TIEF UNTER

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.10.2006, 02:02

Tief unter
(nach arams schnitt)


Es geschieht in den quecksilberdampferhellten Termitenröhren aus Granit und spiegelndem Kunststoff, in den Ganglien der Mobilitäts-Population, tief unter der Erdoberfläche. Dort wird es einem klar.

Er kreiste scheinbar ziellos in der U-Bahn-Halle herum, während ich mir aus den letzten Krümeln des Bison-Tabaks eine zerknitterte Kippe zusammendrehte. Schon beim Anlecken des Blättchens bekam ich den feinkörnigen Satz des freiheitsverheißenden Krauts in den Mund, den man sonst — als man noch ein frisches Päckchen in seiner Jackentasche wähnte — gnädig dem Schlund der Sammelanlagen des Dualen Systems überließ. Sie mahlen Goldstaub daraus.

Ich spie die bitteren Überreste in die Luft und rotzte ein bräunlichgrünes Sputum aus der Rachenhöhle in den bereitstehenden Abfallbehälter hinterher; man spuckt nicht auf hochpoliertes Tiefengestein.

Der Kondor hatte längst sein Opfer entdeckt und starrte wie aus großer Höhe gebannt auf sein Opfer herab, das sich allem Anschein nach am Boden des Abfallbehälters am anderen Ende der Halle befand. Sein violettroter Kopf mit den typischen, gelblichen Halsflecken zuckte nervös und spähte in alle Richtungen umher; wir sollten sein schändliches Werk nicht sehen. Aasfresserfeigheit. Wie Schakale.

Ich wandte mich ab, den Neuweltgeier nur noch im Augenwinkel. Er fühlte sich unbeobachtet und stieß zu. Er packte den Kadaver einer braunen Glasflasche und würgte ihn in seinen Plastik-Kropf hinein, den er unter seinem speckig-schwarzen Gefieder hervorzog. Heute ein König. Genugtuung troff ihm seitlich aus dem Krummschnabel, doch unersättlich schwang er sich wieder empor, um neue Beute ausfindig zu machen.

Diese Beute bewache ich jetzt. Sie befindet sich in dem Behälter unter dem Aschenbecher, den ich rauchend belagere. Er weiß es. Geierinstinkt. Seine haarlosen Brauen argwöhnen sich schroff nach unten; nun hat er mich im Augenwinkel. Er zieht in konzentrischen Kreisen um Tarifauskunftstafeln und die Edelstahlförderkabine, den Mittelpunkt beständig in meine Richtung verlagernd, scheinbar ziellos. Er will diese acht Cent. Er kann sie riechen. Aber der Löwe muss erst satt sein, bevor der Geier darf.

Ich betrachte die leere Bierflasche im blauen Abfallsack unter mir. Bin runter auf neun Euro sieben. Frischer Tabak ist noch drin; für die andere Hälfte Brot, Kartoffeln und zerquetschte Tomaten in Weißblech. Butter erst wieder nächste Woche.

Ich drücke die Kippe aus. Die Bahn kommt. Eiiiijn-steiiiij-geeeehnn quietschen ihre Hydraulik-Bremsen, und ich stempele den letzten freien Abschnitt des arschdurchweichten Tickets in der Stechuhr einer längst vergessenen Schicht am Treppenabsatz, bevor ich die Stufen zum Gleis hinunterlaufe.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 24.10.2006, 01:35, insgesamt 9-mal geändert.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 24.10.2006, 01:30

Hi Klara,

das ist eins von den Komplimenten, die behäbig machen. Was du in deinem ersten Satz schreibst, ist schon ziemlich sehr nett. Ich könnte mich jetzt getrost in meine Fischerhütte am Juister Watt zurückziehen, so ich denn eine besäße, und mit deinem Kommentar den Lebensabend genießen.
Aber ich muss ja weiterschreiben, hast du gesagt. Na, denn...

...dies hier ist einer meiner ersten Versuche, in der Prosa eine Verdichtung und Übertragung zu erzeugen (danke aram, das war alles richtig, ich nehme meine Erstversion gleich endgültig raus, wenn du erlaubst; ist ja keine Werkstatt hier, harr), und versuche, ganz kleine Gedanken zum Thema einer Erzählung zu machen. Was ich sonst immer in der Lyrik versucht habe. Und selbst da nicht unbedingt.

Ich freue mich jedenfalls, dich hier so einstimmig zu begrüßen :o),; deine Texte kenne ich ja schon, hatte aber noch keine Zeit, sie im Forum zu besprechen. Kommt!

Tom.

p.s. Poetenladen hat mich nichtmal in die Longlist des Wettbewerbs genommen. Diesmal mit Lyrik nicht, davor mit Prosa nicht. Schwacher Laden. Da haben wir hier aber ne gescheitere Jury:o))))))
Zum Einschicken habe ich zuwenig dieser Art in der Hinterhand. Das ist zu neu. Und zu früh. Aber viel zu.
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maxl

Beitragvon maxl » 24.10.2006, 10:36

Haiii Tom,

Gefällt mir super. U-Bahn-Impression, und man riecht, sieht, fühlt.

