Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.10.2009, 22:28

Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

[align=right]Die dunklen Geisterhimmel haben es ganz gern, dass sie den Menschen etwas in die Ferne stellen,
auf dass diese immer tiefer in den Schmerz hineingehen*
[/align]


Mythologie des Schmerzes


Da ruft mich was. Das ist meine eigene Stimme. Meine Schuldstimme. Die lässt mich Geisterhimmel spannen.

In der Ferne ist nicht jetzt. Die Ferne ist nicht wahr, noch nicht.

Eine Wolke - eine Leiche. Leichenwolken.
Licht. Weißes Blut.

Dieses weiche Weh, in dem man treibt;
dass man nichts tun muss, dass man nichts halten muss
und ganze Wälder ihrer Bäume beraubt,
bloß noch Tiere aus dem Boden ragen,
blutende Tiere, die sich allesamt verstecken, indem sie einander wundreißen
und lecken und lecken und lecken.



Knirschen im Park

wie dem zarten Mädchen am Wasser seine durch die Bluse scheinenden Schulterblätter brechen wie den tchibogerüsteten Walkingtanten ihren Kuchenkot ins Gesicht matschen wie der über ihre krebszerfressenden Kinder jammernden Alten auf der Plastikbank ihr fleckiges Häutchen aus dem Gesicht reißen wie dem hektisch joggenden Schnurrbartbeamten mit seinem Dünngürtel den Rücken mit Striemen übersähen wie dem schleimenden H&M-Röhrenjeansdrogenjungen mit der Flasche des im Gebüsch liegenden pseudodiogenessuffschlummernden Penners den Schädel zerspritzen wie oben auf dem Hügel angekommen den sich in weiter Ferne erleichternden labbrig gezüchteten Labrador abknallen bevor er wieder den Kindern durchs Gesicht leckt weil die Hände ihrer Mutter ach lassen wir das wie die zeternde Elster voller Geschwüre mit einer Kinderzwille aus ihren Ästen schießen wie das schon auch durch irgendetwas den Tod verdienende kastanieleuchtende Eichhorn am Ende des Stumpfes mit bloßen Füßen zu Matsch treten ! auf die Zähne beißen wie ein dunkler Magier seinen Zauberstab erhebt, so lange und so fest, so totbringend, bis ich nicht länger mich beiße; bis ich mich hindurchgebissen habe durch alle Gesichter die schon immer wie das eigene Gesicht



Kräuterwünsche

Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.
Entschließe dich gegenüber dem Tier.
Wenn du nichts mit ihm anzufangen weißt, iss das Tier auf.
Bitte iss es auf, denn es kann nicht mehr.
So hör doch! Du musst das Tier aufessen, wenn du keine andere Verwendung für es hast.

Niemand ist vor Ort, nur ein Dröhnen. Nacht. Regen. Das Tier liegt auf der Seite. Es schlägt sich mit dem eigenen Schweif. Es liegt hautfarben in der violetten Nacht.



Das also, der Anfang des Stumpfes

Er hatte der Fässin ohne Boden von der Frau mit dem großen Gesicht erzählt. In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet. Das Lauschen, ihre grausige, einzige Stimme.

Die Fässin ohne Boden flüchtet sich zurück in den Wald. Wie hatte sie ihre dicken Finger vergessen können, ihre feiste Lust, wie hatte sie ihren Blick von sich fort entspannen können zu einem Himmel, unter dem sie als eine andere ging.

Sie dreht sich auf die Seite. Neben ihr ragt ein Fuchs aus dem Boden. Das Aufgerissene, das Faltige, die Schwärze, der Pilz, der Schleim; alles so, wie sie es befürchtet hatte und wie sollte es auch anders sein, denn, das versteht sie nun, befürchten, befürchten kann man nur, was ist. Es ist ein Berühren, das Befürchten.






