1.Kapitel (Rest)

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maria

Beitragvon maria » 14.04.2006, 10:48

„Wir müssen zurück. Von hier aus kann ich die Kirchturmuhr nicht sehen.“
Sie kehrten um. Matthias mit rosigen Wangen von der ungewohnten Anstrengung. Hanne fror. Ihr Strickleibchen war noch klamm vom Schweiß und klebte widerlich an ihrem Rücken.
Bereitwillig stieg Mattes in den Wagen. Er war müde von der Wanderung.
Auf dem Rückweg zog Hanne den Bollerwagen voller Unruhe, schließlich fast panisch, bis sie endlich die Uhr mit den goldenen Ziffern am Kirchturm erkennen konnte. Erleichtert stellte sie fest, daß sie sich umsonst beeilt hatten. Erst drei Uhr. Den restlichen Weg legten sie im Schlendertempo zurück.
Mattes war still geworden. Kein Hehoo. Er betrachtete die Umgebung, in der er seit elf Jahren lebte, von der er doch so wenig kannte.
Das Städtchen lag auf einer sanften Bergnase. Hier im Tal schlängelte sich der kleine von Kopfweiden gesäumte Fluss zwischen Obst- und Gemüsegärten auf der südlichen und Schafweiden und Feldern auf der nördlichen Seite.
Hanne und Mattes hatten die Felder hinter sich gelassen.
Die beiden waren an der Stelle, wo der Mühlengraben vom natürlichen Flusslauf abzweigte, den Mühlengraben entlanggewandert und standen nun an der stillgelegten Mühle, wo sie zusahen wie die Stockenten auf der Suche nach Algen oder kleinen Wasserschnecken ihre Köpfe ins Wasser tauchten. Hanne bedauerte, kein trockenes Brot mitgenommen zu haben. Mutter sah das zwar nicht gern, weil sie für das Brot immer noch Verwendung hatte - entweder wurde es zu Semmelbröseln zermahlen oder an die zwei Hausschweine verfüttert - aber Hanne schaute den Enten so gerne dabei zu, wie sie das steinharte Brot im Wasser aufweichten und dabei mit den Schnäbeln lustige Planschgeräusche machten.
Hanne betrachtete ihren Bruder. Mattes starrte mit aufgerissenen Augen und verzücktem Gesichtsausdruck zu den Enten. Seine Nase war ganz rot von der kalten Luft und tropfte, mit einer fahrigen Bewegung wischte er sie ab ohne den Blick vom Fluss zu wenden. Plötzlich schaute Mattes zu ihr und lächelte verschwörerisch - als wolle er sagen: „Du und ich!“

Hinter der Mühle begann der Mühlenberg, der wieder in die kleine Innenstadt führte. Den großen Mattes samt Bollerwagen hier heraufziehen war ein Kraftakt, den Hanne nach dem vorangegangenen Weg kaum mehr leisten konnte. Sie japste und ächzte und verrenkte sich die Schulter dabei. Ihr Bruder saß ganz gebückt als wolle er sich nicht nur kleiner, sondern auch leichter für sie machen.

Im Ort beeilte sich Hanne dann wieder. Manchmal wählte sie Umwege - um niemandem zu begegnen. Wenn sie mit knappen Gruß - „Tach!“ - an jemandem vorbeipolterte, konnte Hanne jedesmal förmlich sehen, wie es in den Köpfen arbeitete - „Ist das nicht ...?“. Verachtung war das einzige, was ihr Schutz gegen die neugierigen Blicke bot. Sie verbarg sie tief in ihrem Innersten, hütete sie sorgsam.
Sie umging den Marktplatz und zog Mattes über den Hof von Bauer Kothe. Zu spät bemerkte sie, daß auf dem Hof geschlachtet wurde. Es war wohl das letzte Mal in diesem Jahr. Im Winter, wenn es zu kalt war, schlachtete man in der Deele. Sie war hungrig geworden. Der Geruch von Blut und gekochter Wurst stieg ihr in die Nase, vermochte jedoch nicht, ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen. Zu abstoßend der Anblick des ausgeschlachteten Schweineleibes, der wie Christus am Kreuz aufgehängt war.
Frau Kothe rührte mit einer Hand in einem großen Bottich dampfenden Blutes. Es durfte nicht gerinnen.
Für die ausgemergelten Hofkatzen ein Festtag. Sie fraßen sich kugelrunde Bäuche, lagen befriedigt im Stroh und leckten sich. Sie duldeten kein Blut an ihrem Fell. Die Kittel des Metzgers und der Bäuerin waren voller Spritzer. Josef und Heinrich Kothe, die Söhne des Hofes, beide jünger als Hanne, liefen eilig hin und her, trugen Töpfe und Fleisch.
Glücklicherweise waren alle so beschäftigt, daß sie Hanne und Mattes nur mit einem beiläufigen Nicken bedachten und sich dann wieder ihrer Arbeit zuwandten. Mit einem scharfen „Aus!“ konnte Hanne den winselnden Krummbein davon abhalten, zu den Fleischtöpfen zu laufen und sich ein Stück herauszuklauen. Er litt sichtlich, als sie das Schwein passierten.
Hanne überquerte den Hof und bog über den schmalen Schleichweg neben der Scheune (eine Abkürzung, die die Kinder sich ertrampelt hatten) in die Bruchgasse ein. Haus Nummer 17 wurde von Familie Heinrichs bewohnt. Hanne klopfte an das Küchenfenster und ihre Mutter kam zur Tür, um Hanne mit Mattes und dem Bollerwagen an der kleinen Treppe vor dem Eingang zu helfen. Einfacher wäre es gewesen über den Hinterhof zu fahren, aber Hanne fehlte in diesem Moment die Kraft zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Walter, der wahrscheinlich dort herumlungerte.

