augenblicke

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Werner
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Beitragvon Werner » 19.10.2017, 22:32

seine augen füllten sich mit häusern, straßen zwischen den häusern, fahrenden autos, gehwegen und menschen, ladengeschäften mit kleidern, koffern, schmuck und brillen in den auslagen. und auf einmal tat ihm der kopf weh. der schmerz wanderte vom hinteren ende des auges in die stirn, ins innere der ohren, und zog an der innenseite der schädeldecke über den hinterkopf bis in den nacken. w. wurde schwindelig, er taumelte und ging in der fußgängerzone zu boden. er spürte noch den harten aufprall auf den polierten granitplatten im ellenbogen und steißbein. dann wurde ihm schwarz vor den augen.

die sonne war eine große scheibe aus kupferblech. hängte ich sie hoch in das zelt meiner kindlichen erinnerungen, türmten sich landschaften neben ihr auf, spiegelte sich ihr licht in flüssen, die den zeltboden in verbotene und verbotene länder teilten.

die versuchsanordnung war folgende: ein dichter sollte in einem völlig dunklen raum ein liebesgedicht an eine verflossene geliebte schreiben, in dem die wörter ich, du, wir, liebe, lieben, kuss, küssen, auto und autobahn nicht vorkommen. das gleiche galt analog für eine dichterin. hier die ergebnisse:

fahren die züge nach armenien
weinen die menschen in den abteilen
angesichts ihrer erinnerungen
an die umgekommenen
der sintflut

über die dächer gehen
ist ein alter traum der menschheit
und eine weißstörchin beobachten
kurz vor ihrem flug nach afrika
staunen im garten die kinder
zu ihr hinauf

die alpenseglerin war eine gletscherkundlerin, die die klimaerwärmung erforschte. ihre hände ertasteten die luft und den schnee, ihre flügel überspannten das tal, in das sich menschen geflüchtet hatten, die aus ihren träumen erwachten. für sie gab es keine rettung, keine rückkehr mehr.

w. hatte seine sammlung um eine muschelschale erweitert. diese legte er zwischen das pfennigstück und das welke, gepresste blatt eines bergahorns.

manchmal fiel w. das wort menschen schwer. dann spielte er robinson und wartete auf freitag.

w. war eingekesselt: hinter ihm stand der mob der demonstranten, vor ihm eine hundertschaft polizisten, ausgerüstet mit helmen, schilden und schlagstöcken, dahinter ein wasserwerfer. ein paar meter neben w. zitterte das mädchen.

zerfloss die stadt in einem park um ein altes gartenhaus mit hohem dach, machten wir uns einen frauenplan, stolzierten die esplanaden entlang, winkte uns aus einem schaufenster eine junge gräfin zu, eine angehende buchhändlerin. dichtkunst muss ansteckend sein. [einmal hatte ich einen oleander nach der gräfin benannt, rosafarben, gekauft in der gärtnerei des familienschlosses, überlebte er den ersten winter nicht.]

plötzlich standen wir vor einem massengrab. mord muss eine deutsche tugend sein.

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Werner
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Beitragvon Werner » 14.02.2018, 12:40

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Werner
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Beitragvon Werner » 15.02.2018, 15:09

jetzt machen wir mal aus dem text ein Literaturrätsel! Im vorletzten abschnitt kommt eine stadt vor, die auch für deutsche literatur steht. gut, das ist jetzt nicht so schwer, werden doch ein Gartenhaus und ein Frauenplan und die Esplanaden erwähnt. dann wird aber weiter eine schriftstellerin erwähnt, adliger abstammung, die in eben jener stadt 1921 als junge frau eine buchhändlerlehre begann und damals, ehrfürchtig und schüchtern wie sie noch war, den berühmten künstler Paul Klee persönlich kennenlernte, der an der neu gegründeten architektur- und kunst-universität lehrte. die gesuchte schriftstellerin beschrieb das alles in ihren lebenserinnerungen, es gibt auch noch ein foto von ihr vor der buchhandlung. später war die gesuchte schriftstellerin unter anderem Georg-Büchner-Preisträgerin und in Rom, wo sie eine zeit lang lebte, mit Ingeborg Bachmann befreundet. über das familienschloss und ihr heimatdorf bzw. die erinnerungen daran schrieb die gesuchte schrifstellerin / dichterin in ihren späten jahren eine einzigartige lyrische prosa (sehr zu empfehlen!). geboren wurde die gesuchte schriftstellerin in Karlsruhe, wo ihr vater als offizier am Badischen Hof diente. Um welche berühmte deutsche Schriftstellerin handelt es sich?
Zuletzt geändert von Werner am 15.02.2018, 15:53, insgesamt 2-mal geändert.

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 15.02.2018, 15:27

Marie Luise Kaschnitz. Ich weiß, es ist albern, aber ich liebe Rätsel. Und Marie Luise Kaschnitz habe ich als junge Frau sehr gern gelesen.

LG Dede

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Werner
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Beitragvon Werner » 15.02.2018, 15:47

JA! Das ging aber flott, gleich die erste Antwort richtig. Aber, wenn man es mit einer Kennerin zu tun hat. Ich hätte es schwerer machen müssen, das war wohl zu leicht? MLK starb 1974 in Rom, liegt aber neben ihrem Mann in Bollschweil begraben. "Beschreibung eines Dorfes", 1966 bei Suhrkamp Frankfurt erschienen, heißt ihre Hommage an das heimatliche Bollschweil. Im Nachbarstädtchen Staufen im Breisgau verbrachte der Dichter Peter Huchel seinen Lebensabend, wo er auch starb und begraben liegt. MLK und PH besuchten sich manchmal gegenseitig. Die Buchhandlung war die Telemannsche Buchhandlung in Weimar, gleich beim Schillerhaus gelegen (heute ist eine Pizzeria und Bar drin).

https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Luise_Kaschnitz

http://www.literaturland-thueringen.de/ ... epenheuer/

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Werner
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Beitragvon Werner » 14.04.2018, 10:52

der Text wurde gerade in Österreich, in der Literaturzeitschrift "erostepost" Nr. 55 (März 2018) des Literaturhauses Salzburg, zusammen mit einem anderen lyrischen Prosatext und vier Gedichten / gesängen (alle hier im Blauen Salon eingestellt), veröffentlicht, worüber ich mich natürlich riesig freue ... http://www.erostepost.at/zeitschrift.html


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