1989 - Wende zum Guten oder der Anfang vom Ende?

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LudwigP.

Beitragvon LudwigP. » 06.05.2006, 23:58

1989 - Wende zum Guten oder der Anfang vom Ende?

Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, die auf Tatsachen beruht. Alles, was hier erzählt wird, ist in einem mitteleuropäischen Land passiert. Ich widme diese Geschichte meinem Onkel Josef, der mir die Inspiration zu dieser Geschichte gegeben hat.

Am Anfang des Jahres 1989 spürte man in den Ostblockländern eine Veränderung, die Politiker waren sichtlich nervöser als sonst und die Zahl der Flüchtlinge besonders aus der DDR nahm zu. Aber noch ahnte niemand, dass am Ende des Jahres der Lauf der Geschichte dramatisch verändert wird.
In der Zeit wurde die wirtschaftliche Stagnation trotz der Beteuerungen der Kommunisten offensichtlich. Man hörte zwar noch immer, dass die geplanten Produktionszahlen erreicht wurden, doch man sah die Erfolge leider nirgends. Die Krise war also da. Noch immer versuchten die Politiker einen Ausweg zu finden, nur haben sie nicht verstanden, dass dieser Ausweg gleichzeitig das Ende ihrer Macht bedeuten würde.

Schon 1988 gab es in einigen Ostblock-Ländern Demonstrationen – niemand weiß, wer sie organisiert hat oder warum es diese Demonstrationen zu diesem Zeitpunkt gegeben hat. Gebracht haben sie leider nichts.
Noch immer gab es Dissidenten, die in Gefängnissen saßen, nur hat sich das Bild dieser Dissidenten verändert – in unserem Land wurde ein Schriftsteller zwar eingesperrt, er wurde aber wie ein prominenter Häftling behandelt, er hat jeden Tag Bananen oder Orangen bekommen, er durfte amerikanische Zigaretten rauchen – alles, was ein normaler Sterblicher nie oder nur selten zu Gesicht bekommen hat. Ja, die Jahre der harten Verfolgung waren längst vorbei und auch die Dissidenten waren nicht das, was sie mal waren – unser Schriftsteller hat fröhlich mit der Staatspolizei zusammengearbeitet, was sich aber erst nach der Wende herausgestellt hat, nur da war es schon zu spät! Warum? Das werden Sie bald erfahren.
Mein Onkel Josef, damals ein Funktionär einer christlichen-demokratischen Partei in dem Land, hat schon am Anfang 1989 etwas geahnt und hat in der Partei Freunde gesucht, die er in der Zukunft sicher brauchen könnte, um die Partei aus dem Einflussbereich der Kommunisten zu führen. Schon bald hat sich herausgestellt, dass er richtig gehandelt hat.

Im November 1989 war es so weit – es kam erneut zu Demonstrationen, nur diesmal waren sie wesentlich besser organisiert und stärker. Der liebe Herr Schriftsteller wurde freigelassen – man hoffte anscheinend, dass sich die Massen beruhigen, nur das ist nicht geschehen. Dass es in Wirklichkeit ein Kalkül von einer anderen Seite war, konnte damals niemand ahnen. Ich habe noch das Bild vor mir – ein älterer Herr auf einem Balkon, der den Menschen zuwinkt, damals war das Bild rührend, Heute ist das Bild trüb und voller Wut auf diesen Herrn auf dem Balkon. Damals war es die Götterdämmerung für die Kommunisten, Heute nur noch ein Sinnbild für ein abgekartetes Spiel zwischen den Kommunisten und paar ehemaligen Staatspolizei-Mitarbeitern – die Studenten, die damals demonstriert haben, wurden leider nur benutzt.
Bald danach ist die kommunistische Regierung zurückgetreten und 1990 gab es in dem Land freie und demokratische Wahlen – jedenfalls dachte man das. Der Herr Schriftsteller wurde der erste nichtkommunistische Präsident und mein Onkel der erste nichtkommunistische Parlamentspräsident, kurz vorher ist er noch zum Parteichef gewählt worden. Kurz vor der Präsidentenwahl ist es zu einem Eklat gekommen – ein bei den Menschen sehr beliebter ehemaliger Premier, der vor langer Zeit – in dem Jahr 1968 - den ersten Umsturz versucht hat und einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ schaffen wollte, hat sich entschlossen auch für das Präsidentenamt zu kandidieren und das wollte der Herr Schriftsteller nicht akzeptieren, man hat ihm das Präsidentenamt versprochen. Mein Onkel konnte den Ex-Premier überreden, auf seine Kandidatur zu verzichten. Jetzt konnte man erwarten, dass der Herr Schriftsteller, der jetzt Präsident war, seine Dankbarkeit zeigen würde, nur das, was gekommen ist, war ein Schock. Sie fragen sich warum? Dann passen Sie auf!

