Der Alte

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Herby

Beitragvon Herby » 07.09.2006, 10:04

Der Alte

Alles ist vom Feinsten, und doch stimmt irgendetwas nicht an diesem Abend. Der gemietete Saal in einem Fünf – Sterne Hotel ist mit Blumengestecken und Kerzen auf den runden Tischen festlich geschmückt, zur Begrüßung spielen Studenten der Musikhochschule leichte Klassik, das kalt – warme Buffet sieht erlesen und opulent aus, nach dem Essen wird eine Band zum Tanz aufspielen, die Gäste erscheinen in eleganter Abendkleidung und voll freudiger Erwartung eines schönen Festes. Mein Kollege hat es sich zweifelsfrei etwas kosten lassen, seinem 50. Geburtstag einen stilvollen Rahmen zu verleihen und ihn für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Da ich um die große Zahl der Eingeladenen, etwa 120 Personen, wusste und das Schlangestehen bei Gratulationsdefilées hasse, war ich schon sehr früh im Hotel und somit einer der ersten gewesen, der seine Glückwünsche nebst Geschenk überbringen konnte. Nun stehe ich mit einem Glas Champagner etwas abseits, gebe mich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hin, betrachte die nicht abreißende Schar der Gratulanten, die an dem gut gelaunten Jubilar und seiner Frau vorbeiziehen, und forsche in Gedanken nach der Quelle meiner Unzufriedenheit, als mein Blick auf meinen Kollegen fällt. Er plaudert charmant, schüttelt Hände und umarmt, nimmt lächelnd Präsente und gute Wünsche entgegen, und plötzlich weiß ich, was für mich nicht stimmt.
Während ich ihm zusehe, schiebt sich vor meine Augen ein anderes Gesicht und ein anderes Lächeln, dem ich vor langer Zeit einmal begegnet bin …

Ich wartete vor dem Hauptbahnhof, wo mich ein Freund mit dem Wagen abholen wollte. Da es mir in der großen Eingangshalle zu laut und voll war, war ich hinaus auf den Vorplatz gegangen. An diesem warmen Sommerabend herrschte das übliche Treiben, das man überall vor Hauptbahnhöfen antrifft: Berufspendler auf dem Weg nach Hause, Reisende, deren Fahrt hier begann oder endete, ankommende und abfahrende Taxis, abgehetzte Berufstätige, die nach Ladenschluss in den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe tätigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame, denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Während ich rauchend auf und ab ging, bemerkte ich einen alten Mann, der rechts hinter dem Seitenausgang stand und seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen zur letzten Gruppe gehörte. Unter einem dünnen, verschlissenen Mantel trug er eine viel zu weite, mehrfach geflickte Hose und ein verschmutztes Sweatshirt. Die Sandalen, in denen seine nackten Füße steckten, wurden von ausgefransten Lederriemen nur notdürftig zusammengehalten. Sein von den Entbehrungen des Lebens gezeichnetes und von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ließ ihn vermutlich älter aussehen als er tatsächlich war. Es wurde eingerahmt von schulterlangen, leicht ergrauten Haaren, die im Gegensatz zu seiner Kleidung gepflegt aussahen und sorgfältig gekämmt waren. Er sprach niemanden um Geld oder Zigaretten an, stand einfach nur da, die Hände vor der Brust gekreuzt, das Treiben um sich herum betrachtend. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich in Augen, die mehr Tiefen als Höhen gesehen hatten. Er nickte mir freundlich zu. Ich erwiderte seinen Gruß und schaute rasch weg, weil ich ihm nicht den Eindruck vermitteln wollte ihn anzustarren wie ein fremdartiges Insekt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr sagten mir, dass mein Freund sich offenbar verspätet hatte, also schlenderte ich weiter über den Vorplatz. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich aus den Augenwinkeln nach dem Alten schaute, der auf mich eine eigenartige, mir unerklärliche Anziehungskraft ausübte. Plötzlich klingelte mein Handy. Es war mein Freund, der mir erklärte, er warte am Hinterausgang des Bahnhofs auf mich. Der Weg zum Haupteingang würde mich direkt an dem Alten vorbei führen. Ich griff in die Tasche, kramte etwas Kleingeld hervor und trat auf ihn zu. Mir war aufgefallen, dass er mich beobachtet hatte, aber entgegen meiner Erwartung öffnete er seine Hände nicht. Ich befürchtete schon, meine Absicht, die er erkannt haben musste, hätte ihn verletzt, als er mit einem Mal seine Hände löste. Unsicher gab ich ihm die Münzen und wollte meine Hand wieder zurückziehen, doch zu meinem Erstaunen umfasste er sie und hielt sie für Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, fest. Keiner von uns sprach ein Wort, wir schauten uns nur an und ein Lächeln, wie ich es so schön und tief noch nie gesehen hatte, erhellte sein faltiges Gesicht.
Es war ehrlich überrascht, dankbar, voller Herzlichkeit und, ja, Güte. Aus ihm sprachen eine stille Würde, heitere Gelassenheit und zugleich ein großes Wissen um die Unvollkommenheit der Welt und ihrer Menschen. In dieses Lächeln hätte ich stundenlang schauen, in ihm wie in einem Buch des Lebens lesen können.
Behutsam löste ich mich schließlich aus seinem Griff und ging auf den Haupteingang zu. Mein Freund, dem ich kurz darauf im Auto von dem alten Mann erzählte, meinte nur: „Na und? Was machst du von dem denn für ein Aufhebens? Ist doch nur einer von Tausenden, die vor Bahnhöfen herum lungern.“ Ich schwieg. Gewiss, er war nur einer unter Vielen, aber für mich war er zu jemand ganz Besonderem geworden. Ohne dass es ihm und mir in dem kurzen Moment an jenem Abend bewusst gewesen wäre, hatte er mir sehr viel mehr gegeben als ich ihm mit meinen Münzen.
Meine Wege sollten mich in den kommenden Jahren noch oft zu diesem Bahnhof führen, doch dem Alten bin ich nie wieder begegnet.
Sein Lächeln aber sehe ich noch heute.

