Hallo, ihr Lieben,
wie jedes Jahr gibt es von mir mal wieder einen Weihnachtstext. Ich habe mal wieder ein wenig experimentiert und versucht, möglichst weit auseinanderliegendes zu mischen, in diesem Fall: Klings heitere Schilderungen über das WG-Leben mit einem kommunistischen Känguru und Lovecrafts Horrorgeschichten über die monströse Gottheit Cthulhu. Da das ganze wie die Känguru-Chroniken in Episoden organisiert ist und für einen Einzelbeitrag zu lang wäre, poste ich das hier sukzessive.
Liebe Grüße
Merlin
Ich schrecke hoch. Mit aufgerissenen Augen sitze ich plötzlich im Bett, den Rücken kerzengerade.
Mein Atem geht hektisch und stoßweise, als sei ich gerade aus einem Würgegriff entkommen. Ich spüre meinen Schlafanzug, wie er mir an der schweißnassen Haut klebt. Ein Teil des Betttuchs hat sich von der Matratze gelöst und bildet mit der Bettdecke ein wüstes Knäuel.
Ich muss einen Alptraum gehabt haben, sage ich mir, und ich versuche, langsamer zu atmen, um mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Nur ein Traum. Zum Glück ist er jetzt vorbei. Zum Glück hat mich etwas geweckt.
Aber was? Der Wecker zeigt 5:00, draußen ist es noch dunkel. Keine Zeit, zu der ich sonst aufwache. Auf der Straße vor dem Fenster ist alles still.
Es klingelt. Ich gehe zur Tür und öffne. Es ist aber niemand da. Ich höre nur eine Stimme: "Möchtest Du nicht herein kommen?"
"Wo "herein" denn?" frage ich, "In den Hausflur?"
"Na, in deine Wohnung" antwortet die Stimme.
"Da bin ich doch schon!"
"Nö.", entgegnet die Stimme. "Schau dich doch mal um."
Ich schaue hinter mich. Hinter mir liegt der Hausflur. Und das Treppenhaus.
Ich blinzle. "Ähh...."
"Ja, rein jetzt oder raus? Du kannst die Tür nicht ewig offen lassen. Es zieht!"
Ich schaue wieder nach vorne. Dort liegt mein Wohnungsflur. Verwirrt mache ich ein paar Schritte in meine Wohnung und schaue mich um.
"Verzeihung?" sagt die Stimme, "Dürfte ich mal durch die Tür?"
Da ich inzwischen sicher bin, zu träumen, schockiert mich nicht mehr, was ich sehe. Das Wesen, das vor mir steht, hat Extremitäten, die an die eines Löwen erinnern. Eines Löwen mit grünem Fell. Über seinen Rücken verläuft ein Stachelkamm, der an einen Waran oder einen Leguan erinnert; daneben erstrecken sich zwei Drachenschwingen, die mich in Verbindung mit der aufrechten Haltung der Gestalt kurz an einen Engel denken lassen – nur solange jedoch, bis mir das Wort "Dämon" einfällt. Das merkwürdigste aber ist der Kopf. Als hätte man einen Kraken auf den Rumpf genäht (einen Hals scheint es nicht zu geben). Über den Oberkopf ziehen sich knochige Wülste, darunter eine hervorspringende Stirn mit zwei halb seitwärts gerichteten, roten Echsenaugen. Eine Nase oder ein Maul scheint das Ding nicht zu haben; stattdessen beginnt unter der Augenparty ein wogender Bart aus Fangarmen, die der Kreatur bis hinunter zum Bauch reichen.
Ich kenne diese Gestalt. Ich habe diese Tentakelfratze auf Spielkarten gesehen, auf Spielkarten, einmal sogar als Statue in einem Rollenspielladen. Ich kenne Geschichten über sie und Lieder, sogar eine Reihe von parodierten Weihnachtsliedern, die in gewissen Kreisen alle lustig finden. Nach meinem Lachen suche ich vergeblich. Ich fühle, wie meine Knie weich werden. Da hilft es auch nicht viel, dass die Gestalt mir kaum bis zu diesen reicht. Und zudem Glasaugen und sichtbare Nähte hat. Vor mir steht ein etwa kniehoher Plüsch-Cthulhu und schaut auf mich herab. Wie er das macht, frage ich mich schon nicht mehr.
"Also was nun? Kann ich rein?"
Traum oder nicht – den will ich nicht in der Wohnung haben! denke ich mir.
