Bahn, komm vor!

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Max

Beitragvon Max » 31.12.2005, 15:18

Bahn, komm vor!

Ich gebe zu, ich bin undankbar. Das Alte gefällt mir nicht und Neues kann ich nicht leiden – selten, finde ich, hat sich etwas zum Besseren gewendet. Darum bleibe ich bei meinem Credo: „Alles wird immer schlechter.“

Aber halt: wirklich alles? Nein, nicht alles. Ein kleines Transportunternehmen, nennen wir es der Einfachheit halber „die Bahn“, versucht sich nun schon seit Jahren an der Verbesserung der Welt:

Früher war Bahnfahren einfach, geradezu langweilig. Man kaufte eine Fahrkarte, stieg zur angegebenen Zeit in den Zug und nach exakt der berechneten Fahrzeit wieder aus und war am Ziel. Die Bahn schaffte es, das Bahnfahren nicht zur öden Routine verkommen zu lassen und stattete es mit einem Preissystem aus, das ein Studium des Verkehrsingenieurswesen durchaus ratsam erscheinen ließ (dass dieses Preissystem später zurückgenommen werden musste, lag vermutlich nicht an der Bahn, sondern an den hohen Gebühren für ein Zweitstudium).

War der Kunde früher oft enttäuscht über eine unfreundliche Behandlung, so gab man ihm auch dafür eine Erklärung. Man richtete Service-Points ein. Dort ist nun der ganze Service an einem Punkt konzentriert und wäre andernorts nicht nur unerwartet, sondern auch fehl am Platz.

Auch die Auskunftsfreude der Bahn ist gestiegen – und damit ist nicht nur die telefonische Bahnauskunft gemeint, die einen schon für 1,80 € pro Minute in die Warteschleife schickt. Nein, auch bei kleineren Verspätungen von einer halben Stunde ist die Bahn inzwischen nicht nur mit der Auskunft zur Hand, dass ein Zug verspätet ist, sondern man wird auch gleich informiert, warum das so ist. Das schafft Vertrauen und Verständnis. So bekam ich bei den letzten Verspätungen mitgeteilt, dass mein ICE „aus betrieblichen Gründen“ zu spät sei. Und, schwups, war ich wieder beruhigt, ja sogar kleinlaut. Ich wollte schon ärgerlich werden oder hatte befürchtet, ein Flugzeug wäre auf den Gleisen notgelandet oder der Zugführer hätte eine Blasenentzündung. Aber nun stellt sich heraus, dass die Verspätung aus betrieblichen Gründen entstanden ist. Also bin ich gewissermaßen selber Schuld! Würde ich nicht insistieren die Bahn zu benutzen, bräuchte sie nicht zu fahren, käme somit auch nicht zu spät. Und schon wandte ich mich von dem Bahnbeamten, dem ich gerade meine Wut hatte entgegenschleudern wollen, ab und ging verschämt in eine Ecke des Bahnsteigs.

Mit alldem nicht genug: Für besonders treue Kunden hat die Bahn nun auch noch ein Extrabonusprogramm eingerichtet. Wer die Bahn besonders lieb gewonnen hat, den liebt sie zurück, dem gibt sie eine eigene Telefonnummer, die nur er benutzen darf, einen eigenen Schalter, manchmal gar einen eigenen Park- oder Sitzplatz (letzteres natürlich nicht unentgeltlich – wir wollen ja nicht unverschämt werden). Und zu Weihnachten bekommen alle eine CD vom Bahnchef persönlich „Mehdorn hat Euch lieb!“
Und dennoch: Manchmal, wenn es mir ergeht wie gestern, wenn der erste Zug sich aufgrund des Schnees verspätet, der Anschlusszug die Türen nicht aufbekommt, der dritte aus betrieblichen Gründen dann noch später eintrifft und schließlich mein vierter Zug eine halbe Stunde im Bahnhof verweilt, weil einem Fahrgast die Verkleidung des Speisewagens auf den Kopf gefallen ist, wenn ich nach so einem Erlebnis dann zwei Stunden zu spät zu Hause eintrudele, dann denke ich wieder: „Alles wird immer schlechter!“
Zuletzt geändert von Max am 03.11.2006, 20:41, insgesamt 1-mal geändert.

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 01.01.2006, 14:23

Mit Freuden las ich Deine Kritik. Gut gebracht.

