Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 10 und 11 -- U-Bahn und Deko

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.12.2023, 01:18

10

Eigentlich will ich lesen. Es ist halb acht, ich sitze in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Schoß eine halb korrigierte Bachelorarbeit. Leider wandert meine Aufmerksamkeit immer wieder zu der Dame hinüber, die ein paar Meter weiter an der Tür steht und dabei einfach einfach umwerfend gut aussieht. Immerhin hilft mir die Arbeit dabei, meine Blicke nicht hinterher wandern zu lassen; am Ende schaut sie noch zurück, und was dann?
Ich schaue wieder in die Arbeit, auf diesen verdammten Absatz – nicht den an ihrem Schuh --, den ich jetzt schon zum dritten Mal lese. So schwer kann er eigentlich nicht sein, er besteht aus kurzen, einfachen Sätzen aus kurzen, einfachen Wörtern. Wenn nur die Aufmerksamkeit mal für mehr als drei Wörter dabei bleiben könnte!
Also auf ein Neues: "In dieser Arbeit soll untersucht werden..."

Hat sie mir gerade zugezwinkert?

Ich habe es ganz deutlich gesehen; aus den Augenwinkeln zwar, aber deutlich. Unangenehmerweise schaue ich sie jetzt auch noch direkt an.

Sie zwinkert erneut.

Mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Hoffentlich laufe ich nicht rot an, was wäre das für ein Klischee!

Irgend etwas an diesem Zwinkern kommt mir instinktiv äußerst merkwürdig vor. Sogar noch über das Ausmaß an Merkwürdigkeit hinaus, das Damen, die mir zuzwinkern, ohnehin bedeuten. In meiner Verwirrung dauert es eine Weile, bis ich das Problem bemerke.

Die Dame steht mit dem Rücken zu mir.

Und zwinkert.

So ein Unsinn, denke ich mir. Zum Zwinkern braucht man Augen, die sind vorne; mit dem Hinterkopf kann man nicht zwinkern.

Nun lächelt sie mich an.

Mit dem Hinterkopf.

Was zur Hölle, denke ich, da fällt es mir ein: Die Bahn hat Fenster, draußen ist es dunkel; vermutlich war es ihr Spiegelbild, das ich habe zwinkern und lächeln sehen. Ich schaue zum Fenster herüber. Das erste, was mir auffällt, ist ein großer schwarzer Schmutzfleck auf meiner Nase; das nächste eine Haarsträhne, die aus meinem Schopf ragt wie eine Antenne. Instinktiv greife ich mir an den Kopf. Doch weder die Antennensträhne noch der Schmutzfleck lassen sich ertasten, und so sehr ich auch reibe, der Fleck wird nicht weniger.

Ich senke meine Hand, um zu prüfen, ob etwas von dem Schmutz daran haften geblieben ist. Dabei sehe ich auf meine Armbanduhr. Viertel nach sieben. Zeit genug. Ich entspanne mich ein wenig.

Aber verdammt noch mal, gerade war es doch halb acht!, schießt es mir durch den Kopf, doch ich komme nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Augenblick beißt mich die Bachelorarbeit in die linke Hand. Mit zusammengebissenen Seiten und knackendem Einband ruckelt sie hin und her, wie ein Hund, der ein Kaninchen erwischt hat. So, wie meine Hand schmerzt, bin ich mir nicht sicher, ob der Einband das einzige war, was da geknackt hat.

„Runter von mir, was denken Sie sich eigentlich!“, schimpft mein Sitz, der plötzlich kein Sitz mehr ist, sondern ein graumelierter Herr mit Nickelbrille und Aktentasche. Ich springe auf. Ziemlich peinlich, das. Die Bachelorarbeit hängt weiterhin an meiner Hand und kaut darauf herum.

Langsam beschleicht mich der Verdacht, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Nach kurzem Nachdenken fällt es mir ein.

Flensburg hat gar keine U-Bahn.

Ich verdrehe die Augen.
"Lass den Scheiß!", rufe ich, "Ich habe jetzt keine Zeit für deine Spielchen! Ich muss aufstehen, und dann zur Arbeit! Und ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass Du in meinen Träumen nichts verloren hast!"

Ich schlage die Augen auf. Ob das Kichern in meinen Ohren noch vom Traum herkommt oder von Cthulhu, der rittlings auf meiner Brust sitzt, ist mir egal. Es ist fünf nach sieben, und ich muss dringend los.

Hoffentlich, denke ich, während ich, die Jacke noch unterm Arm und den rechten Schuh offen, zur U-Bahn-Station rase, hoffentlich ist das jetzt die echte Welt. Sonst wird es knapp.






11

"Ich habe umdekoriert. Gefällt es dir?"

Das Wohnzimmer ist nicht wiederzuerkennen. Wo früher weiße Wände waren, hängen jetzt Bilder. Wo früher Poster hingen, hängen jetzt Bilder. Es hängen Bilder an den Schranktüren. Selbst über
den Fenstern hängen Bilder, wodurch jetzt nur noch spärliches Licht in den ehemals hellen Raum fällt. Ehe ich zur Decke schaue, ahne ich schon, was ich dort sehen werde: Bilder. Ich frage mich kurz, wie er sie da eigentlich angebracht hat, beschließe dann aber, dass ich eigentlich gar nicht wissen will. Als ich die Wand neben mir genauer betrachte, fällt mir auf, dass die Bilder nicht an der Wand hängen, sondern über weiteren Bildern. Alle zeigen dieselbe Großaufnahme von Cthulhus Gesicht.