*Der kleine Satz steht Pate für all das, was ich schreibe, weil ich Peter gelesen habe und zugleich ist es ein Zitat von ihm. Ich hoffe, das gilt (etwas)
Zuletzt geändert von Lisa am 31.10.2009, 20:00, insgesamt 2-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 31.10.2009, 23:29

Liebe Lisa und alle,

das ist kein freundlicher Text. Er bietet dem Leser kein Bild, um eine Einsicht, die die Autorin (über die Welt) hat auf glattere Weise an den Leser zu vermitteln. Kein Bild, das vorkommt, ist im klassischen Sinne Metapher, etwas, dass die Situation vereinfacht, um die Einsicht des Lesers voranzutreiben, sondern die Bilder sind Notwendigkeit, um nicht sprachlos zu bleiben.

Dabei ist es nicht so, dass sich der Text keine Mühe gäbe sich verständlich zu machen. Die verschiedenen Abschnitte bieten für mich unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche Bewegung. Diese Bewegung ist eine Suche. Eine Suche, nicht aus der Perspektive dessen, der sein Ziel gefunden hat (so, wie man eben meist schreibt), sondern eine Suche aus der Perspektive des gegenwärtig Suchenden, also eine Beschreibung von Innen heraus. Insofern finde ich, Leonie, hast Du Recht: Es ist ein privater Text, aber in meinen Augen keine private Mitteilung von Lisa an Peter (es sei denn, Du widersprichst mir hier, Lisa ;-) ), sondern die private Sicht einer Schreibenden (allerdings finde ich den Vergleich mit dem Ekelfernsehen daneben, denn die Motivation in diesem Text ist doch eine völlig andere). Der Text ist vielleicht nur insofern privater als er nicht belehren will und somit mit mehr Fragen als Antworten, mit mehr Offenem als Wissen befrachtet ist (tatsächlich sind einzig "Lehrgedichte", für mich eine scheußliche Gattung, die einzige Lyrik, die in meinen Augen nicht privat ist).
Ich glaube, um den Text zu verstehen, ist es gut, sich vorzustellen, man sei in einem Labyrinth gefangen, man wisse aber nicht, was ein Labyrinth ist, noch, dass man in einem solchen steckt.Man möchte nur heraus, aber auch dieses "heraus" kann man nicht beschreiben, weil man nur das "drinnen" kennt.

Um den Zustand zu beschreiben, würde man vielleicht versuchen über die eigenen Gefühle zu reden oder darüber, wie einem das Labyrinth vorkommt, man würde Vergleiche ziehen, Geschichten erzählen ... Das versucht in meinen Augen auch der Text. Er berichtet vom Empfinden, vom Schmerz der Erzählerin im ersten Abschnitt, er berichtet über die obskur erscheinende Außenwelt und auch sprachlich über Verzweiflung in der Wahrnehmung, Abschnitt drei versucht die Situation in einer Metapher zu fassen, Abschnitt 4 gestaltet sie zu einem Märchen. Literarisch hat der Text dabei einige Kraft. Er greift Bilder aus dem einen Abschnitt im nächsten wieder auf, er versucht den Zusammenhang der Außwenwelt, die manchmal undurchdringlich erscheint wie ein Kettenhemd, durch einen Bandwurmsatz in Abschnitt 2 auch bildlich-sprachlich zu erklären.
Ich glaube einiges an dem Unverständnis, das dem Text entgegenschlägt, kommt daher, dass er aus der Perspektive dessen, der finden will gelesen wird, ja manchmal sogar aus der Perspektive dessen, der gefunden hat (oder dies meint). Flora, wenn Du schreibst

Nein, Texte müssen nicht schön sein, oder gut, oder wohltuend, sie können auch „aufreißen“ und schmerzen, dafür sollte aber doch zumindest etwas darin sein, ein Funke, (vielleicht auch ein Funke Hoffnung? Ein Zeigen wohin damit? Ein Warum?) den man für sich annehmen kann, wo etwas in einem zu klingen oder klirren anfängt, wodurch man einen Zugang finden kann und nicht nur das Gaffen anfängt und Gruseln.

