Die Lüge

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pompeius

Beitragvon pompeius » 14.03.2006, 20:01

Die Lüge

01.23 Uhr
Jetzt liegt sie vor mir, nackt und kühl. Bedrohlich und beruhigend zugleich. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal soweit kommen würde. Nichts kann mich mehr davon abhalten. Auf diesen Moment habe ich gewartet. Doch der Gedanke sie zu berühren, macht mir Angst. Noch gestern war ich dazu entschlossen. Und nun, wo sie mir gehört, bilden sich Perlen von Schweiß auf meiner Stirn, wenn ich sie nur ansehe. Sie in den Händen zu halten sollte mir Macht geben, Entschlossenheit. Ich traue mich nicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Es kommt mir vor, als wolle sie mich herausfordern und mit meiner Angst spielen.
Der Lauf der 45’er auf dem Tisch vor mir zeigt auf mich, wie der Finger eines spitzbübischen, kleinen Jungen, der mich auslacht. Ich nehme die Waffe, halte den Griff in beiden Händen, den rechten Daumen am Abzug. Wenn man auf etwas lang genug starrt, verschwimmt alles drumherum. Der dunkle Tunnel direkt vor meinen Augen hat die Anziehungskraft eines schwarzen Loches bekommen. Wer fällt nun die letzte Entscheidung? Wer hat die Kontrolle? Wer hat die Macht? Da hat man mit sich selbst abgeschlossen, ist zum letzten Schritt bereit und der Gegenstand mit dem man sich das Leben nehmen will, wird zum Gegenspieler. Will mir vorschreiben, wann es soweit ist. Das will ich selbst bestimmen. Wenigstens etwas in meinem Leben hätte ich dann eigenständig zu Ende geführt. Der Grund meines Handelns ist in weite Ferne gerückt.
Absurd.
Es sieht aus, als würde ich sie würgen und sie mir die Zunge rausstrecken. Ich bemerke, dass ich anfange zu zittern. Was ist, wenn ich nicht genau treffe? Es ist wohl besser den Lauf in den Mund zu nehmen. Doch in welchem Winkel muss ich dann abdrücken? Ein Versagen wäre untragbar.
Wie sollte ich die Situation erklären.
Oft hört man davon, dass das Leben im Zeitraffer an einem vorbeilaufen würde. Wann genau ist dieser Augenblick? Der Zeitraum, in der die Kugel sich auf den Weg macht, durch den Lauf, durch meinen Schädel? Oder danach? Die Millisekunde, in der ich schon fast keine Zeit mehr für einen Zeitraffer habe, da ich schon tot bin? Und was würde vor meinem geistigen Auge ablaufen? Welche Situationen aus meinem Leben? Nur die schönen? Hoffentlich wird es kurz. Sie wartet nur darauf triumphieren zu können. Endlich benutzt zu werden. Was ist denn schon eine Waffe, die noch nie nach Schießpulver roch? Aus deren Lauf es noch nicht qualmte! Ich würde mich gerne mit ihr unterhalten, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Irgendwann muss sie doch benutzt werden! Sie will es, genauso wie ich. Sie ist mein Werkzeug und ich nicht ihres.
Ich spüre das Blut durch meinen rechten Daumen fließen. In ihm pocht es, als hätte ich eine kleine Wunde oder hätte ihn irgendwo gequetscht. Ich konzentriere mich zu sehr auf ihn und mein Blutkreislauf scheint meinen Gedanken zu folgen. Es ist so ruhig, ich höre das immer lauter werdende Pochen. Ganz langsam bewege ich den Daumen nur einen Millimeter weg vom Abzug, weil ich befürchte, dass er von einem dieser Impulse ausgelöst wird.
„Feigling“, „Feigling“ ! Ich ertrage ihre ausgestreckte metallene Zunge nicht mehr und schiebe sie in meinen Mund; ist eh sicherer. Ihre auf meiner: Zungenkuss? Sie ist kalt. Mir ist heiß.
Verrosten soll sie!