Ich hätte nur den ganzen Text im Präsens lesen wollen. Es ist in dem Fall direkter ins Herz.

lg
maxl

Klara
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Beitragvon Klara » 24.10.2006, 11:05

Hallo Tom,

Manchmal bin ich auch nicht sicher, ob ein werdender Text Prosa oder Lyrik werden soll, probiere manchmal gar zwei oder fünfzig Fassungen, schwanke dann immer noch, lasse erstmal lyrik und prosa nebeneiner. Oder kann es sein, dass die Gattungseinteilung manchmal einfach nicht stimmmt, so dass da manch ein Text dann nicht rein(passen) will?

Die Texte, die ich euch geschickt habe - sind die jetzt schon hier irgendwo? Oder soll/kann/muss ich etwas davon oder alles hier selbst noch einstellen?
Wenn du schon eine Besprechung androhst ;-)

Beste Grüße
Klara

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 24.10.2006, 11:42

@maxl:

Der Zeitsprung hat sich durch das unmittelbare Erleben ergeben. Der erste Satz ist die Einleitung, dann läuft bis 'Die Beute bewache ich jetzt' alles im Rückblick, auch, wenn dieser nur ein paar Minuten dauert. Und in dem Moment, da ich die Bierflasche betrachte, setzte im Kopf die Geschichte ein.

@Klara: Ich schreib dir das mal per PN.
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Gast

Beitragvon Gast » 25.10.2006, 02:15

Hallo Tom,
Hut ab, großartig geschrieben!
Für mich eine fremde Welt, jene der Reststoffsammler, die ich nur aus den Medien kenne,
Dennoch, nachdem ich deine Schilderung mehrmals gelesen habe, und jetzt auch glaube zu verstehen, ich zwar immer noch nicht weiß woraus der Goldstaub gemacht wird, :confused: entsteht in mir ein Bild, was sehr lebendig wirkt.
Auch wenn mir noch nicht richtig klar ist, was und wo, einem was klar wird. ;-)
Dein Satz Nr. 2 nämlich: "Dort wird es einem klar", steht für mich etwas verloren, so als warte er noch darauf, dass sich irgendwer an ihn erinnert, aber vielleicht habe ich auch immer noch nicht verstanden...
Meinst du die "Neue Armut"?

Jedenfalls hast du tolle Metaphern gewählt und passend noch dazu.

Nächtliche Grüße
Gerda

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.10.2006, 10:45

Hi Gerda.

Die Armut ist nicht neu - auch wenn die Medien jetzt wieder ihr Schlagwort für den Reißwolf haben - sie wird nur nach meiner Beobachtung immer weniger verheimlicht von den Betroffenen. Die Schamgrenze sinkt.
Und die Bereitschaft zur Gewalt. Aber letzteres wird eine andere Geschichte...

Interessant ist diese Beobachtung dann, wenn man selbst fast pleite ist (ein Hoch auf die Selbstständigkeit!), aber mit ein paar Euros immer noch besser dasteht als dieser arme Hund. Das wird einem dann klar, und man wird milde und bescheiden. Also, ich jedenfalls.

Ich danke dir für deine Betrachtungen und bilde mir auf dein Lob einfach mal was ein :o)

Tom.

p.s. 'Goldstaub' ist übertragen. Die Industrie der Reststoffverwerter verdient sich ne goldene Nase an ihrem Verpackungsmüll. Auch durch Export des Mülls in hundsarme Länder, wo der Scheiß teilweise ohne jegliche Filtermaßnahmen verbrannt wird.
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aram
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Beitragvon aram » 28.10.2006, 17:04

"konzentrische kreise" ist geometrisch ohne raumzeitsprung nicht möglich, klingt aber gut."

Werter Herr Aram, wie meint er das? Nach meiner Erkenntnis sind konzentrische Kreise solche mit demselben Mittelpunkt (der sich weiter oben verlagert) und unterschiedlichen (engerwerdenden) Radien. Was soll ich in der Zeit springen? Klar, das Rotieren um Erstere bedingt das Vergehen der Letzteren. Noch was? Erläutere er sich.


nicht weiter schlimm lieber tom, keine literarische unmöglichkeit, nur eine geometrische - aber die liegt doch auf der hand: die Kreise werden durch eine bewegung beschrieben - wie findet die den übergang von einem kreis zu einem konzentrischen? - der mittelpunkt müsste gleichbleiben, radius und bewegungslinie sich sprunghaft verändern (-->raumzeitsprung!) - bei stetig enger werdendem radius wird aus konzentrischen kreisen eine spirale, oder? [align=right]:117:  [/align]- bitte ändere das jetzt nicht deshalb, es klingt wirklich gut!

aram, von 'the making of.'
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen


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