dann zeigt dies für mich, dass Du vermutlich eben die suchende Bewegung des Textes nicht hast, dass Du auch auf textlicher- literarischer Ebene sehr genau weißt, was Du suchst: Du hast eigentlich schon gefunden. Ein Text muss für Dich eben gewisse Kriterien erfüllen, um zu gelten. Ich kann das verstehen, denke aber auch, dass man damit weder den Texten noch sich selbst einen großen Gefallen tut. Kunst ist vermutlich am einfachsten mit größtmöglicher Offenheit zu rezipieren. Wenn man von vornherein sagt: Es soll aber A oder B oder C gelten, dann verliert man leicht (wenn Du in einem Rezept für Tiramisu nach einem Coque au vin suchst, wirst Du vermutlich finden, dass es ein gruseliger Coque au vin ist, vielleicht ist es aber eine ganz schmackhafte Mahlzeit) . Ich glaube, dass alle diejenigen, die ein Ziel der Suche, eine Bündelung der Gedanken in dem Text finden wollen, enttäuscht werden. Das kann der Text gar nicht leisten, denn ebenso wie mein Gefangener im Labyrinth weiß auch der Text nicht wonach er sucht.
Wenn man aber sein eigenes Suchen mit dem Text abgleicht, so wird man Einstiegspforten finden. Für mich ist der letzte Abschnitt des ersten Abschnitts eine solche und auch dieser Satz

Es ist ein Berühren, das Befürchten.


Liebe Grüße
Max

PS: Nachvollziehen kann ich, dass der Text nur sehr entfernt intertextuell ist, wenn man den Bezugstext nicht kennt :-)

PPS: " pseudodiogenessuffschlummernden" finde ich zuviel des Guten ..das Wort ist so lang, dass es niemand lesen und auch niemadn verstehen kann ;-) ... und "pseudo" steht oft dafür, dass man auch nicht weiß, was man noch schreiben soll ;-)

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 01.11.2009, 00:51

Hallo Max!

Das hier...

Ein Text muss für Dich eben gewisse Kriterien erfüllen, um zu gelten. Ich kann das verstehen, denke aber auch, dass man damit weder den Texten noch sich selbst einen großen Gefallen tut.

...führt aber doch nirgendwohin, oder? Schließlich hat jeder von uns - du, ich, Lisa, Flora - gewisse Kriterien, die ein Text erfüllen muss. Größtmögliche Offenheit ist auch nur ein anderer Ausdruck für Beliebigkeit, und wofür die gut sein soll, sehe ich nicht wirklich.

Hallo Lisa!

Das ist mal wieder so ein Fall, wo ich finde, dass die Worte eines Textes nicht in sich selbst ruhen, sondern vom Autor sicherlich mit bester Absicht, aber nichtsdestotrotz "vorgeführt" werden. Und, na ja: Ich habe mich schon als kleines Kind Zirkusbesuchen relativ renitent verweigert ;-) Also leider kein Text für mich (was natürlich für ihn spricht - die berühmte Kompassnadel, die nach Süden zeigt ;-)) Ich glaube aber ohnehin, dass diese Sorte Text sehenden Auges einkalkuliert, eine gewisse Menge an Lesern zu "verlieren"?!

Ferdigruß!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.11.2009, 01:27

Hi Max,
Wenn man aber sein eigenes Suchen mit dem Text abgleicht, so wird man Einstiegspforten finden. Für mich ist der letzte Abschnitt des ersten Abschnitts eine solche

Für mich wäre so eine Einstiegspforte eher dieser Passus:
Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.
Entschließe dich gegenüber dem Tier.
Wenn du nichts mit ihm anzufangen weißt, iss das Tier auf.
Bitte iss es auf, denn es kann nicht mehr.
So hör doch! Du musst das Tier aufessen, wenn du keine andere Verwendung für es hast.

Hier steckt eine verzweifelte Entschlossenheit drin. Eine eindringliche Aufforderung an sich selbst, dem Tier in der Welt/dem Tier in sich selbst ein Ende zu bereiten, da das Tier nicht mehr kontrollierbar ist.

Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.11.2009, 09:35

Hallo Max,

ja, das hatte ich erwartet, dass meine Kritik an diesem Text wieder umgewendet wird und letztlich meine mangelnde Bereitschaft mich einzulassen, oder meine fehlende Offenheit, mein falsches Kunstverständnis als Ursache ausgemacht wird, warum der Text für mich nicht funktioniert. Und ich muss zugeben, dass mich das langsam etwas mürbe macht und ich auch die Lust verliere überhaupt noch Kritik zu üben. Denn wird unter dem Aspekt nicht jede Kritik hinfällig?
Ich denke man muss Texten schon begegnen mit den eigenen Kriterien, Erfahrungen, Vorstellungen von Sprache, Kunst und auch dem Leben, mit dem eigenen Sehen. Und wenn man immer und für alles die Türen öffnet, stellt man auf Durchzug ;-) und es gerät dann vielleicht auch zur Beliebigkeit. Man muss den Texten natürlich dann auch die Möglichkeit geben, etwas aufzubrechen, zu bereichern, zu erstaunen und zu berühren, wo man es gar nicht erwartet. Ich denke, dass ich diese Kritik, dass ich das dann nicht zulassen würde, für mich nicht annehmen muss, weil ich andere Erfahrungen mit meinem Lesen gemacht habe, gerade was Lisas Texte anbelangt.
Und ja, ich weiß schon, was ich suche, nämlich wie ich schrieb einen Zugang, oder Funken, oder deine Einstiegspforte.
Wenn man aber sein eigenes Suchen mit dem Text abgleicht, so wird man Einstiegspforten finden.

Also in dem Fall bin ich einfach nicht „man“, ist mir schon öfter passiert. ;-)

Und diese Sätze machen mich dann auch sehr nachdenklich:
die private Sicht einer Schreibenden
eine Einsicht, die die Autorin (über die Welt) hat
die Bilder sind Notwendigkeit, um nicht sprachlos zu bleiben.


liebe Grüße
Flora

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 01.11.2009, 10:44

Liebe Lisa,

Endlich ein Text von dir, der mich total besticht und einnimmt. Hier hab ich neugierig die Komm. einfach lesen müssen, ich ahnte schon, es würde Kontroversen geben. Der Text hat natürlich eine Linie, ich erkenne sie deutlich: Seht euch doch um in der Welt! So ist sie, ja, so ist sie. Dass das nicht lustig ist sondern wirklich grauslich, hoffnungslos und apokalyptisch, kann ich jeden Tag bestätigen.

Mir ist es ehrlich gesagt wurscht, ob deine Inspiration aus einem privat geschriebenen Satz kommt, den man schließlich (ganz ohne Link) schwarz auf weiß hier lesen kann!

Der 1. Part liest sich geradezu urzeitlich, als aus den Organismen Erdöl entstand.

Nr. 2 spaziert in die Begutachtung des Heutes, wie wahr, wie wahr ...

Und 3. beschreibt mir die Gefühle des LI, das Tier sitzt ja in uns, es heißt Schmerz, man will/sollte es unbedingt loswerden, doch wie? "Angst essen Seele auf" fällt mir dazu ein.

Und 4. das Ende vom Anfang und zugleich das Aufgeben, irgendwas noch zurechtrücken zu können. Wirkungslos ist man geworden, nicht einmal die Mythen helfen mehr und Gaia hat den Offenbarungseid erklärt.

Wunderbar ist mir das, Respekt, liebe Lisa.

LG
ELsa
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leonie
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Beitragvon leonie » 01.11.2009, 11:15

Liebe alle,

Max, ich meinte nicht, dass der Text eine private Mitteilung von Lisa an Peter ist, sondern dass offensichtich Peters "Brief" an Lisa privat war.

Weil Du das Ekelferneshen ansprichst. Sicher ist hier die Motivation eine andere. Der Vergleichspunkt sind die Bilder, die erzeugt werden, ich dachte auch, dass ich das deutlich gemacht habe.
Die will ich mir nicht antun, wenn ich darin nicht irgendeinen Sinn sehe. Ich höre meiner Freundin zu, wenn sie mir erzählt, dass sie einen Menschen verarzten musste, dem das Gehirn weggeschossen wurde. Da bin ich in einer Rolle, die Sinn macht für mich.
Aber ich schaue mir keine Bilder an mit einem spritzenden Gehirn. Das ist für mich zum einen ein Selbstschutz, aber ich finde, es zeugt auch durchaus von einer gewissen Achtung gegenüber mir selbst und den Menschen, die in der Realität mit solchem konfrontiert sind.

Da hilft auch ein Verweis auf einen künstlerische Anspruch nichts. (Den hat auch Gunther von Hagens. Darüber haben wir an anderer Stelle ja schon ausführlich diskutiert. Vielleicht haben den auch sogar die Macher, zumindest aber die Teilnehmer des Ekelfernsehens.)