Die Kommunisten haben alle Daten über die Stasi-Mitarbeiter sorgfältig archiviert und diese Archive sollten jetzt geöffnet werden und alle Stasi-Mitarbeiter sollten dadurch enttarnt werden und von wichtigen Positionen im Staat ferngehalten werden. So weit, so gut. Darüber waren eigentlich alle froh – bis auf einen. Und das war unser Herr Schriftsteller. Mein Onkel war als Parlamentspräsident bei der Öffnung der Archive dabei und ein Papier hat ihn sehr überrascht – es war der Beweis, dass der Herr Schriftsteller bzw. der Präsident ein aktiver Mitarbeiter der Staatspolizei war. So, jetzt sagen Sie vielleicht, dass damit die Präsidenten-Karriere des Herrn Schriftsteller vorbei war – falsch! Mein Onkel musste die Rechnung bezahlen, er war eigentlich der einzige Zeuge und er musste beseitigt werden. Wie erledigt man einen erfolgreichen Politiker? Ganz einfach – man besorgt sich falsche Beweise, die ihn als Stasi-Mitarbeiter „enttarnen“. Und das ist geschehen. Was interessant ist, ist die Tatsache, dass bevor in seinem Land die Affäre bekannt wurde, in der österreichischen Zeitschrift Profil ein ganzseitiger Artikel über diese Affäre veröffentlicht wurde – statt Unterschrift gab es nur 3 Punkte! Mein Onkel hat eine Klage gegen die Zeitschrift eingereicht und auch gewonnen. Seine eigene Partei hat ihn nicht rehabilitiert, sondern ihn als Parteichef abgewählt. Erst Jahre später, als er längst die selbsternannte christliche Partei verlassen hat, haben sie ihn gebeten, in die Partei zurückzukehren, aber er hat das einzig richtige getan – er hat abgelehnt. Stattdessen hat er ein Buch angefangen, in dem er die Geschichte verarbeiten wollte – in seine Wohnung wurde mehrmals eingebrochen und nur das Manuskript ist verschwunden. Mittlerweile hat er schon einige Anschläge auf sein Leben überlebt, während der Herr Schriftsteller und mittlerweile Ex-Präsident seine Pension genießen kann. Erst, als mein Onkel die Politik verlassen hat, wurde er endlich in Ruhe gelassen, er hat in der zweitgrößten Stadt des Landes eine mittlerweile sehr bekannte Rechtsanwaltskanzlei. Ob die Ruhe aber tatsächlich ewig herrschen wird, steht in den Sternen.

Diese kurze Geschichte ist zu Ende, leider nur hier, in dem wahren Leben geht sie weiter und sie ist noch immer voll von Gefahren. Wir alle freuen uns, dass Europa wieder vereint ist, dass es diese Trennlinie zwischen Ost- und Westeuropa nicht mehr gibt und dass es keinen Stacheldraht an der Grenze gibt. Nur hat sich wirklich etwas verändert oder ist im Hintergrund alles beim alten geblieben?
Jemand hat mir vor langer Zeit gesagt: „Die Politik ist ein dreckige Sache!“ – Heute denke ich, dass es wahrscheinlich das einzige ist, was stimmt.


(C) Ludwig P.

Maija

Beitragvon Maija » 08.05.2006, 18:17

Hallo Ludwig P,

Eine nachdenkliche Geschichte und falls sie wirklich sich so abgespielt hat (davon gehe ich selbstverständlich aus) gibt sie halt mal ein anderes Bild über die Wende und die "Machenschaften" der Politiker etc. und ihre Spiele.
Einiges sehe ich anders.

Gruß Maija

LudwigP.

Beitragvon LudwigP. » 08.05.2006, 23:37

@Maija

Ich wäre froh, wenn diese Geschichte reine Fiktion wäre, sie ist es aber nicht. Ich hoffe, dass irgendwann tatsächlich eine ordentliche Wende kommt und die Wahrheit ans Tageslicht kommt, ich habe meinen kleinen Beitrag dazu hoffentlich geleistet!

Ludwig


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