„… wer hätte das gedacht?“ Die Worte meines Kollegen reißen mich aus meinen Erinnerungen. „So danke ich Ihnen allen, auch im Namen meiner Frau, für Ihr Kommen und Ihre Geschenke sehr herzlich und hoffe, wir haben einen schönen Abend. Das Buffet ist eröffnet.“
Es ist sein Lächeln, das mir nicht gefällt.

Trixie

Beitragvon Trixie » 07.09.2006, 13:03

Hallo Herby!!

Das ist eine schöne Geschichte, sie hat mich sehr mitgerissen! Ich weiß, ich kommentiere äußerst selten bei Prosa, aber ich habe ja versprochen, Besserung zu geloben! Ich weiß nicht, ob ich dir arg weiterhelfen kann, aber gerade habe ich im Studium gelernt, dass die Schreibweise für dein "Fünf – Sterne Hotel" heutzutage entweder: Fünf-Sterne-Hotel oder auch ***** Hotel lauten kann. So oder so gehören die Gedankenstriche nicht zu Bindungswörtern, also auch die kalt-warme muss ohne Leerstrich erfolgen.

Sonst habe ich nicht viel zu mäkeln, mich persönlich störten im ersten Absatz die vielen Aufzählungen, sie schienen ein wenig heruntergeleiert. Dass der Leser diesen Eindruck bekommen soll, wird einem erst später bewusst, also dass dem LyrIch der "Schnick-Schnack-Rahmen" nicht wichtig ist. Deswegen wundert man sich ein wenig, dass er das beschreibt, dass er dort ist, dass das alles selbstverständlich ist und dazugehört und doch so "geleiert" scheint. Also, mir viele es leichter, den Aufzählungen zu folgen, wenn da vielleicht ein, zwei Punkte mehr wären. Den Mittelteil und den Schluss finde ich aber so gut gelungen, dass ich rein inhaltlich abgelenkt war vom Achten auf Fehlerteufel ;-).

Ich danke für diese Geschichte und werde von dir lernen!!

