Eins muss man Cthulhu zugestehen: Er hat nicht zu viel versprochen. Mein Leben ist tatsächlich viel aufregender als früher. Von der Arbeit heimzukehren und die Wohnungstür zu öffnen ist wie eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was man kriegt.
In diesem Fall schlägt mir als erstes ein bestialischer Gestank entgegen. Vor mir sehe ich eine pulsierende Röhre aus einem roten Material, das weich wirkt und eine klare Flüssigkeit absondert. Vermutlich eine Speiseröhre. Ich mache mir eine mentale Notiz, dringend mehr über Anatomie zu lernen. Dann trete ich ein und mache den Mund hinter mir zu. Kurz frage ich mich, ob ich so etwas wie "Cth, ich bin daheim!" rufen soll, aber das weiß er ja offenbar schon. Vermutlich hat er den ganzen Tag allein zuhause gesessen und sich diese Wahnvorstellung extra für mich ausgedacht. Inzwischen bin ich ganz gut darin, zu schätzen, wo sich das Schlüsselbrett befindet. Vor zwei Wochen, als der Flur ein Flammenmeer gewesen war, hatte ich damit noch Schwierigkeiten, er fiel mir erst mehrere Dutzend mal herunter, bis ich es aufgegeben habe. Tags darauf dagegen, als Boden, Wände und Decke aus sich in Qualen windenden Menschen bestanden hatten, hatte es dagegen sofort geklappt, den Schlüssel an eine aus der Wand ragende Hand zu hängen. Bei der völligen, tiefschwarzen Leere war es noch einmal etwas anspruchsvoller gewesen, erst im zehnten Versuch hatte es geklappt. Doch spätestens seit dem riesigen Spinnennetz habe ich es einfach drauf; ich brauche nicht einmal mehr hinzusehen. Ich halte meinen Schlüsselbund an die entsprechende Stelle der wabernden Haut und spüre zufrieden, wie er dort hängenbleibt – auch wenn er für mich gleich darauf unsichtbar und unfühlbar wird. Klar, denke ich mir, ein Schlüsselbund mit Garfield-Schlüsselanhänger hat in so einer Speiseröhren-Wahnvorstellung natürlich keinen Platz.
Jetzt wird es allerdings etwas kniffliger. Erstens beginnt der Tunnel, ringförmige Wellen zu werfen, die mich aus dem Gleichgewicht bringen und, wenn ich nicht aktiv in die andere Richtung laufe, ins Innere ziehen. Vermutlich werde ich gerade heruntergeschluckt. Ich überlege kurz, wo ich wohl landen würde, wenn ich mich der Bewegung überließe. Der Schlund verliert sich – natürlich – in endloser Weite und Dunkelheit, findet jedoch de facto wohl in etwa vier Metern sein natürliches Ende in meinem Badezimmer. Was im Grunde nicht so schlecht ist, denn tatsächlich möchte ich mich frisch machen und mir die Hände waschen. Aber vorher will ich noch mein Essen in die Mikrowelle stellen. Dazu freilich muss ich erst die Küchentür finden. Die würde unter normalen Umständen hier irgendwo rechts abgehen, jetzt ist jedoch keine Spur von ihr zu entdecken.
Zu allem Überfluss fängt das ganze Gebilde jetzt auch noch an, sich zu drehen. Einige Augenblicke lang laufe ich noch mit, ein bisschen wie in einem Hamsterrad, dann reißt mir die nächste Schluckbewegung die Füße weg und ich rolle über den Boden.
"Was soll das denn?", rufe ich, "Ist das Monster, das mich verschluckt hat, vielleicht erst vier Jahre alt und kullert gerade einen Abhang herunter? Etwas mehr Ernsthaftigkeit, wenn ich bitten darf!"
Irgendwo von links höre ich aus der Wand ein Glucksen. Ob es sich um Magensäfte handelt oder um Cthulhus Lachen, kann ich nicht sagen. Immerhin, das Drehen hört auf, und ich schaffe es wieder, mich hochzurappeln.
"Na toll", denke ich, "jetzt weiß nicht einmal mehr, ob die Küchentür sich rechts oder links von mir befindet – oder auch über oder unter mir!"