1.41 Uhr
Sie qualmt zum ersten und zum letzten Mal.

6 Monate vorher
8.23 Uhr
Sie liegt neben mir. Nackt und warm von der Nacht. Aufreizend und harmlos zugleich. Mit dem Rücken zu mir, das linke Bein ausgestreckt, das rechte angewinkelt. Wie oft habe ich davon geträumt neben ihr aufzuwachen.
Ich lege meinen Arm um sie und versuche keinen Zentimeter ihrer Haut unbedeckt zu lassen. Fast schon reflexartig, kommt sie mir ein wenig entgegen. Als wäre es schon immer so gewesen. Sie legt meine Hand unter ihren Kopf. Wahrscheinlich ist sie schon wach, will es aber nicht zeigen. Ich auch nicht. Nur noch ein paar Minuten so liegen bleiben, ganz kurz.
Eine halbe Stunde später wache ich auf, ohne geträumt zu haben, und sie ist weg.
Das fließende Wasser aus der Dusche nebenan beruhigt mich wieder. Wie gerne wäre ich jetzt einer dieser Wassertropfen, die gerade eine Reise über ihre Haut machen. Leider endet sie in einem Strudel aus glücklichen Mitgenießern, die gemeinsam in das bodenlose Abflussrohr rutschen. Es ist wahrscheinlich der Höhepunkt im Leben dieser Wassertropfen, ein kurzer, ohne Frage. Vielleicht wäre ich aber auch einer von denen, die an ihr haften bleiben, bis sie sich abtrocknet. Oder, mit viel Glück, einer von denen, die in ihren Haaren ausharren, bis sie sich fönt. Dann bestünde noch die Chance aus ihren Haaren zu entwischen und die Reise ganz allein über ihren Rücken fortzusetzen und einen Schweif zu hinterlassen, wie ein Düsenjet am Himmel, der dann von ihr aufgesaugt wird. Dieser Wassertropfen würde ganz und gar in ihre Haut einziehen und ein Bestandteil von ihr sein.
Ich gehe zu ihr, um meine kleinen Freunde zu verspotten:
Meine Reise wird viel länger.

Mein Leben ist nichts Besonderes. Millionen haben es geführt und weitere werden es führen. Nichts Herausragendes geleistet, aufstehen, einschlafen, aufstehen.
Jede Sekunde mit ihr war mir wichtiger als all die Jahre davor. Sie war es, die mir Leben gegeben hat und sie hat es mir genommen. Ich bedauere das keineswegs.
Aber so etwas passiert nur einmal im Leben – im Leben eines Wassertropfens.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.03.2006, 11:10

Hallo pompeius,

die Geschichte hat mir sehr gefallen, sie ist fast die einzige hier, die mich trotz des Pc_Bldschirms hat jede Zeile lesen lassen. Ich mag den Inhalt, die Geschichte, ich mag die Umsetzung. Die Bilder sind genau und nah am Erzählten und man hat das Gefühl als seien sie erfahren und nicht ausgedacht. Das macht die Geschichte stark. Auch die KOmposition der Geschichte (Waffe - man denkt es ist Frau ---- waffenteil ----- Frau ..gleicher Satzbeginn), gefällt mir sehr und auch das kursiv gesetzte am Schluss, das zwar reflektiert aber noch Teil des Textes ist und noch einmal einen unerwarteten Bogen mit unerwarteter Wendung schließt.

Ich begebe mich jetzt nicht auf Rechtschreibfehlersuche oder dergleichen, falls du das nicht wünscht, mir gefällt die Geschichte einfach zu gut. Sie könnte sogar ruhig noch etwas länger sein...weils so eine Freude war sie zu lesen :grin:

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Beitragvon Lisa » 15.03.2006, 11:10

Oh, mir fällt gerade der Titel auf...habe ich da etwas nicht verstanden?

moana

Beitragvon moana » 15.03.2006, 11:20

Wow, einfach nur Wow!! Fesselnd, beeindruckend, faszinierend. Bin baff, ehrlich!

bewunderndes grüßerl von moana

pompeius

Beitragvon pompeius » 16.03.2006, 11:08

lisa, moana,

thanx, ladies!

die geschichte schrieb ich vor ca.5Jahren und es war meine erste erzählung. ich fand nur eine ganze zeit lang, dass sie am ende (kursiver teil) in den kitsch abrutscht.
zum titel, lisa, kann ich nur sagen, dass es von anfang an der arbeitstitel war und ich ihn nie geändert habe. ein mensch versucht seinen selbstmord zu rechtfertigen und das ist für mich untragbar.

bin froh dass euch meine geschichte gefällt. bin sehr neu hier und habe auch im lyrischen teil des forums etwas gepostet - da war die resonanz eine andere... kritik ist kritik und reibung erzeugt energie, dazu sind wir ja hier.

einen sonnigen tach noch,

pompeius

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 17.03.2006, 23:49

pompeius hat geschrieben:die geschichte schrieb ich vor ca.5Jahren und es war meine erste erzählung. ich fand nur eine ganze zeit lang, dass sie am ende (kursiver teil) in den kitsch abrutscht.


Hallo,
ich verstehe, was du meinst - die Gefahr ist gegeben.
Andererseits gehört auch das Kursive zur Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten.
Und ob mir nun gefällt, daß er sich verannt hat, daß er sich selbst als "unwichtiger Wassertropfen" sieht und nach einem halben Jahr immer noch meint, es hat wirklich keinen Zweck mehr, weiterzumachen;
Der kursive Text ist in sich schlüssig (konsequent) und für das Verstehen der Geschichte von Bedeutung.
Daher empfinde ich ihn als gelungen, diese Gratwanderung ist gemeistert worden.

Gruß
Frank


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