Liebe Grüße
Trixie

steyk

Beitragvon steyk » 07.09.2006, 16:04

Hallo Herby,
schön, von dir mal wieder zu lesen – und dann gleich mit einer Geschichte, die flüssig und mitreißend geschrieben ist und, obwohl sie eine Alltäglichkeit in unserer Gesellschaft erzählt, den Leser zum nachdenken anregt.
Wir „Satten“ sind oft nicht mehr zum ehrlichen Lächeln fähig und haben längst vergessen, daß es viele Menschen gibt, die am Rande unseres Wohlstandes ihr Leben fristen. Vorurteile bestimmen unserer Sicht auf sie.
Ich weiß aus eigener Erfahrung (ich engagiere mich in der Obdachlosenhilfe), daß sie Dankbarkeit ohne viele Worte zeigen können (z.B. ein ehrliches Lächeln) und Gefühle haben, die sie mit anderen teilen wollen. Ich kenne viele, die entgegen der weitläufigen Meinung, nicht dem Alkohol verfallen sind. Eines haben sie alle gemeinsam: Ihre Schicksale sind oft erschütternd.
Danke für diesen Text.

Gruß
Stefan

Herby

Beitragvon Herby » 09.09.2006, 13:37

Liebe Trixie,

ich setze nur selten mal Texte in die Prosaabteilung und habe mich daher über deine konstruktive Rückmeldung sehr gefreut. Was die Rechtschreibung betrifft, so habe ich noch eine Frage. Es sollten bei mir auch keine Gedankenstriche, sondern Bindestriche sein. Soll der denn bei „kalt-warm“ tatsächlich völlig entfallen?? Das kommt mir seltsam vor.

Die Aufzählungen, die dich stören, sind mir wichtig, um Atmosphäre und Gegensätzlichkeit zu schildern. Aber dennoch sollten sie natürlich beim Leser nicht den Eindruck erwecken, herunter geleiert zu sein. Daher würde mich interessieren, wodurch genau das bei dir so ankam. Liegt es nur an der Sprache oder am Inhalt oder an beidem?
Du schreibst, es fiele dir leichter, den Aufzählungen zu folgen,

wenn da vielleicht ein, zwei Punkte mehr wären.

Ich nehme mal an, dass du hier nicht mehr, sondern „weniger“ meinst. Ich werde darüber nachdenken, ob ich eventuell noch kürzen kann.

Jedenfalls danke ich dir herzlich fürs Lesen, Kommentieren und deine lobenden Worte!


Hi Stefan,

auch dir ein herzliches Danke für deine Antwort und deine positive Resonanz. Der Mittelteil meines Textes beruht auf einer tatsächlichen Begegnung, die ich einmal hatte und die mich tatsächlich sehr beeindruckt hat. Ich finde dein Engagement in der Obdachlosenhilfe bewundernswert, obwohl oder gerade weil ich es mir nicht einfach vorstelle.

An euch beide liebe Grüße und ein schönes Wochenende!
Herby

steyk

Beitragvon steyk » 09.09.2006, 14:28

Hallo Herby,
ich habe keine Probleme mit Kalt - warm etc. (liegt wohl daran, daß ich die alte Rechschreibung bevorzuge und diese Art Gedankenstrichen (oder wie immer man sie nennen wil) selber nutze. Ich störe mich auch nicht an den Aufzählungen, die Trixie beanstandet - wobei ich sie nicht für ihre Meinung kritisieren will.
Hätte ich es wie sie gelesen, wäre das in meinem Kommentar zum Ausdruck gekommen. Aber daran sieht man wieder, daß jeder anders liest.

