf das Pfeifen und Dröhnen aus der Dunkelheit.
Der kommt nie an, denke ich wieder. Der wurde schon zu oft geopfert, von so genannten Freunden und Gönnern.
Der ist einer, der den täglichen Tretminen immer wieder zu entkommen sucht. Mit zusammengefalteten Mund.
Ein Alltagsheld, der sein Brot abends allein am Küchentisch isst. Er trägt keinen Ring am Finger, das Licht im Mund macht ihn kindlich.
Jetzt schlägt ihm der fremde Atem aus dem Tunnel entgegen. Fröstelnd zieht er den Kopf zwischen die Schultern.
Der lächelt nie, denke ich wieder. Sicherlich kennt er auch keine Taschenspielertricks
und zwischen seinen gelben Fingerkuppen zerrinnt ihm alles.
Wie viele Liebesbriefe kann er wohl noch zählen in seinen ausgebrannten Wohnzimmern und den überschwemmten Kellern.
Der ist Nirgends und Niemand, der verschläft den Sendeschluss. Dann ist er tot
- bis zum Morgengrauen.

Maija

Beitragvon Maija » 27.01.2006, 16:33

Hallo Alma Marie,

Deine Kurzgeschichte gefällt mir gut und deine Sätze sind sehr schön ausgefeilt. Ein tiefgründiger Text der zum Nachdenken animiert.
Über die 'Penner' zu schreiben ist eine gute Idee, denn wie oft werden sie auf den Straßen und auf den Bahnhöfen übersehen...? Danke!

gruß Maija

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 27.01.2006, 17:39

Danke Maija. Deine Sichtweise ist interessant, weil der Fremde ja kaum beschrieben wurde, sondern nur das ICH spricht und ihn in Schubladen steckt. Fraglich ist deshalb, wer wird vom ICH beschrieben? Der Fremde oder das ICH in seiner Weltsicht?

Kann man dem ICH trauen?

Es gibt ein paar Verhaltensweisen des Fremden und ein paar äußere Zeichen. Gelbe Fingerkuppen -er ist offensichtlich starker Raucher, Licht im Mund, da könnte ein Zahn fehlen usw.
Das entscheidende, das aus ihm den "Verlierer" macht kommt aber vom ICH.

Meine Intention: Traue ihm nicht

Liebe Grüße
Alma Marie

Maija

Beitragvon Maija » 27.01.2006, 18:26

Ach so :mrgreen: Traue dem Ich nicht...? Muss mal nachdenken ;-)

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 30.01.2006, 22:40

Als erstes mal:

Der Titel sagt mir, daß der Mann neben der Erzählerin am Bahnsteig steht. Wahrscheinlich beäugt ihn die Erzählerin "unauffällig", damit er nichts bemerkt.
Für einen Penner halte ich ihn nicht, da mir bei den Gedanken "Der ißt sein Brot allein am Tisch" und "abgebrannten Wohnzimmern", "überschwemmten Kellern" und "verschläft den Sendeschluß" nicht ein Nichtseßhafter, sondern eher ein Erwerbsloser oder eine andere "arme Sau" einfällt (vielleicht schlechtbezahlter Aushilfsjob o.ä., jedenfalls vom Schicksal im Stich gelassen), der in irgendeiner spartanischen Behausung vor sich hin vegetiert. Kann sein, Witwer, kann sein, geschieden, kann sein, ausgebrannt.
Vielleicht würde ihn ein anderer Erzähler anders beschreiben, um auf das ICH einzugehen. Vielleicht ist es auch eine Sache der augenblicklichen Grundstimmung der Erzählerin. Vielleicht würde sie selbst ihn an einem anderen Tag anders beschreiben.
Wenn ich in andere Menschen etwas hineinprojiziere an eigenen Gedankenbildern, Emotionen, dann geschieht das, weil dieser andere Mensch irgendetwas in mir auslöst, was AUCH in mir vorhanden ist.
Daher gibt mir der Text mehr Aufschluß über die Erzählerin als über den Beschriebenen. Leider stelle ich dann fest, daß einige wenige Äußerlichkeiten auszureichen scheinen, um a) zu beurteilen und b) eine Fiktion zu erzeugen. Das passiert einem ständig, daher ist es ok, sofern man sich dessen bewußt ist.
Stilistisch gefällt mir der Text sehr gut, Stoff zum Nachdenken gibt er auch. Was kann ein Leser mehr wollen?!
Gruß