"Klar – nur zu" sage ich und trete zur Seite.
"Danke auch!" sagt Cthulhu und stapft an mir vorbei durch die Tür, wobei die Plüschtentakel in seinem Gesicht aufgeregt wuseln.
"Den wäre ich los", denke ich mir. "Das war ja erstaunlich einfach."
Ich drehe mich um. Und schaue in meinen Wohnungsflur.
"Ja, was jetzt?" höre ich aus meiner Wohnung, "Kommst Du mal? Oder willst Du draußen bleiben?"
"Wieso? Ich bin doch drinnen?"
"Nein. Du bist draußen."
"Quatsch", gebe ich zurück "Gerade war ich draußen. Dann bin ich rein gegangen. Jetzt bin ich also drinnen"
"Schau dich doch mal um.", sagt die Stimme. Hinter mir liegen der Hausflur und das Treppenhaus. Ich sehe das gegen die Hausregeln vor der Haustür geparkte Fahrrad meines Nachbarn auf der dritten Etage, den Kinderwagen im Treppenhaus über mir und, im Fenster gespiegelt, den Thor-Steinar-Aufkleber an der Tür der Wohnung unter meiner. Verwirrt gehe ich zurück in die Wohnung.
"Mach mal die Tür zu, es zieht!" kommt es aus dem Wohnzimmer. Und obwohl ich eigentlich gerade noch darüber nachdenke, ob es jetzt nicht besser wäre, auf die Straße zu laufen und laut um Hilfe zu schreien, gehorche ich, ehe ich recht merke, was ich da eigentlich tue.
"Komm mal her." sagt die Stimme. "Wenn Du schon hier in meiner Wohnung wohnst, will ich dich wenigstens mal kennenlernen."
"Wie bitte?" sage ich, und laufe ins Wohnzimmer.
Dort angekommen, halte ich inne. Irgendwas ist hier anders. Alles ist anders. Der Teppich, der hölzerne Wohnzimmertisch, die Dinge darauf – Fernbedienung, Weinglas, Kerze, Stift, ein kleiner Block --, die Bücher im Bücherregal – alles ist irgendwie verschoben, irgendwie asymmetrisch, irgendwie falsch; nichts ist da, wo es sein sollte, alles da, wo es nicht sein sollte und liegt gegeneinander versetzt und verdreht in Winkeln, die es gar nicht geben dürfte. "Nichteuklidisch" schießt mir durch den Kopf, warum auch immer. Von dem Anblick wird mir schwindlig, fast übel. Und doch finde ich es erstaunlich schwierig, mich davon loszureißen.
Trotzdem. Ich kann ja nicht den ganzen Tag damit verbringen, vor meinem Wohnzimmer zu erschaudern. Es gibt etwas zu klären. Dringend.
"Raus hier!", rufe ich, und bemerke erfreut, dass ich deutlich sicherer klinge als ich bin. "Das ... äh ... das ist Hausfriedensbruch!" Im Stillen verfluche ich mich. Dieser Zusatz hat es nicht unbedingt besser gemacht.
"Wie bitte?", fragt Cthulhu, "Wie kann das denn sein? Du hast mich doch hereingebeten!"
"Habe ich nicht!", protestiere ich!
"Doch. Sonst wäre ich nicht drinnen. Geht gar nicht anders"
Mich beschleicht ein ungutes Gefühl.
"Hör mal.", frage ich, "Wann soll das gewesen sein?"
Er blickt mich mit seinen starren, roten Augen an.
"Ja klar, komm rein!" höre ich meine eigene Stimme in meinem Kopf.
"Das ist unfair!" rufe ich. "Als ich das gesagt habe, dachte ich ja, hier wäre draußen. Eigentlich wollte ich, dass Du raus gehst!"
"Hast Du aber nicht gesagt.", erwidert Cthulhu.
"Du treibst mich noch in den Wahnsinn!"
"Kann schon sein."
Cthulhu grinst. Glaube ich zumindest. Die Oberlippententakel verziehen sich zu einem leicht nach oben gewölbten Halbkreis.
"Ich kenne mich bald gar nicht mehr aus! Jetzt verrate mir wenigstens, ob ich gerade drin oder draußen bin!"
"Ach, drinnen, drauen...", Cthulhu schaut gelangweilt an die Zimmerdecke. "Das sind doch menschliche Kategorien..."
Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 1 -- Einzug
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