Gruß
Stefan

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.09.2006, 15:24

Hallo Herby,

ein sehr gelungene, tiefsinnige Geschichte, die den Leser nachdenklich stimmt. Ich bin mit ein paar Kleinigkeiten im deinem Text, sind jedoch nur peanuts;-), ein paar Umstellungen, einige Kommas eingefügt und einige "und" entfernt.
LG
Magic


Der Alte

Alles ist vom Feinsten, und doch stimmt irgendetwas nicht an diesem Abend. Der gemietete Saal in einem Fünf – Sterne Hotel ist mit Blumengestecken und Kerzen auf den runden Tischen festlich geschmückt, zur Begrüßung spielen Studenten der Musikhochschule leichte Klassik, das kalt – warme Buffet sieht erlesen und opulent aus, nach dem Essen wird eine Band zum Tanz aufspielen, die Gäste erscheinen in eleganter Abendkleidung und voll freudiger Erwartung eines schönen Festes. Mein Kollege hat es sich zweifelsfrei etwas kosten lassen, seinem 50. Geburtstag einen stilvollen Rahmen zu verleihen und ihn für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Da ich um die große Zahl der Eingeladenen, etwa 120 Personen, wusste und das Schlangestehen bei Gratulationsdefilées hasste, (war ich schon sehr früh im Hotel und somit einer der ersten gewesen, der seine Glückwünsche nebst Geschenk überbringen konnte.) besser: hatte ich sehr früh das Hotel betreten, meine Glückwünsche nebst Geschenk überbracht. Hier einen Absatz davor, da Zeitwechsel. Nun stehe ich mit einem Glas Champagner etwas abseits, gebe mich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hin, betrachte die nicht abreißende Schar der Gratulanten, die an dem gut gelaunten Jubilar und seiner Frau vorbeiziehen, und forsche in Gedanken nach der Quelle meiner Unzufriedenheit, als mein Blick auf meinen Kollegen fällt. Er plaudert charmant, schüttelt Hände (und umarmt), nimmt lächelnd Präsente und gute Wünsche entgegen. (, und p)Plötzlich (weiß) begreife ich, was für mich nicht stimmt.
Während ich ihm zusehe, schiebt sich ein anderes Gesicht mit einem anderen Lächeln vor meine Augen, eine Begegnung vor langer Zeit ... (ein anderes Gesicht und ein anderes Lächeln, dem ich vor langer Zeit einmal begegnet bin …)

