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Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Werner
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Beitragvon Werner » 27.05.2016, 22:50

Seit über 59 jahren das erste mal wieder in Weimar, ein gefühl, wie wenn ich nie weg war. Alles vertraut.

Fr. Engels Ring Nr. 2 steht in gut leserlicher handschrift auf der kleinen schwarz-weiß-fotografie, die eine rückansicht eines mehrstöckigen hauses mit vorgebauten balkonen zeigt. Zwei balkone sind durch kreuzchen markiert. Die handschrift ergänzt das geburtsdatum und den geburtsort. Vater pflegte oft die fotografien auf der vorder- oder rückseite zu beschriften und die abgebildeten personen oder die örtlichkeit zu benennen. Ein umstand, der mich in jungen jahren gestört hat, heute aber, viele jahre später und lange nach vaters tod, von manchmal unschätzbarem wert ist. Der Friedrich-Engels-Ring heißt heute Trierer Straße, und das ehemalige krankenhaus ist heute ein seniorenheim. Das geburtshaus könnte also gut zum sterbehaus werden. (Ich überlege mir das noch).

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 02.06.2016, 15:22

Ich sehe den Autor mit einer kleinen schwarz-weiß-Fotografie in der Hand vor einem Haus stehen und vergleichen ...

Gute Geschichten müssen nicht lang sein.

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Werner
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Beitragvon Werner » 09.06.2016, 22:11

stimmt, danke

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.06.2016, 20:47

Hallo,

ich mag ja auch kurze Prosa sehr, aber hier ist in meinen Augen nicht genug geöffnet, für mich liest sich das eher wie ein Anfang von etwas und ohne dass es weiter geht, ist es noch kein fertiger Text.

Zudem klingt gefühl, wie wenn gruselig - ein gefühl, als wäre ...auch die Großschreibung inmitten der gemäßigten Kleinschreibung erklärt sich mir nicht.

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

aram
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Beitragvon aram » 27.06.2016, 23:39

der text wirkt etwas aufgeblasen auf mich - beispiel: 'von unschätzbarem wert'; weshalb denn so großspurig?

Niko

Beitragvon Niko » 27.06.2016, 23:56

Mir gefällt es. Gerade auch, weil das ende Raum gibt.
Was mir nicht gefällt, ist der falsche Gebrauch der Sprache. "ein Gefühl, wie wenn ich nie weg war." klingt extrem gruselig. Es MUSS heißen:" ein Gefühl, als ob ich nie weg war. ( oder noch Richtiger: ein Gefühl, als ob ich nie weg gewesen wäre.) Aber niemals dieses grausam-falsche "WIE WENN"

Grüße - niko

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 28.06.2016, 00:20

Großspurigkeit empfinde ich nicht, eher Euphorie. Das kann aber auch an der Kursivschrift liegen; die wirkt eilig, spontan, und wie handgeschrieben.

Ich finde Lisas Vorschlag -- "ein gefühl, als wäre ich nie weg gewesen" -- am besten.

Die Großschreibung gilt wohl hier nur am Satzanfang und für Eigennamen. Dieses System soll vielleicht die Eigennamen besonders emporheben. Möglicherweise ist das mit ein Grund, warum der Text Aram großspurig vorkommt? Edit: Nein, glaube ich nicht.

Wie auch immer; mir scheint, der Text feiert geliebte Gegenstände. Gefeierte Sachen wirken größer als ungefeierte. Wenn das stimmt, könnte man Arams Frage so übersetzen: Warum werden diese Sachen so sehr verehrt?

aram
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Beitragvon aram » 28.06.2016, 03:26

Niko hat geschrieben:Es MUSS heißen:" ein Gefühl, als ob ich nie weg war. ( oder noch Richtiger: ein Gefühl, als ob ich nie weg gewesen wäre.)

niko, der text ist aber kein schulaufsatz, in dem 'guter ausdruck' gefordert ist - wenn der ich-erzähler so spricht, tut er das eben. (...und das ist dann 'am richtigsten'.-))


...auch ich habe mich vorhin schlecht ausgedrückt: nicht der text wirkt 'aufgeblasen' auf mich, sondern die ausdrucksweise des icherzählers.