Die Mutter bugsierte ihre Kinder in die warme Küche, drückte sie auf die Holzbank neben dem Kohleofen und rubbelte abwechselnd ihre verfrorenen Hände und Füße.
„Na, Mattes, war´s schön?“ fragte sie, während sie seinen linken Fuß mit ihren warmen Backhänden rieb.
„Hohoho!“ antwortete Mattes aufgeregt. Soviel Zuwendung in so kurzer Zeit.
„Sind ein ganzes Stück gewandert!“ verkündete Hanne.
Mutter schwieg.
„Mattes hat ‘Mama’ gesagt!“ fügte sie hinzu.
Ihre Mutter sah sie nur kurz an, wandte sich dann wieder Mattes Füßen zu.
„Zweimal. Ganz deutlich ...“ betonte Hanne.
„Ist euch jetzt warm?“ fragte die Mutter und erhob sich. „Machst du den Abwasch, Hanne?“
„Mmh.“
Hanne nahm den Kessel mit dem heißen Wasser vom Ofen und entleerte ihn in der Spülschüssel. Dann machte sie sich daran, das schmutzige Geschirr vom Mittagessen und die Backgeräte abzuwaschen. Währenddessen bereitete ihre Mutter das Essen für den Vater. Schälte eine Handvoll Kartoffeln und wärmte den Grünkohl mit der Kohlwurst vom Mittag auf.
Mattes hockte, leicht nach vorn gebeugt auf der Bank und beobachtete die beiden. Glücklich lächelnd und mucksmäuschenstill.
Zuletzt geändert von maria am 07.05.2006, 16:56, insgesamt 1-mal geändert.

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 17.04.2006, 00:02

Hi maria,

der "Rest" schließt sich ja nahtlos an und zieht das Begonnene auch konsequent durch.

Gefällt mir.

Nur mit den zwei, drei Schlußsätzen habe ich Verständnisprobleme, da bisher nicht aus dem (Kon)Text zu schließen war, daß Matthes anscheinend öfter mal den Unmut der Mutter erregen würde. Das kommt also sehr unvermittelt - in diesem Fall leider nicht positiv unvermittelt, sondern wie aus "dem luftleeren Raum".

Heute war sein Glückstag ist schon okay. Ich denke, du wolltest hier eine Reibung einbauen, ankündigen. Aber es fehlt dafür die Basis im bisherigen Text.

Mit solchen Sätzen kann man sich leicht den ganzen Text "zerstören", darum dieser Hinweis. Denn es dürfte recht leicht zu bewerkstelligen sein, eine solche Falle zu umgehen.

Gruß
Frank

maria

Beitragvon maria » 17.04.2006, 08:31

Guten Morgen, Frank!

Vielen Dank für die Mühe den Rest zu lesen und deine Anmerkung! Ehrlich gesagt (auch wenns sich doof anhört) - beim mehrmaligen Textüberlesen hat´s bei mir auch immer an der Schlussstelle gehakt, aber mehr so als eine Art "mulmiges" Gefühl, das immer wegflutschte ...
Werd mir jetzt mal Gedanken machen.

Einen schönen Ostermontag,
maria

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 17.04.2006, 17:08

maria hat geschrieben:Guten Morgen, Frank!
Vielen Dank für die Mühe den Rest zu lesen und deine Anmerkung!


Hi Maria. Bedanke dich nicht immerzu für die "Mühe" :shock: . Würde mir ein Text beim Lesen "Mühe" bereiten, wären meine Kommentare anders, glaub mir das. Wenn mir ein Text beim Lesen besondere Mühe bereiten würde, würde ich ihn erst gar nicht zu Ende lesen.
"Mühe" assoziiere ich mit "schlecht geschrieben". Gut geschriebene Texte, die mir "Mühe" bereiten, erarbeite ich mir (was ich nicht als Mühe sehe). :cool:


maria hat geschrieben:Ehrlich gesagt (auch wenns sich doof anhört) - beim mehrmaligen Textüberlesen hat´s bei mir auch immer an der Schlussstelle gehakt, aber mehr so als eine Art "mulmiges" Gefühl, das immer wegflutschte ...


Nee, hört sich nicht doof an, ich kenne das selbst - das Selbstgeschriebene entzieht sich oft der Analyse (daher ist es ja auch gut, wenn andere "Probelesen").

Gruß
Frank

maria

Beitragvon maria » 17.04.2006, 18:09

OK! Du hast Recht. Wollte nicht nerven (ist so meine überhöfliche "englische" Art, will immer nie zur Last fallen) und lasse das jetzt (ist aber zwanghaft :grin: !).

LG maria

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Beitragvon Lisa » 18.04.2006, 10:41

Hallo zwanghafte maria :mrgreen:

(ich kenne das!)...ich kann nur sagen, dass mir der Text weiterhin gefällt, besonders, dass er glaubhaft ist. Du schilderst viele Details aus der Umgebung, die die Bilder vor einem schaffen und man weiß, dass der Autor weiß, wovon er redet...

Bin gespannt auf mehr und freue mich, dass du deinen Text wieder entdeckt hast...

maria

Beitragvon maria » 07.05.2006, 17:02

Die Schlusssätze habe ich jetzt auf Franks (berechtigten) Einwand hin (hoffentlich) verbessert.

LG maria


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