Ich wartete vor dem Hauptbahnhof, (wo) an dem mich ein Freund mit dem Wagen abholen wollte. (Da es mir in der großen Eingangshalle zu laut und voll war, war ich hinaus auf den Vorplatz gegangen.) Die laute und überfüllte Eingangshalle ließ mich zum Vorplatz ausweichen. An diesem warmen Sommerabend herrschte das übliche Treiben, das man überall vor Hauptbahnhöfen antrifft: Berufspendler auf dem Weg nach Hause, die vielen Reisenden(, deren Fahrt hier begann oder endete, ankommende und abfahrende) reger Taxiverkehr(s), abgehetzte Berufstätige, die (nach Ladenschluss) in den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe tätigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame(warum machst du hier eine Unterscheidung zwischen Obdachlose und Einsamen? Ich würde Obdachlose schreiben), denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Während ich rauchend auf und ab ging, bemerkte ich einen alten Mann, der rechts hinter dem Seitenausgang stand und, seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen, zur letzten Gruppe gehörte. Unter einem dünnen, verschlissenen Mantel, trug er eine viel zu weite, mehrfach geflickte Hose und ein verschmutztes Sweatshirt. Die Sandalen, in denen seine nackten Füße steckten, wurden von ausgefransten Lederriemen nur notdürftig zusammengehalten. Sein von den Entbehrungen des Lebens gezeichnetes und von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ließ ihn vermutlich älter aussehen, als er tatsächlich war. Seine schulterlangen, leicht ergrauten Haare, sahen, im Gegensatz zu seiner Kleidung, gepflegt, sorgfältig gekämmt aus. (Es wurde eingerahmt von schulterlangen, leicht ergrauten Haaren)(, die im Gegensatz zu seiner Kleidung gepflegt aussahen und sorgfältig gekämmt waren.) Er sprach niemanden um Geld oder Zigaretten an, stand einfach nur da, die Hände vor der Brust gekreuzt, das Treiben um sich herum betrachtend. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich in Augen, die mehr Tiefen als Höhen gesehen hatten. (Woran erkennt man das? Sind die Augen traurig?)Er nickte mir freundlich zu. Ich erwiderte seinen Gruß, doch (und) schaute rasch weg, weil ich ihm nicht den Eindruck vermitteln wollte, ihn anzustarren wie ein fremdartiges Insekt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr sagten mir, dass mein Freund sich offenbar verspätet hatte, also schlenderte ich weiter über den Vorplatz. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich aus den Augenwinkeln nach dem Alten schaute, der auf mich eine eigenartige, mir unerklärliche Anziehungskraft, ausübte. Plötzlich klingelte mein Handy. Es war mein Freund. Er wartete am Hinterausgang auf mich. (, der mir erklärte, er warte am Hinterausgang des Bahnhofs auf mich.) Der Weg zum Haupteingang würde mich direkt an dem Alten vorbei führen. Ich griff in die Tasche, kramte etwas Kleingeld hervor, und trat auf ihn zu. Mir war aufgefallen, dass auch er mich beobachtet hatte, aber entgegen meiner Erwartung, öffnete er seine Hände nicht. Ich befürchtete schon, meine Absicht(, die er erkannt haben musste,) hätte ihn verletzt, als er (mit einem Mal) seine Hände löste. Unsicher gab ich ihm die Münzen, (und) wollte meine Hand wieder zurückziehen, doch zu meinem Erstaunen umfasste er sie, (und) hielt sie für Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, fest. Keiner von uns sprach ein Wort, wir schauten uns nur an. (und e)Ein Lächeln, wie ich es so schön und tief noch nie gesehen hatte, erhellte sein faltiges Gesicht.
Es war ehrlich überrascht (das Wort "überrascht" passt mE. nicht, würde ich weglassen), dankbar, voller Herzlichkeit und, ja, Güte. Aus ihm sprachen eine stille Würde, heitere Gelassenheit und zugleich ein großes Wissen um die Unvollkommenheit der Welt und ihrer Menschen. In dieses Lächeln hätte ich stundenlang schauen, in ihm, wie in einem Buch des Lebens, lesen können.
Behutsam löste ich mich schließlich aus seinem Griff und ging auf den Haupteingang zu. Mein Freund, dem ich kurz darauf im Auto von dem alten Mann erzählte, meinte nur: „Na und? Was machst du über den solch ein Aufhebens?(von dem denn für ein Aufhebens?) Ist doch nur einer von Tausenden, die vor Bahnhöfen herum lungern.“ Ich schwieg. Gewiss, er war nur einer unter Vielen, aber für mich war er zu jemand ganz Besonderem geworden. Ohne, dass es ihm und mir in dem kurzen Moment an jenem Abend bewusst gewesen wäre, hatte er mir sehr viel mehr gegeben, als ich ihm mit meinen Münzen.
Meine Wege sollten mich in den kommenden Jahren noch oft zu diesem Bahnhof führen, doch dem Alten bin ich nie wieder begegnet.
Sein Lächeln jedoch (aber), sehe ich noch heute.

„… wer hätte das gedacht?“ Die Worte meines Kollegen reißen mich aus meinen Erinnerungen. „So danke ich Ihnen allen, auch im Namen meiner Frau, für Ihr Kommen und Ihre Geschenke sehr herzlich und hoffe, wir haben einen schönen Abend. Das Buffet ist eröffnet.“ (Hier Absatz davor)
Es ist sein Lächeln, das mir nicht gefällt.

Trixie

Beitragvon Trixie » 09.09.2006, 22:00

Hallo Herby!

So, habe hier mal kursiv meine kleinen Änderungen markiert. So fände ich es ein wenig runder, aber wenn es keinen stört, kann ich auch damit leben ;-)! Lieben Gruß von Trixie