Hier werde ich in die Rolle einer Zuschauerin gedrängt, die zur Gafferin wird. Das ist übrigens ein sehr aggressiver Vorgang, finde ich. Von daher wundert es mich überhaupt nicht, wenn die Rückmeldungen dann auch so sind.

Es geht überhaupt nicht darum, wie ein Kind an die Hand genommen zu werden. Es geht darum, dass ich mich erwachsen und menschlich verhalten können möchte, wenn ich mit solchen Bildern konfrontiert werde. Ansonsten ist das, wie ferdi sagt, für mich ein Vorführen, das keinerlei Sinn macht. Und dadurch entsteht dann auch für mich der Podest für den Schmerz, von dem ich oben schreibe.

Zum dritten: Es ist Aufgabe des Autors, die Tür zu seinem Text zu öffnen, nicht des Lesers. Damit der Leser offen rangehen kann, muss es zunächst dem Autor gelungen sein, die Tür zu öffnen.

Meine öffnet man nicht durch eine reine Darstellung von Schmerz oder Tod oder Sinnlosigkeit.
Texte dürfen weh tun. Aber dann will ich erstens nicht nur zuschauen, wie jemand in seinen Schmerz immer tiefer hineingeht, sondern begleiten. Und nicht nur hineingehen, sondern gemeinsam einen Weg hinaus suchen. Kommunikation und Solidarität und nicht den Platz auf der anderen Seite der Glaswand, wo ich betrachten kann, wie jemand sich windet. Da setzten meine Selbstschutzfunktionen ein, ich sehe nicht, welchen Sinn das haben sollte und wende mich ab.
(und da wären wir dann auch wieder bei der Frage, die carl im Odenfaden stellt...)

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 01.11.2009, 12:20

Lieber Ferdi,

Ein Text muss für Dich eben gewisse Kriterien erfüllen, um zu gelten. Ich kann das verstehen, denke aber auch, dass man damit weder den Texten noch sich selbst einen großen Gefallen tut.

...führt aber doch nirgendwohin, oder? Schließlich hat jeder von uns - du, ich, Lisa, Flora - gewisse Kriterien, die ein Text erfüllen muss. Größtmögliche Offenheit ist auch nur ein anderer Ausdruck für Beliebigkeit, und wofür die gut sein soll, sehe ich nicht wirklich.


Nein, ich wollte natürlich nicht der Beliebigkeit das Wort reden (und ich denke, das wird auch deutlich, wenn man meinen Kommentar liest). Wohl aber möchte ich für ein Hinhören plädieren. Ich glaube daran, dass Kommuniaktion leichter wird, wenn man dem anderen die Chance gibt, das zu sagen, was er möchte und wie er es möchte und nicht das, was man zu sehen erwartet. Wenn ich mir die letzten großen Umbrüche in allen Kunstrichtungen anschaue, so scheint mir, dass der Gedanke dahinter nicht eine feste neue Fom ist, sei es 12-Ton-Musik, abstrakte Malerei oder dadaistische Lyrik (oder was weiß ich was), sondern eben der Gedanke, dass man zunächst einmal zulässt und versucht vom Schaffenden aus zu kritisieren.



Liebe Flora,

ich denke, wer Kunstwerke fundamental kritisiert, der muss auch mit einer Kritik an den Fundamenten leben können. Für ein "Mürbe werden" habe ich diesbezüglich dann wenig Verständnis, verzeih.

