Lieber Leser, ich dachte mir: So viel auf einmal möchten Sie nicht lesen und deshalb wollte ich diese Geschichte in Stückchen servieren wie einen Apfelkuchen. Wenn Ihnen dieses erste, kleine Stückchen gefällt, geben sie mir einfach bescheid und sie erfahren wie das zweite aussieht!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit...Hoffentlich belaste ich Sie nicht zu sehr mit diesen Morgenrot-Märchen...Ich wünsche jedenfalls viel Spaß!
Die Sonne war gerade dabei ihren Rückzug anzutreten und Monsieur Morgenrot wartete am Ufer der Spree. Er sah auf seine elegante Uhr mit dem üblichen schwarzen Lederbändchen (...aus Gründen, die selbst ihm unerfindlich waren trug er auch jederzeit eine weitere Armbanduhr in der seidenen Innentasche seines Jacketts, deren Stoff mit dem Violett der Achatsteine eingefärbt war).
Dieser weiteren Armbanduhr fehlte allerdings ein Teil des Bändchens, sodass sie nur noch träge auf dem Tisch liegen oder schläfrig in seiner Tasche schwer seufzend ticken konnte... Aber Monsieur Morgenrot sah nicht nur diese halbe Uhr, wenn er auf sein unvollkommenes Zeitmessinstrument blickte, nein, wenn er sie ansah, war es, als ob er einen langen, goldenen Zopf aus alten, schönen Erinnerungen mit seinen inneren Augen flechten könnte...
Doch weder die edle Armbanduhr, noch die halbe Uhr konnten Monsieur in diesem Augenblick ernsthaft ergötzen.
Der Bus hatte jetzt schon ganze zwei Minuten Verspätung. Zwei Minuten seines Lebens, die sinnvoll gefüllt werden mussten, überlegte er sich und starrte auf die dunkelblaue Spree. Eine muskatfarbene Taube tauchte mit einem Zischen im Flug ihr zart gemustertes Gefieder ins Nasse und setzte sich danach frisch und gekühlt zu ihren grauen, gurrenden Freunden auf die Brüstung neben der Neptunstatue.
Davor, auf der Brücke, standen zwei alte, dickliche Damen, die winzige, gelbe Mirabellen und bleiche, blassrote Kirschen verkauften. Doch Monsieur hatte jetzt keinen Appetit. Das Sonnenlicht legte sich funkelnd auf die Spree und für Monsieur sah es aus, als würden unter der Wasseroberfläche mindestens hundert Flussgeister stehen, die mit Taschenlampen nach oben strahlten und sie unablässig an- und ausschalteten...
Die vollkommene Schönheit dieses Moments hätte Monsieur beinahe zu einem Ach, ja! verführt, aber dann sah er plötzlich den herbei geschaukelten Bus vor sich stehen. Er tastete nach seinem Fahrschein, fühlte aber nur die halbe Uhr in der Seidentasche, welche vor Aufregung ganz kurz anfing doppelt so hastig zu ticken...
Schon gut. murrte der Fahrer. Es war ein dunkelblonder, dickbäuchiger Herr mittleren Alters, der einen langen, krausen Vollbart trug und mit seinen tiefen Lachfältchen neben den grauen Augen fast sanfte Züge zeigte. Danke flüsterte Monsieur etwas verwirrt, denn genau in diesem Augenblick sah er die weiße Bommel einer roten Zipfelmütze aus der schwarzen Hosentasche des Fahrers herauslugen. Erschrocken stopfte der vermeintliche Chauffeur seine Kappe zurück in die dunklen Tiefen seiner Hose. Die beiden sahen sich für einen Moment stumm in die Augen und gerade als Monsieur Morgenrot nachfragen wollte, flüsterte der Herr am Lenkrad: Schschscht...
Monsieur befolgte diese Anweisung und begab sich noch zerstreuter als zuvor zu einem der freien, marienkäfer-gefärbten Sitzplätze. Er sah sich in den schunkelnden Sitzreihen um. Da war ein junger Mann, der wahrscheinlich indischer Herkunft war, denn er verspeiste die landestypischen, scharfen Nüsse, die er sich im Zehn-Sekunden-Takt aus der hohlen Hand in den Mund warf und dabei sah er aus wie eine Robbe mit erhobenem Hals.
Ihm gegenüber saßen zwei Frauen, die sich gerade erst kennen gelernt hatten, da sich die eine auf den Rocksaum der anderen gesetzt hatte.
Und da ham wa mal gewohnt.
-Watt? Im Olympiastadion?
Nee, in der Schwimmhalle!
-Monsieur Morgenrot sah verdutzt aus seinem Fenster, an dem die ersten Regentropfen hinunter schlichen. Sie bildeten im Fahrtwind längliche Striche, die aussahen wie Kratzer auf einem transparenten Gesicht und Monsieur genoss es endlich einmal die Rückseite eines Tropfens zu sehen, der sich an die Scheibe schmiegte wie an eine kurzweilige Geliebte (...)
Die mechanische, aber doch sehr reizende Roboterstimme der Stationendame benannte den nächsten Halt und Monsieur versuchte sich vorzustellen wie diese unsichtbare Frau wohl aussehen würde. Vielleicht war das auch gar keine Maschine, dachte er, beinahe etwas verliebt in ihre warme Stimme...sondern sie saß Tag und Nacht auf dem Busdach in ständiger Angst vor neuen, harten Zweigen, die sie hinunter stoßen könnten...
Als er das Geräusch einer Baumkrone hörte, die gegen die Busfenster im oberen Stockwerk polterten, wurde ihm ein bisschen mulmig zumute...
Die vordere Tür öffnete sich und ein blondierter Junge im Wachstumsalter mit Trainingsanzug stieg ein. Während er in der Rechten einen dampfenden, bekannten, türkischen Imbiss hielt, kramte seine Linke den Fahrschein aus der Jackentasche. Doch gerade als er ein abgewetztes Papierstück empor strecken wollte, sagte der vermeintliche Fahrer mit beschwörender, tiefer Stimme: Nicht mit dem Döner.
Leicht säuerlich sprang der junge Herr wieder zurück auf die Straße. Er bemerkte dabei allerdings nicht wie eine weiße Zwiebelscheibe auf den glitzernden, dunklen Busboden flog...
M. Morgenrot und die Zwiebelscheibe im Bus (Erster Teil)
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