Herby hat geschrieben:Der Alte

Alles ist vom Feinsten, und doch stimmt irgendetwas nicht an diesem Abend. Der gemietete Saal in einem Fünf-Sterne-Hotel ist mit Blumengestecken und Kerzen auf den runden Tischen festlich geschmückt, zur Begrüßung spielen Studenten der Musikhochschule leichte Klassik und das kalt-warme Buffet sieht erlesen und opulent aus. Nach dem Essen wird eine Band zum Tanz aufspielen, die Gäste erscheinen in eleganter Abendkleidung und voll freudiger Erwartung eines schönen Festes. Mein Kollege hat es sich zweifelsfrei etwas kosten lassen, seinem 50. Geburtstag einen stilvollen Rahmen zu verleihen und ihn für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Da ich um die große Zahl der Eingeladenen, etwa 120 Personen, wusste und das Schlangestehen bei Gratulationsdefilées hasse, war ich schon sehr früh im Hotel und somit einer der ersten gewesen, der seine Glückwünsche nebst Geschenk überbringen konnte. Nun stehe ich mit einem Glas Champagner etwas abseits, gebe mich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hin, betrachte die nicht abreißende Schar der Gratulanten, die an dem gut gelaunten Jubilar und seiner Frau vorbeiziehen. Währendessen/Dabei/Zugleich/ forsche ich in Gedanken nach der Quelle meiner Unzufriedenheit, als mein Blick auf meinen Kollegen fällt. Er plaudert charmant, schüttelt Hände und umarmt, nimmt lächelnd Präsente und gute Wünsche entgegen, und plötzlich weiß ich, was für mich nicht stimmt.

Herby

Beitragvon Herby » 09.09.2006, 22:56

Liebe Magic, liebe Trixie

einen ganz herzlichen Dank für die konstruktiven Vorschläge und die Sorgfalt, mit der ihr beide meinen Text noch einmal gelesen habt! Finde ich wirklich toll!! :blume0028: :blume0028:

Ich brauche jetzt etwas Zeit, um eure Alternativen zu prüfen und zu sehen, was ich übernehmen kann. Habe mir eure Antworten abgespeichert und mache mich ab morgen ran, heute reicht dafür die Konzentration nicht mehr.

Liebe Grüße
Herby

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.09.2006, 02:25

Uff.
Herby, das ist glaube ich der erste Prosatext, den ich von dir lese. Hat mich sehr gepackt. Deine langen Sätze finde ich sehr gut, da sie nicht über die Maßen verschachtelt sind. Man folgt unangestrengt einer Bildreihe. Die Schreibweisen, die Trixie vorschlägt, kann ich allesamt nur unterstützen. Die Formulierungen möchte ich nicht angreifen, weil das Bild in sich einfach stimmig ist. Details zu untersuchen, wie die fleißige Magic es gemacht hat, ist mir ehrlich gesagt jetzt zu mühsam.

Ich will auch was anderes. Ich versuchs mal eher konzeptionell:

Einzig die Dialogstelle mit deinem Freund ist irgendwie schwach. Frag mich jetzt nicht, warum. Ich glaube, der Break sitzt an der falschen Stelle, weil du auch anschließend nicht wirklich von der Gegenwart zurückgerissen wirst, sondern die Vergangenheit schon vorher abschließt. Da ist das Timing nicht präzise. Da könnte ich mir einen härteren Schnitt vorstellen. Das darf sich gerne mehr verdichten und mehr erschrecken...

Das Ende dann wieder ganz stark. Die unerwartete Auflösung der Anfangsunbestimmtheit im Schlusssatz.
Das ist verdammt nah an der Wirklichkeit geschrieben, sehr gut beobachtet, und vom Bogen her (fast) perfekt gespannt. Das Ding is'n Knaller.

Nimm dir die Zeit.
Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Herby

Beitragvon Herby » 14.09.2006, 21:21

Hi Tom,

ja, ich fühle mich ( bis jetzt wenigstens ) in der Prosa weniger heimisch als in der Lyrik. Darum ist mir deine Rückmeldung besonders wertvoll.

Du schreibst:

Einzig die Dialogstelle mit deinem Freund ist irgendwie schwach. Frag mich jetzt nicht, warum. Ich glaube, der Break sitzt an der falschen Stelle, weil du auch anschließend nicht wirklich von der Gegenwart zurückgerissen wirst, sondern die Vergangenheit schon vorher abschließt. Da ist das Timing nicht präzise. Da könnte ich mir einen härteren Schnitt vorstellen. Das darf sich gerne mehr verdichten und mehr erschrecken...