eingestreute fakten werden einerseits detailverliebt dargeboten: "seit über 59 jahren", andererseits wird gleich darauf offensichtlich übersteigert subsummiert: "alles vertraut".

dieses 'kippige' zwischen hohem detaillierungsgrad und unscharfer subsummierung zeigt sich wiederholt:

"pflegte oft" - 'oft' bezogen auf 'pflegte' ist eine scheinbare präzisierung, die redundant wirkt und damit im effekt 'verunschärft'.

die ansicht ist eine rückansicht, das haus ist mehrstöckig, die balkone sind vorgebaut - fülle an details, in einem halben satz: als leser fühle ich mich auf die explizite information, dass das fragliche balkonbestückte gebäude mehrstöckig ist, nicht besonders angewiesen, dem erzähler ist sie relevant - als suchte er etwas in diesen details, das sich jedoch entzieht.

dann wieder verwendet er worthülsen wie "von unschätzbarem wert" - womit er, zumindest legt das der kontext nahe, wohl weniger unschätzbar meint als entscheidend, wesentlich - und fügt noch "manchmal" ein: erneut ein scheinbar präzisierender zusatz, der aber wenig relevantes präzisiert, und damit gegenteilig wirkt, unscharf werden lässt.

der protagonist erscheint in all dem als jemand, der sichtlich um genauigkeit bemüht ist, dabei aber nicht sehr genau denkt - ließe sich z.b. so interpretieren, dass er keine distanz zum vater hat, dass er auf der retrospektiven suche nach ihm intensiv zu strukturieren sucht und sich in dieser absicht in details stürzt, ihm letztlich aber vor allem eine erhebliche unschärfe bleibt - die zwischen geboren werden und sterben.

einerseits lässt sich in diesen wenigen zeilen somit einiges lesen, andererseits bleibt es aber auch spekulation - es wirkt wie ein exposé, das hier gegeben wird: die kürze des entwurfes in einer so vielschichtig scharf/unscharfen thematik macht es schwierig bis unmöglich, ansatzweise zwischen autoren-ich und erzähl-ich zu unterscheiden, und eine befassung mit dem text kann schnell auf den pfad der überinterpretation führen.

so ist der text für mich in dieser kürze nicht interessant /befriedigend; an thematik und skizzierten möglichkeiten von erzähler/erzähltem in einem weiteren rahmen könnte ich aber interesse und gefallen finden.

Niko

Beitragvon Niko » 28.06.2016, 10:28

Na Dan kan ja jeder schreibn wi er mag. Is dan hallt die bersöhnlische note.
Oder für um gut zu schreiben, muss ich dem anderen sein Stil übernehmen. Is halt, wie ich mich dann ausdrücken tu.

Nein aram. Es gibt grammatikalische regeln, die unter anderem da sind, Sprache in einem stabilen Fahrwasser zu lassen. Neuerungen ja, ohne dabei althergebrachtes abzumurksen.

Meint.....niko

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 28.06.2016, 11:02

Aram, ich sehe das so: Diese "halbfertigen" Details sollen dem Leser keine technischen Details liefern, also sollen nicht wie in einem Krimi oder ähnlichem beim technischen Mitdenken helfen. Ich sehe diese "halbfertigen" Details eher als Ausdruck, oder besser: Tonfall, oder: Gesichtsausdruck, einer Emotion. In diesem Fall ist es die Wiedersehensfreude. Der Leser hat keinen Zugang zu Sachdetails, nur zur Emotion. Das euphorische Beschreiben der Sachen -- das Beschreiben allein -- soll die Euphorie zeigen. Die Sachen selbst sind irrelevant. Ich schreibe das jetzt nicht zur Verteidigung des Texts. Auch für mich ist das zu dünn, um emotional mitgehen zu können. Aber ich glaube, dazu bedarf es keiner Korrektur in den Sachbeschreibungen, sondern in den Beschreibungen der Vorgänge im Kopf des Erzählers. Was wiederum schwierig ist, wenn diese Vorgänge mehr "autistischer" als emotionaler Natur sind.