Anmerkung dazu.
Es gab Zeiten, da saßen die Bahngäste in beheizten Wartezimmern, dann fuhr der Zug ein und der Bahnhofsvorsteher führe die Bahngäste zum Zug.
Jetzt steht man sich in zugigen Häuschen die Beine in den Bauch, weil der Zug stundenlang auf sich warten läßt. Komfortabel ist das immer noch. In Entwicklungsländern ist man froh, wenn überhaupt ein Zug kommt, aber dort ist es meistens auch warm.
Der Kartenkauf war früher auch kinderleicht. Man sagte wohin man wolle und falls es da einen Bahnhof gab, kam man auch pünktlich an. Wenn nicht, erfolgte die Weiterfahrt im Bahnbus. Der Fahrer stand meistens schon bereit um seine Gäste einzuladen. Heutzutage kann man zusehen, wie man mit Gepäck einen derartigen Bus erklimmt.

Sollte jemand regelmäßige Bahnfahrten ins Auge fassen, wäre zumindest der kontinuierliche Besuch eines Sportstudios zu empfehlen.
Gegen abhärtende Saunabesuche gäbe es auch keinen Einwände auch wenn bereits die Preise den Schweiß auf die Stirn treiben und
wer weiß wozu man stramme Beinchen noch brauchen kann.

Max

Beitragvon Max » 01.02.2006, 16:44

Liebe Alma Marie,

richtig, das mit den beheizten Wartehäusern ist ein echter Punkt!!

Danke sagt
max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.02.2006, 11:51

Lieber Max,
du sprichst mir aus der Seele :sad: . Frueher wusste ich nicht, was ist schlimmer: Die Post oder die Bahn. Heute - wo ich selbst oft mit Nahverkehrszuegen fahren muss - weiss ich die Antwort :cool:

Gast

Beitragvon Gast » 27.02.2006, 22:06

schön glossiert und so wahr...
Manch einer hat sicher auch schon - ja, sogar bei der Bahn positive Erfahrungen gemacht.
Es ist doch auffällig und sagt über uns Menschen ein ganz Menge, wenn wir uns gerade immer an die schief laufenden Dinge erinnern. ;-)
Nein, ich will die Bahn nicht in Schutz nehmen... denn ich habe auch spezielle Erinnerungen, an kaputte Fahrscheinautomaten, unbesetzte Schalter und dann Fahrkartenkontrolle... :shock:

gern gelesen
G. G.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 26.05.2006, 16:23

Hallo Max.

Mit Freuden habe ich festgestellt, dass es hier noch ein Kollege mit 'Der Bahn' hat. Eine schöne Kolumne, dein Stil ist gewandt und sicher, die Beobachtungen scharf und der Bogen rund. Geht wohl nicht besser.

Und obendrein inspiriert mich dein Text, nun auch etwas zur Bahn zum Besten zu geben (vgl. Vorsicht an der Bahnsteigkante). Deine werte Meinung wäre mir hochgeschätzt. Als Bahnkunden muss man doch ins selbe Horn tuten, nicht wahr?

Ganz klasse, Max!!!

Tom

Birute

Beitragvon Birute » 20.07.2006, 12:43

Lieber Max,

es hat geklappt. Ich habe mich köstlich amüsiert.
Im letzten Absatz wennst und dannst es ein wenig, aber ich habe den Text richtig genossen.

Lieben Gruß
Birute

Béla B

Beitragvon Béla B » 23.08.2006, 13:02

lieber max,
den vorangegangenen comments kann ich mich nur anschließen. habe deinen txt gerne gelesen, sprach er doch so viel wahres, so viel bekanntes..
sei gegrüßt!
bb

aram
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Beitragvon aram » 29.10.2006, 03:27

lieber max,

ja, das hab ich vor langem schon mal gelesen - und nun wieder genauso geschmunzelt!

klasse pointen und details -

"(...) ist nun der ganze Service an einem Punkt konzentriert und wäre andernorts nicht nur unerwartet, sondern auch fehl am Platz."

"Wer die Bahn besonders lieb gewonnen hat, den liebt sie zurück,"

"Also bin ich gewissermaßen selber Schuld! Würde ich nicht insistieren die Bahn zu benutzen, bräuchte sie nicht zu fahren, käme somit auch nicht zu spät."

"weil einem Fahrgast die Verkleidung des Speisewagens auf den Kopf gefallen ist" -etc.


witzig, amüsant, locker geschrieben!

(in einem punkt stehe ich scheinbar auf der leitung - was bedeutet der titel? eine anspielung auf 'komfort'- aber darüber hinaus?)

- eine einzige "tempusinkonsistenz" fiel mir auf:

Ich wollte schon ärgerlich werden oder hatte befürchtet, ein Flugzeug wäre auf den Gleisen notgelandet oder der Zugführer hätte eine Blasenentzündung. Aber nun stellt sich heraus, dass die Verspätung aus betrieblichen Gründen entstanden ist. Also bin ich gewissermaßen selber Schuld! Würde ich nicht insistieren die Bahn zu benutzen, bräuchte sie nicht zu fahren, käme somit auch nicht zu spät.