Ich werde mir nach der rein sprachlichen Überarbeitung mit etwas Abstand meinen Text im Hinblick auf deine Ausführungen noch einmal vornehmen und sehen, ob und wie ich sie umsetzen kann. Jedenfalls danke ich dir ganz herzlich für dein Lesen und Lob!

Liebe Grüße
Herby

Gast

Beitragvon Gast » 17.09.2006, 15:31

Hallo Herby,

ich trage deinen ausgedruckten Text schon eine Weile mit mir herum...

Vielleicht ist der Gedanke, der mich beschleicht hilfreich. Er kreist immer wieder um "Das Lachen"...
Seit heute weiß ich, was mich stört, mir ist das zuwenig an Aussage.
Dass deinen Protagonisten nur das Lachen stört ist mir zu dünn.
Die Tiefe kann hinein interpretiert werden, aber dem LyrIch müsste m. E. viel mehr aufstoßen als nur das Lachen:
Als Aufhänger gut, als Moment der Erkenntnis, aber sonst? Nichts weiter oder doch? Soll das alles offen bleiben? Oder passiert mit dem Lyrich jetzt etwas Wichtiges, für mich beginnt die Geschichte erst da eigentlich richtig interessant zu werden.

Gerade die ausführliche Schilderung der Festsituation zu Beginn bietet Raum und Gelegeneheit für Reflexionen am Ende.
In Puncto Freundschaft . Was ist das für eine" Freundschaft"?
Welche Basis, die der Parties, der Vergnügen in einer heilen Welt des Überfluss' ?

Ja Herby, ich würde erweitern, eine Erzählung daraus machen. Stoff ist genug in den Zeilen und dazwischen, wie ich finde.
Deine Art zu erzählen ist geradezu prädestiniert einen längeren Text zu schreiben.

ein paar Kleinigkeiten:
Zitat:
Unter einem dünnen verschlissenen Mantel trug er... Ende

Was er darunter trug, konntest du sehen?
Erwähne, dass der Mantel offen war.

Zitat:
... den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe tätigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame, denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Ende

tätigen wollten
hört sich irgendwie so nach "beamtendeutsch" an... erledigen würde ich bevorzugen.

So, mein Lieber, dann noch einen schönen Sonntag
hoffentlich wird dein Auge nicht durch zu viele Schreibfehler beleidigt ;-)

Liebe Grüße
Gerda

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 17.09.2006, 16:04

Hallo Herby,

mir kommt gerade eine Idee in den Sinn, angeregt durch Gerdas und Toms Gedanken:
Wie wäre es, wenn du aus dem Kollegen, der seinen 50. feiert, den Freund machst, dann danach der Rückblick (Szene am Bahnhof), dann das Gespräch mit dem Freund länger gestalten, aus dem dann die Oberflächlichkeit des Freundes noch klarer rauskommt (obwohl sie schon sehr gut rüberkommt) und dann am Schluss das Fazit.
Also insgesamt, da gebe ich Gerda Recht, eine längere Erzählung daraus gestalten.
Saludos
mag

Trixie

Beitragvon Trixie » 18.09.2006, 23:02

Guten Abend!

Ich habe jetzt den Text einfach mal eine Weile nicht mehr angeschaut, um auch ein wenig Abstand zu gewinnen, und kann Gerda verstehen, wenn sie sagt, dass der Schlusssatz zwar ein guter Aufhänger ist, aber dennoch Fragen bleiben. Es stört mich nämlich an dem Satz nicht das Lachen, sondern dass es dem Protagonisten nicht gefällt. Dieses "gefällt mir nicht" ist unbefriedigend. Das ist einfach nicht genug für diese tiefe Gefühlswelt, die da entsteht. Die Gedanken, die Ebenen. Da ist ein "gefällt mir nicht" zu... wenig. Trotzdem immernoch eine wunderbare Geschichte, die ich mir bestimmt noch öfter durchlesen werde.

Ich wünsche eine angenehme Nacht!