Kennst du das, wenn jemand begeistert irgendetwas unverständliches heraussprudelt, du nichts verstehst, aber trotzdem gerne zuhörst, allein um die Sprudelfreude zu genießen? So sehe ich hier die Position des Lesers. Allerdings fehlt es hier noch an Sprudel-Energie ...

Klara
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Beitragvon Klara » 28.06.2016, 11:21

off topic: Hi Niko, es gibt kein stabiles Fahrwasser. Auch SPRACHE in Zusammenhang mit einem FAHRWASSER erscheint mir als Metapher eher instabil (und unangemessen). Ist immer blöd, wenn man andere belehrt und selber - BEIM BELHEREN - Fehler macht. Da sollte man dann erwägen, das Belehren vielleicht erstmal auf sich selbst bzw. eigene Texte/Kommentare anzuwenden - insbesondere, wenn man Regeln so GROSS schreibt und sich dann doch KLEINlich mit ihnen hat.

liebe Grüße
klara

Klara
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Beitragvon Klara » 28.06.2016, 11:35

Hallo Werner,

"wie-wenn"-Problematik sehe ich ähnlich wie Vorkommentatoren. Wenn man Wendungen wie "von unschätzbarem Wert" benutzt, wirkt so ein dialektgefärbter Umgangssprachgebrauch zum Einstieg stilbrüchig. Falls das gewollt ist, erschließt sich mir das Motiv für diesen Willen nicht.
Und gibt es andere als "vorgebaute" Balkone?? Beschreiben ist, glaub ich, das Schwerste, was es gibt - also: nicht langweilig beschreiben, nicht um des Beschreibens willen beschreiben, sondern - egal. Ich bin still. (Ich drück mich da meistens drum, ums Beschreiben, weil es mir in meiner Feder meistens künstlich vorkommt. Dann bleib ich feige beim Innen, irgendwie. Möglichst ohne "irgendwie" ;))

Bei dem Erzähler frage ich mich unwillkürlich, wie alt er wohl ist. 59 Jahre plus das Alter, in dem man sich bewusst an Vertrautes erinnert, ist ja viel. 80 Jahre? 90 Jahre? Aber wie alt war dann der Vater?? Und wer das ist. Es erscheint wie ein Ausschnitt aus einem größeren Textbrocken.
Schön finde ich, dass Goethe und Schiller nicht vorkommen, dafür aber Engels und Trier.
Der Erzähler betrachtet offenbar ein (wiedergefundenes? nach Tod des Vaters in die Hand geratenes?) Foto - aus welchem Anlass? Ich möchte wissen, was ihn nach 59 Jahren nach Weimar verschlagen hat, ausgerechnet.

Hier würde ich nicht die JAHRE doppeln: "umstand, der mich in jungen jahren gestört hat, heute aber, viele jahre später und lange nach vaters tod", klingt nicht schön. Besserr vielleicht schlichter: "der mich früher gestört hat" Das Wort "Umstand" ist gut gewählt. Umständlich scheint ja der Vater gewesen zu sein, und diese Umständlichkeit scheint sich vererbt zu haben auf die Herangehensweise des Erzählers - im Zickzack, nicht direkt geht er vor. (Oder?) Nähert sich, ohne recht zu wissen, wie nahe er kommen will. Wie eine Spinne, die nichts fangen will: im Seitwärtsschritt. Mühsame Notwendigkeit.

Der letzte Satz in Klammern ist wunderbar, vor allem die Klammern. Das Lapidare.

Ich würd jetzt gern den Fr Engels Ring Nr. 2 sehen.#

Danke fürs Teilen.
klara

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 28.06.2016, 11:47

(Hallo Klara, bei den Balkonen denke ich schon, dass "vorgebaut" eine Zusatzinfo ist. Da gibt es die einen Balkone, die in die Wohnungen hineinragen, so dass aus der gesamten Hauswand nichts herausragt. Sieht man oft an Hochhäusern. Diese Balkone krachen niemals nach unten. Dann gibt es jene vorgebauten, die krachen manchmal hinunter auf die Straße.)

Klara
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Beitragvon Klara » 28.06.2016, 13:15

(Hallo Pjotr, stimmt. Das ist ja furchtbar!)


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