- ich finde den zeitsprung in die gegenwart hier unmotiviert - stellte sich heraus; entstanden war; also war ich... - liest sich flüssiger - erst danach erscheint mir der zeitsprung akzeptabel, da du an dieser stelle vom besonderen zum allgemeinen wechselst.



sehr gern gelesen - wär doch was für die salon-kolumne!

aram
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Beitragvon ZaunköniG » 29.10.2006, 08:52

Ja, Post, Bahn, Telekom ist doch alles das gleiche Gelumpe.
Das kommt davon wenn man Staatsbetriebe privatisiert:
Gierig wie die Privaten, aber Service wie auf dem Amt.

ZaunköniG pendelnderweise. :mad:
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Beitragvon Mucki » 29.10.2006, 12:19

Lieber aram,

wie schön, dass du diese Perle ausgegraben hast:-) Sonst wäre ich gar nicht in den Genuss gekommen :mrgreen:
Wunderbar, Max! --> Kolumne! :-)

Saludos
amüsierte Gabriella

Max

Beitragvon Max » 31.10.2006, 21:27

Lieber Aram,

danke fürs Ausgraben. Mit der Tempus-Inkonsistenz (da stand doch tatsächlich Inkontinenz, ich sollte nicht zu oft Geburtstag haben, sonst kommen mir all diese Themen in den Sinn) hast Du leider recht und der Titel ist auch a weng schwach. Außer der Anspielung auf Komfort steckt nix dahinter, vielleicht gibt es noch andere Ideen.

Ich fürchte die Bahn wird sich morgen bei meiner Fahrt nach berlin für die Kolumne "bedanken".

Herzliche Grüße und einen lieben Dank an alle Leser und Kommentatoren
Max

Klara
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Beitragvon Klara » 02.11.2006, 11:59

Hallo,
ein bisschen könnte man noch kürzen und redigieren. Das Einstiegswort "undankbar" passt nicht.

Ich würde den Einstieg sogar ganz weglassen (auch, weil diese Referenz an Asterix schon so oft strapaziert wird) und einsteigen mit "Früher war Bahnfahren einfach...".

Insgesamt sind die Pointen noch nicht ökonomisch gesetzt, finde ich. Der angepeilte Sarkasmus funktioniert nicht so richtig, käme vielleicht nur gesprochen rüber. Auch sprachlich kann da noch geshcliffen werden, Substantive verbalisieren, Satzstellungen lesefreundlicher machen etc.

Z. B.:

War der Kunde früher oft enttäuscht über eine unfreundliche Behandlung [unnötiges Substantiv], so gab man ihm auch dafür eine Erklärung. Man richtete Service-Points ein. Dort ist nun der ganze Service an einem Punkt konzentriert und wäre andernorts nicht nur unerwartet, sondern auch fehl am Platz.

Die Pointe verpufft hier. Vielleicht so:
Wenn ein Reisender früher enttäuscht war, wenn etwas nicht klappte, konnte er doch in den meisten Fällen immerhin mit einer Erklärung oder gar einer Entschuldigung rechnen - vor Ort und vom Schaffner. Heutzutage bitten knisternde Lautsprecherdurchsagen bei jeder sich bietenden Gelegenheit "um Verständnis", ohne je etwas zu erklären - geschweige denn, sich zu entschuldigen. Die Schaffner hingegen verbitten sich Störungen und bitten den Kunden, sich an so genannte Service-Points zu richten. Dort konzentriert sich nämlich jetzt der ganze Service: Die Bahn ist schließlich ein modernes Dienstleistungsunternehmen.


Hier fehlt etwas? Und Mehrzahl oder Einzahl?
Auch die Auskunftsfreude der Bahn ist gestiegen – und damit sind [IST?] nicht nur die telefonische Bahnauskunft [GEMEINT?], die einen schon für 1,80 € pro Minute in die Warteschleife schickt.



Mit alldem nicht genug
MIt alldem nicht genug? Diese Wendung ist mir nicht geläufig, aber das mag an mir liegen.

Das nur als Beispiel, wie gesagt: Ich kann mich den Lobeshymnen hier nicht anschließen und sehe Bearbeitungsbedarf.

Nichts für ungut. (Kolumnen sind schwer!!)
Klara

Max

Beitragvon Max » 03.11.2006, 20:40

Liebe Klara,

mit der verpuffenden Pointe könntest Du recht haben, ich bin mit der Stelle selbst noch nciht zufrieden. Mit Deinem Vorschalg mag ich auch noch nicht ganz einverstanden sein, das ist mir noch zu umständlich - sicher ist aber, dass man hier noch etwas überarbeiten sollte - also am eheste ich, wenn ich mal zeit hätte ;-).

Auch mit dem wzeiten Zitat hast Du recht - das hat den Vorteil, das ich es sofort ändern kann ;-).

Liebe Grüße
Max


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