Trixie

Herby

Beitragvon Herby » 20.09.2006, 22:27

Liebe Gerda, Magic und Trixie

Zunächst einmal danke ich euch ganz herzlich für eure intensive Beschäftigung mit meinem Text!

Nach einer längeren Pause habe ich jetzt mit der sprachlichen Überarbeitung begonnen, und ich glaube, diese ist für mich einfacher als die Umsetzung eurer Gedanken und Anregungen, die über das rein inhaltliche hinaus ja auch gattungsspezifische Aspekte betreffen.
Als ich ihn schrieb, hatte ich solche Überlegungen nicht im Sinn, d.h., ich wusste zu Beginn nicht, ob daraus eine Erzählung oder eine Kurzgeschichte werden würde. Lege ich jetzt mal zwei wesentliche Kriterien der Kurzgeschichte zugrunde – Momentaufnahme und offener Anfang – so ist wohl eher eine solche als eine Erzählung dabei herausgekommen. Ich habe jetzt ein drittes Merkmal, das des offenen Endes, bewusst nicht genannt, weil ich mir nicht sicher bin, ob der Schluss meines Textes durch die Rahmenstruktur überhaupt ein offener ist.
Vielleicht erklärt sich seine Kürze auch damit, dass ich mich beim Schreiben im Bereich der Lyrik sicherer fühle als bei Prosatexten.
Das Überdenken eurer Vorschläge stellt mich zum einen vor das Problem, dass ich mir sehr unsicher bin, ob ich sie umzusetzen „handwerklich“ in der Lage bin ( was ich natürlich nicht wissen kann, bevor ich es nicht zumindest versucht habe ). Zum anderen überlege ich noch, ob die geschilderte Begegnung tatsächlich genügend Stoff für eine gute Erzählung bietet. Besteht dann nicht die Gefahr des Breittretens, Zerredens bzw. – schreibens, zumal für einen Prosa – Anfänger wie mich??

Nach diesen allgemeinen Erwägungen möchte ich noch kurz auf konkrete Punkte eurer Antworten eingehen.
Gerda, du schreibst:

ein paar Kleinigkeiten:
Zitat:
Unter einem dünnen verschlissenen Mantel trug er... Ende

Was er darunter trug, konntest du sehen?
Erwähne, dass der Mantel offen war.


Natürlich habe ich keinen „Röntgenblick“ ;-) , ich dachte, es wäre für den Leser klar, dass der Mantel offen stand, ohne dies expressis verbis zu erwähnen.

Zitat:
... den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe tätigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame, denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Ende
tätigen wollten hört sich irgendwie so nach "beamtendeutsch" an... erledigen würde ich bevorzugen.


Hier stimme ich dir völlig zu; habe es in meiner Überarbeitung abgeändert.

@Magic
du schreibst:

Wie wäre es, wenn du aus dem Kollegen, der seinen 50. feiert, den Freund machst, dann danach der Rückblick (Szene am Bahnhof), dann das Gespräch mit dem Freund länger gestalten, aus dem dann die Oberflächlichkeit des Freundes noch klarer rauskommt (obwohl sie schon sehr gut rüberkommt) und dann am Schluss das Fazit.

Das ist eine interessante und für mich nachvollziehbare Alternative, die ich gerne überdenken werde!

@Trixie
du sprichst den Schlusssatz an:

Dieses "gefällt mir nicht" ist unbefriedigend. Das ist einfach nicht genug für diese tiefe Gefühlswelt, die da entsteht. Die Gedanken, die Ebenen. Da ist ein "gefällt mir nicht" zu... wenig.

Auch hier werde ich überlegen, ob und wie ich dem Schluss eventuell mehr Tiefe geben kann.
Puuh, da liegt noch einiges an Arbeit vor mir, die Zeit und Muße braucht. Aber auch, wenn es lange dauern wird, ich werde die überarbeitet Fassung einstellen und gespannt sein zu lesen, ob sie mir gelang.

Zum Schluss euch drei noch einmal Dank für eure anregende Kritik und euer aufbauendes Lob! :blume0028:

Abendliche Grüße in die zweite Wochenhälfte
Herby


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