Schwarm

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Eule
Beiträge: 2055
Registriert: 16.04.2010

Beitragvon Eule » 25.10.2016, 08:19

An einem schönen, schmerzfreien Tag beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. Der erste Mensch, der mir begegnete, grüsste mich freundlich und aufmunternd. So ging es weiter und ich mutmasste, dass ich mit dieser Entscheidung nicht alleine war. Sogar der Nachbar, der mich schon öfters angeschnauzt hatte, war zu einem Schwatz aufgelegt. Ein guter Tag für einen Stadtbummel, entschied ich schliesslich. Die Strassenbahn kam nach wenigen Augenblicken und hielt, wie beabsichtigt, direkt vor meinen Händen, die Mitreisenden nickten mir freundlich zu und rückten zusammen, damit ich Platz nehmen konnte. Ich betrachtete aufmerksam die Schaufenster und blieb vor einer historischen Ausstellung länger stehen, um die Informationstafeln zu lesen. Mehrere Menschen lasen dort ebenfalls, zwei sprachen mich an, ob ich mich für dieses Thema interessierte und ob ich etwas in einer Lokalzeitung dazu schreiben wollte, das Redaktionstreffen wäre gleich im Cafe nebenan. Na klar, stimmte ich begeistert zu, hakte mich unter und vergass sämtliche Termine, die ich heute noch hatte. Etwas veränderte sich.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 07.11.2016, 10:03

Es gibt solche Tage, ein, zwei Mal im Leben ...

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wirklichkeit kann man erleben jeden Tag, muss man erleben, wenn man die warme Wohnung verlassen muss.

Es reicht, um das wahre Wesen der Menschen zu erleben, beim schlechten Wetter in einen vollen Bus zu steigen.

Und, einmal drin, beobachten, wie der schlecht gelaunte Fahrer aussteigt, um für einen Behinderten die Rampe rauszuziehen.

Ich könnte Einige solcher Beispiele bringen, habe aber gesagt, es reicht.

Misstrauen, Feindseligkeit beherrscht den zwischenmenschlichen Umgang.

In anderen Ländern, da wo ich herkomme, zum Beispiel, sind Prügeleien auf der Straße oft zu sehen. Hier hält man sich unter Kontrolle, weitgehend.

Nur frisch verliebte sehen die Welt so, wie du sie hier beschreibst. Aber ich weiß ja, dass du alles hier ironisch meinst.

Ich finde, die Erzählung könnte ruhig weiter gehen, oder eine Serie davon. Nach "damit ich Platz nehmen konnte" würde ich einen Absatz machen.

Vielleicht verändert sich etwas.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 07.11.2016, 10:09

Ich muss aus meiner persönlichen Erfahrung widersprechen, lieber Klimperer. Man sieht, was man sehen will. Wer Beweise für die Unfreundlichkeit der Menschen sammelt, findet sie; wer Beweise für das Gegenteil sammelt, findet sie auch.
(Na gut, ich fahre praktisch nie Bus ... :pfeifen: )

Nur frisch verliebte sehen die Welt so, wie du sie hier beschreibst.

Nein, gar nicht. Ich sehe sie sehr oft so, obwohl es Jahrzehnte her ist, dass ich frisch verliebt war (wenn ich von spontanen Verliebtheiten in abstrakte Dinge mal absehe, das wirst du wohl kaum gemeint haben).

Ich finde, dass die Geschichte ab hier
Mehrere Menschen lasen dort ebenfalls, zwei sprachen mich an, ob ich mich für dieses Thema interessierte und ob ich etwas in einer Lokalzeitung dazu schreiben wollte, das Redaktionstreffen wäre gleich im Cafe nebenan.

... etwas zu märchenhaft wird; selbst wenn die Schilderung so erlebt sein sollte, wirkt dieses Geschehen auf mich etwas sehr unvermittelt und nicht ausreichend motiviert. Das "Etwas veränderte sich" am Schluss gefällt mir wieder sehr.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Last

Beitragvon Last » 07.11.2016, 10:40

Hallo Eule,

das gefällt mir sehr, könnte für meinen Geschmack noch mehr auserzählt werden (z.B. bei den grüßenden Menschen am Anfang, in der Straßenbahn, am Schaufenster usw.).

Dass es hier um die Art der Projektion geht, die Zefira anspricht, wird mir einerseits durch das "schmerzfrei" im ersten Satz und andererseits durch das ironisch überspitzte Entgleiten am Ende nahegelegt. Mir ist das nicht zu märchenhaft, aber vielleicht zu wenig auserzählt.

Zwischen dem Platznehmen in der Straßenbahn und dem Betrachten der Schaufenster gibt es einen Zeitsprung, der nicht mit einem Absatz untermauert wird. Warum eigentlich nicht?
So kann man das anschließende märchenhafte Entgleiten auch als Tagträumerei lesen. Das könnte man aber auch mit einem Absatz, der zudem den Wendepunkt des Textes markieren würde. Vielleicht eine Geschmacksfrage?

Der letzte Satz wirkt stark, weil er in in seinem Bezugsproblem (was genau verändert sich?) in Anbindung an die vergessenen Termine auch die Bedrohung transportiert, dass der Protagonist sich durch seine Verklärung in eine ungünstige Situation manövrieren könnte.

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Eule
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Beitragvon Eule » 07.11.2016, 11:31

Danke für Eure Kommentare ! Der kleine Prosaschnipsel ist Fiktion, aber die Überschneidungen zum Alltag durchaus beabsichtigt. Vielleicht ausbaubar, möglicherweise in Richtung einer kafkaesken Groteske.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 07.11.2016, 14:29

Wie die Menschen wirklich zueinander stehen, zeigt sich am besten in einem Aufzug.

Hat man nicht, wenn man rausgeht, ein Gefühl der Befreiung?


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