Werther

Beitragvon Werther » 03.02.2006, 03:14

Was ich interessant finde, Frankiteur, bei dir ist das ICH eine sie! Das ging mir auch so und ich überlege grade, ob das daran liegt, weil es eine weibliche Autorin geschrieben hat oder, liegt es an der Art des Schreibens... oder der Art des Denkens des ICHs (von wegen weibliche Gedankenzüge?)! Grundsätzlich könnte es ja auch ein Mann sein, oder?

Ansonsten finde ich die Kurzgeschichte sehr eingängig und mit Wiedererkennungswert im eigenen Alltag! Ich habe das Gefühl, das ICH jetzt ganz gut einordnen zu kennen (und eigentlich eben nur das ICH). Das liegt vielleicht daran, dass ich mich, wie schon gesagt, ab und zu in ihm wiederfinden könnte, wenn ich mal ehrlich zu mir selbst bin, oder auch nur, weil ich ebenfalls sofort meine Schubladen aufgeschoben habe, um es, das ICH, einzuordnen. So eine Selbsterkenntnis beim Leser herauf zubeschwören find ich schon arg... :grin:

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 03.02.2006, 16:56

Hallo Alma-Marie,

ich habe mir die Geschichte und die Antworten durchgelesen. Du beschreibst IHN zwar, aber das ist für mich mehr verwirrend als erklärend. Und ICH soll man nicht trauen, wie du schreibst.
Wäre das eine SiFi-Story würde ich meinen, dass du über einen Androiden schreibst, eine Maschine, die ihrer Programmierung gehorcht, nicht lebt. Aber das ist es wohl nicht, Androiden essen nicht am Küchentisch.
Die trostlosen Wohnzimmer und Kellerräume, in denen er sich aufhält, Liebesbriefe, die gelesen werden, aber nicht, als würden sie ihm gelten machen mich stutzig.
Es klingt ein bisschen schräg, aber ich glaube, dass du über einen Leichensuchhund und sein Herrschren schreibst.

Wer oder was immer du da beschreibst, wann löst du das Rätsel?

Es grüßt euch
Marlene

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 14.02.2006, 14:40

Hallo Franktireur,

danke für Deine Gedanken zum Text. Genauso ist er gemeint.
Du gehst auch folgerichtig vom ICH als weibliche Person aus. Im Text versuchte ich dies über Beobachtungen, die sehr weiblich sind zu vermitteln. Frauen sehen darauf, ob der Mann einen Ring trägt, sie sehen auf die Hände eines Mannes...
Ich glaube, Männer beobachten anders.

Liebe Grüße
Alma Marie



Hallo Werther,

auch herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Die "weibliche Sicht" habe ich bereits bei Franktireur erörtert. Es könnte natürlich, wie Du sagst auch ein Mann sein, doch beruht mein Versuch über möglichst weibliche Denkweise dem ICH eine Frau zuzuordnen ohne das explizit zu erwähnen.
Ein Mann hätte sich eventuell gar keine Gedanken um den Typen nebenan gemacht.

Liebe Grüße
Alma Marie


Hallo Marlene,

nein, es handelt sich um Gegenwart und den Alltag. Da steht einfach ein Mann an der U-Bahnhaltestelle und das ICH macht sich so Gedanken über ihn, packt ihn in Schubladen anhand von Äüßerlichkeiten.
Nicht er sagt wer er ist, er wird gemacht. Leider wirklich Alltag, es entscheiden Sekunden darüber,wie ein Mensch vom Gegenüber eingeordnet wird, ob er den Bankkredit bekommt oder nicht (um nur ein Beispiel zu nennen).

Liebe Grüße
Alma Marie

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 15.02.2006, 14:47

Hallo Alma-Marie,

danke für die erklärenden Worte. Die Sache mit dem In-die-Schublade-gesteckt-werden kenne ich nur zu gut.

Liebe Grüße
Marlene


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