"Hübsch, nicht?" fragt er.

"Total.", gebe ich zurück. "Eine gelungene Auswahl von Motiven, die zeigen, was dir wichtig ist. Und so vielfältig." Durch die Tentakel läuft etwas, was entfernt einer Laola-Welle ähnelt. "Aber man sagt ja, weniger ist mehr. Zugegeben: Ich bin ein Laie, was Innenarchitektur angeht; aber hätten vier oder fünf Bilder von dir nicht die gleiche oder sogar eine stärkere Wirkung als" – ich blicke mich kurz im Halbdunkel um und sage dann die erste Zahl, die mir in den Sinn kommt – "hundert, die alle das gleiche zeigen?"

Die Tentakel erschlaffen und fallen schlagartig nach unten. Dann versteifen sie sich und hängen an Cthulhus Gesicht wie Eiszapfen. "Dreihundertvierundfünfzig.", kommt die knappe Antwort. "Die anderen werden erst morgen geliefert, irgendwas bei der Post..."

"Schlimm." Ich gebe mir alle Mühe, Anteilnahme in meine Stimme zu legen. Die Tentakel zeigen weiterhin steil nach zum Boden. Ich kenne ihn inzwischen gut genug, um in etwa zu wissen, was das heißt.Was nicht heißt, dass ich es ausdrücken könnte. Für die meisten seiner, nennen wir es mal Stimmungen, hat unsere Sprache allenfalls ein entfernt passendes Wort. Oder mehrere. Aktuell fallen mir ein: Überraschung, Enttäuschung, Wut. Die verspätete Post allein kann das nicht sein. Ich frage lieber mal nach. Offen, sensibel und empathisch. Ein guter Vorsatz. Aber mehr als ein "Ist sonst noch was?" kommt leider nicht dabei heraus.

Es kommt Bewegung in die Tentakel, sie beginnen, an den Enden leicht zu zittern, eine Bewegung, die sich allmählich nach oben fortsetzt. "Ob noch was ist?" Weiterhin zitternd richten die Tentakel sich auf. "Ob noch was ist?!" Die Tentakel weisen nun senkrecht nach oben und sind in wilder Bewegung, die Augen schauen hinter ihnen hervor wie hinter einer Flammenwand. "Allerdings ist es das!", stößt er hervor. "Ich habe wochenlang gearbeitet, um diese Auswahl zusammenzustellen. Und jetzt sagst Du mir, sie zeigten "alle das gleiche!"

"Tun sie das denn nicht?" Ich schaue genauer hin. Gibt es da Nuancen, die mir auf den ersten Blick entgangen sind? Auf den zweiten jedenfalls nicht. Und auf den dritten auch nicht.
"Ich glaub, ich steh' gerade auf dem Schlauch", sage ich. "Hilf mir mal."

Glücklicherweise lässt er sich darauf ein. Das Tentakelflammenmeer lodert etwas langsamer und niedriger. Ein einzelner Fangarm schert gänzlich aus und richtet sich wie ein ausgestreckter Zeigefinger schräg nach vorne. "Das da. Schau genau hin. Was glaubst Du, was da hier zeigt?"

"Dein Gesicht", antworte ich. Ich wüsste wirklich nicht, was ich sonst sagen sollte.

"Stimmt. Und das hier?" Er zeigt auf ein etwas kleineres, das das erste etwa zu einem Viertel verdeckt.

"Auch dein Gesicht?"

"Nein. Schau doch mal genau hin! Das ist ein Bild vom Spiegelbild meines Gesichts im Badezimmerspiegel!"

"Ach so." Immerhin, jetzt weiß ich jetzt, wie der Hase läuft.

Das Zeigetentakel zuckt herum. "Und das hier?"

"Äh... Ein Bild vom Spiegelbild im Wohnzimmerspiegel?"

"Quatsch. Das hängt da drüben."

"Ein Bild davon, wie dein Spiegelbild im Badezimmerspiegel sich im Wohnzimmerspiegel spiegelt?" versuche ich es erneut.

"Da hängt über dir." Er zeigt auf die Decke. "Aber nah dran, nur falsch herum. War übrigens nicht leicht, den Wohnzimmerspiegel ins Badezimmer zu kriegen."

Das erklärt wohl die Kratzer im Parkett. Ich hatte den Eindruck, es seien ein paar neue dazu gekommen. "Was man für die Kunst nicht alles auf sich nimmt."

"Genau. Und das hier, das ist ein echter Knüller!" Die Tentakel wuseln nun aufgeregt herum, wie vier Dutzend Finger, die sich nicht einigen können, wohin sie zuerst zeigen sollen.

"Ein Spiegelbild im Wohnzimmerspiegel von deinem Wohnzimmerspiegelbild im Badezimmerspiegel?"

"Quatsch. Das ist ein Bild von dem ersten Bild, das ich von der Spiegelung meiner Spiegelung im Badezimmerspiegel im Wohnzimmerspiegel gemacht habe."

"Und das da?"

"Ein Screenshot von deinem Tablet, wie es das Bild vom Bild von der Spiegelung der Spiegelung meines Spiegelbildes zeigt."

"Verstehe...", sage ich und seufze, aber nur ganz leise. Das wird wohl ein langer Nachmittag...

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