Natürlich immer noch rechts von dir, sage ich mir. Dass deine Wahrnehmung ein wenig verrückt spielt, ändert ja nichts an den Tatsachen. Im Grunde ist das hier nicht viel anders als betrunken zu sein. Nur, dass es am nächsten Morgen nicht vorbei ist.
Von der Türschwelle sind es etwa drei Schritte. Ich drehe mich also um – hinter mir hat sich der Eingangsbereich mittlerweile in ein Maul verwandelt, die Tür besteht aus zwei Reihen langer, spitzer, ineinander verkeilter Zähne – gehe bis zur Zahnreihe zurück und gehe von dort aus drei Schritte den Schlund entlang. Hier etwa muss es sein, jetzt gilt es, entschlossen zu handeln. Eine Wand in meinem Kopf kann zwar meinem Tastsinn vorgaukeln, mit ihr zu kollidieren, doch meinen Körper aufhalten kann sie nicht. Es ist ein wenig, wie Gleis 9 3/4 zu betreten. Und ähnlich unangenehm, wenn es schiefgeht, weil ich mich in der Stelle verschätze. Eigentlich sogar deutlich unangenehmer, so ganz ohne Koffertrolley und Eule. Zumindest mache ich mittlerweile in weiser Voraussicht die Küchentür nicht mehr zu. Ich nehme von der anderen Wand aus Anlauf, halte schützend die Hände vors Gesicht und renne mitten in das tropfende Fleisch hinein. Ich stoße durch und mir heftig den linken Ellenbogen. Die Schätzung hat wohl einigermaßen hingehauen, perfekt ist etwas anderes. Ich nehme mir vor, den Flur genau zu vermessen, wenn er das nächste mal wieder sichtbar wird.
In der "Küche" wird die Sache leider nicht einfacher. Ich stehe bis zu den Knöcheln in einer klaren, warmen, mit blasen durchsetzten Flüssigkeit. Die Mikrowelle kann ich noch mit einiger Sicherheit identifizieren: Etwa dort, wo sie sich befinden müsste, wächst eine fleischige Pflanze aus der Wand, die aussieht wie ein zu kurz geratenes Seeungeheuer mit offenem Maul. Vom Kühlschrank jedoch fehlt jede Spur. Ich schaue mich etwas verloren um.
Wieder dieses Glucksen. "Hey, Cth, es reicht!", rufe ich, "Wenn Du heute noch etwas zu essen bekommen willst, dann sag mir jetzt gefälligst, wo in dieser verdammten Wahnvorstellung der Kühlschrank ist!"
Tatsächlich verstummt das Glucksen. "Warm!", höre ich eine Stimme in meinem Kopf. Offenbar stehe ich schon nicht so schlecht. Ich mache einen Schritt in die Richtung, in der ich den Kühlschrank vermute. "Kälter!" Verwundert gehe ich zwei Schritte zur Seite. "Wärmer!" Seltsam, denke ich. Hier hätte ich eher die Spüle vermutet. Langsam bewege ich mich in dieselbe Richtung weiter. "Wärmer ... noch wärmer ... ganz warm... sag mal, was machst Du da eigentlich? Ich dachte, Du willst zum Kühlschrank, warum läufst Du dann die ganze Zeit von ihm weg Richtung Waschmaschine?"
"Was soll das denn heißen?", gebe ich empört zurück, "Wieso sagst Du mir denn dann, dass es wärmer wird, wenn ich mich vom Kühlschrank entf..." Ich unterbreche mich. Jetzt, wo ich die Frage ausspreche, ist die Antwort irgendwie offensichtlich. Rasch gehe ich zurück zum Ausgangspunkt meiner suche. "Gut so. Viel kälter!", höre ich.
So klappt es tatsächlich. Nach ein paar Minuten habe ich den Kühlschrank gefunden, geöffnet und eine Pizza herausgeholt. Nun halte ich ein unaussprechliches Etwas in der Hand. Ich reiche es der Pflanze hin, die es sofort gierig einsaugt.
Das hätten wir. Ich trete zurück in die Speiseröhre, setze mich und lasse mich in Richtung Bad schlucken. Mal sehen, was mich dort erwartet.
Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 4 -- Der Flur
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 3 Gäste