Gruselmärchen für Fortgeschrittene
An einem wunderschönen Nachmittag im Mai saß die kleine, freche Tochter an ihrem Schreibtisch, der neben dem Rechner der dicken Hausfrau stand, und hatte beim besten Willen keine Lust, sich mit ihren Deutsch-Hausaufgaben zu befassen. Spielte an der Leselampe herum, schrottete einen nagelneuen Bleistift ...
„Liebes“, meldete sich nach ein paar Minuten die Mama zu Wort, „lass die Sachen in Ruhe und mach, dass du endlich fertig wirst. Wenn dir nichts einfällt, dann schreib doch einfach eine von den Geschichten auf, die dir der Papa immer erzählt hat, wenn du als Mini nicht hast einschlafen können. Hast doch sonst ein Gedächtnis wie ein oller Elefant.“
„Aber Mama“, meckerte da das liebe Töchterlein, „ich brauch kein Märchen für Babys sondern was für Große, zum Gruseln, was für Fortgeschrittene. Hat mir der Papa früher nie erzählt!“
„Dem hätte ICH auch was anderes erzählt.“
Da liegt also des Pudels Kern begraben. Dem Herrn Lehrer ist daheim die Gruselliteratur ausgegangen, und jetzt sollen die lieben Kleinen ran, damit der gute Mann sich nicht mit Schlafpillen zudröhnen muss, sondern sich nen schönen Albtraum gönnen kann. Arme, dicke Hausfrau, arme, freche Tochter.
„Komme mal her, Töchterchen“, meinte da die Frau Mama, die gerade die neuesten Nachrichten im Internet las. „Guck dir einfach an, was so in der Welt passiert. Mach aus einem Provinzpolitiker einen Hofnarren, verwandele die Zauberschwerter, Hexendinge und den ganzen Kram der üblichen Märchen in Alltagsgegenstände, wie zum Beispiel Fahrräder. Damit lässt du den Hofnarren auf alle Bösen dieser Welt los. Statt der Prinzessin kriegt der Hofnarr dann einen hohen Posten in der Landespolitik. Fertig ist dein Gruselmärchen.“
Da hat die kleine, freche Tochter ihre Mama von der Seite angeguckt und gegrinst. „Prima Idee, Mama. Druckst du mir die Kurznachrichten aus?”
„Sicher doch, mein Schatz“, hat die dicke Hausfrau gesäuselt. „Aber übertreib nicht. Brezeln sind als Terrorwaffen nur gegen US-Präsidenten einsetzbar. Alle anderen essen die Dinger unfallfrei auf. Beiß rein und weg! Putenfleisch vom Großhändler ist da besser, und im Moment auch hochaktuell. An Biowaffen denken derzeit nur wenige Leute. Originelles gibt bei euch doch immer Pluspunkte!“
„Aber Mama, hältst du mich für albern!“, beschwerte sich da das liebe Kind. „Der Hofnarr läuft einfach nur zum Zauberer. Dieser schrottet per Schneekatastrophe einfach nur das Stromnetz. Von ganz alleine wird’s dann zappenduster. Wenn es dunkel ist, laufen die Bösen fort – oder ärgern sich ganz einfach, weil sie viel zu viel Knete in teure Terroranschläge gesteckt haben. Ende gut, alles gut. Für Kurz und Knackig gibt’s beim ollen Müllerjahn sowieso die meisten Punkte. Spart mir glatt ein Referat!“
Und so wurde es gemacht. Und weil alle Kinder in der Klasse ähnlich tolle Ideen hatten, gab es in der nächsten Deutschstunde ofenwarme Brezeln und Biobutter. Die hatte der Lehrer spendiert – weil er sich von jedem Gruselmärchen eine Fotokopie machen durfte.
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