Ich denke nicht, dass jede Kritik hinfällig wird, wenn man sich mit dem Text so beschäftigt, wie er gemeint ist - wir kommen vielmehr zu eine Kritik vom Text her, statt einer Kritik von Kriterien her. Ich glaube, dass das eine Aufgabe ist, die das Forum wertvoller machen würde. Lass es mich an zwei Beispielen erläutern. Frisch erzählt in seinem 7stündigen Interview darüber, was das Arbeiten mit anderen Autoren für ihn wertvoll macht. Dies ist (ich zitiere aus dem Gedächtnis) die Tatsache, dass der andere auch von einem Schaffensprozess herkommt, dass er weiß, dass der Ausdruck für Gleiches in verschiedenen Situationen verschieden sein kann und dass alles mit einem leeren Blatt Papier beginnt. Der Kritiker hingegen sagt: Nun, ein perfekter Text hierüber würde die und die Kriterien erfüllen und hätte 10 Punkte und für diesen hier, es tut mir leid, mein Lieber, kann ich dir nur 4 geben.
Ich fühle mich auch an den Schaffensprozess bei mathematischen Arbeiten erinnert. Diese durchlaufen nach Fertigstellung auch einen Begutachtungsprozess. Es gibt Gutachter, die alle Rechnungen nachrechnen und einen auf Fehler hinweisen, es gibt welche, die die Wichtigkeit und die Perspektiven des Artikels ausloten und solche, die einem schreiben, sie würden gerne vom selben Autor einen anderen Artikel lesen, über ein anderes Thema und natürlich dann auch anders geschrieben. Ich glaube, dass diese Perspektive es Autor und Kritiker erschwert, zueinander zu kommen.

Liebe Leonie,

auch die legst ja hier Maßstäbe an, Kriterien, wie der Text zu sein at und wie der Autor. Das kann man sicher tun und dann versteht man einige Texte nicht, weil weder Text noch Autor so sind, wie man sich das überlegt hat. Das ist dann schade für Text und Leser (und vermutlich auch den Autor).
Ich habe das Gefühl, ich lebe zur Genüge in einer Welt, wo jeder genau zu wissen meint, wie die Welt beschaffen ist. Die Kunst scheint mir ein Ort, an dem der Zweifel einen Platz hat. Und das sollte vielleicht auch für die Maßstäbe an Kunst gelten.

Liebe Grüße
Max

PS: Vielleicht haben wir verschiedene "Ekel-TV" Ereignisse vor Augen. Bei den meinen hatte weder ein Macher noch ein Teilnehmer einen künstlerischen Anspruch.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 01.11.2009, 12:52

Liebe leonie,

Hier herausgegriffen, weil es mich zu einer Frage anregt:
Hier werde ich in die Rolle einer Zuschauerin gedrängt, die zur Gafferin wird.

Sind wir denn nicht stets ZuschauerInnen bei den Texten anderer? Den Schöpfungsprozess haben die AutorInnen durchlaufen, mehr als zunächst mal es aufnehmen können wir als Leser eigentlich nicht. Das gilt auch für Musik, bildenden Kunst etc. Was wir dann für uns mitnehmen, ob wir das Konsumierte mögen oder ablehnen, ist wiederum ein ganz persönliches Empfinden.

Ich mein ja nur.

Liebe Grüße
ELsie

edit: Ein Text, der Resonanz ( egal ob pos. oder neg.) erzeugt, hat seine Aufgabe erfüllt. Das tut dieser hier.
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.11.2009, 12:56

Hallo Max,

ich denke, wer Kunstwerke fundamental kritisiert, der muss auch mit einer Kritik an den Fundamenten leben können.

Max, ich frage mich gerade, ob sich das überhaupt auf meinen Kommentar zu Lisas Text bezieht? Ich gebe ihr Rückmeldung, dass und warum der Text für mich nicht funktioniert. Der Einwand, den man übrigens tatsächlich immer bringen kann, dass ich dann nur nicht offen genug gewesen wäre oder eben nicht hingehört hätte, bringt dann weder mir noch Lisa etwas. Und da wir hier alle nicht nur Kritiker, sondern auch Autoren sind, kann ich mit dem Frisch-Verweis dann auch wenig anfangen. Tut mir Leid, wenn ich da deinen Maßstäben nicht gerecht werden kann, aber ich finde mich weder in deinem mathematischen Vergleich, noch der Kritik, man würde sich nicht mit dem Text beschäftigen, wie er gemeint war, wieder. Woher weißt du denn, dass du dich mit dem Text beschäftigst, wie er gemeint war und er nicht eben einfach deine Kriterien erfüllt?
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das hier eine ganz andere grundsätzliche Diskussion ist, die immer wieder auftaucht, die spannend ist, ich finde deine Gedanken zu Lisas Text und auch zu deinem Kunstverständnis auch interessant und setzte mich gerne damit auseinander, dass das dann aber mit Lisas Text und meiner Rezeption nicht mehr viel zu tun hat.

liebe Grüße
Flora

Max

Beitragvon Max » 01.11.2009, 13:01

Liebe Elsa,

das halte ich auch aus einer anderen Perspektive einen überdenkenswerten Satz:

Gibt es eine bestimmte Position, in die mich ein Kunstwerk setzen sollte? Und kann ich bei anderem sagen Das ist eben keine Kunst, weil es mich nicht in diese Position versetzt? (Und ist es ünerhaupt fruchtbar zu diskutieren, ob etwas Kunst oder keine Kunst ist? - So lange man nicht Kunstphilosophie betreibt, würde ich eher sagen: nein).

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 01.11.2009, 13:08

Liebe Flora,

ich denke, es hat damit zu tun, warum der Text für Dich nicht funktioniert und für mich vielleicht schon. Und da es ja nicht beliebig ist, welche Texte zu uns sprechen und welche nicht, hat es sicher mit dem Text zu tun. Zudem sehe ich auch eine gewisse thematische Nähe zum Text.

Aber natürlich reicht das Ganze auch über den Text hinaus, weil wir eben verschiedene Vorstellungen haben von dem, was wir hier sehen wollen und was zu uns spricht. Die Überlegung, dass man bei einem Text erst einmal schaut, was er denn von sich aus an Anspruch erhebt, ist ein Denkansatz der für jeden, der hier Texte bespricht (ganz gewiss für mich). Ich kenne ja genug Texte, wo ich merke, dass ich denke, der sagt mir nix ... und die Frage wäre: Wieso eigentlich nicht, wo doch der Autor vermutlich einen Ausrcuk für etwas geben wollte.

Liebe Grüße
Max

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Beitragvon Elsa » 01.11.2009, 13:14

Lieber Max,

Das können wir durch die Jahrhunderte aus Reaktionen auf "Kunst" herauslesen. Die verkannten Künstler, die, weil ihre Werke nicht dem Mainstream ihrer Zeit entsprachen, und daher keinen müden Groschen verdienen konnten, viel später aber (wenn sie schon verhungert waren oder total verrückt) als Idol für Kunstrichtungen standen. BTW: Schon wieder hat Philip Roth nicht den Nobelpreis gekriegt, was ich sehr bedaure.

Gibt es eine bestimmte Position, in die mich ein Kunstwerk setzen sollte?

Wenn es die gibt, dann wird sie dem Betrachter verschlossen bleiben, da i.R. die Künstler nicht verraten, was ihre Absicht diesbezüglich ist. :-)

Geht es aber von der Erwartungshaltung des Betrachters aus, der sich darum bemüht, in eine Position versetzt zu werden, wird er daran scheitern.
Eine Vermutung, weil ich solche Erwartungen einfach nicht habe. Ich bin viel zu einfach gestrickt dafür, gehe neutral auf ein Werk zu, entweder es ergreift mich oder lässt mich kalt, bleibt mir Hekuba oder ich kann für mich was gewinnen.

Lieben Gruß
Elsa
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Beitragvon leonie » 01.11.2009, 13:15

Lieber Max,

ich wehre mich gegen die mir zugedachte Rolle. Oder gegen das, was ich als die mir zugedachte Rolle empfinde.
Der Text legt also auch Maßstäbe und Kriterien an mich an und lässt mich nicht so sein wie ich bin.
Er kommt mir nicht entgegen, lädt mich nicht ein.
Er quält sich und mich mit seinen Bildern. Es mag ja sein, dass andere sich das anschauen können und dabei kalt bleiben. Oder es interessant finden. Oder das Ekelhafte sie nicht weiter tangiert. Oder sie etwas Neues über den Schmerz erfahren.

Vielleicht wende ich mich ja ab, weil ich im richtigen Leben ein bisschen zuviel davon gesehen habe. Ich habe mich sogar freiwillig damit konfrontiert. Weil ich einen Sinn darin gesehen habe, weil ich gesehen habe, etwas wird darurch ein bisschen besser als es vorher war. Dazu bin ich durchaus auch weiter bereit.
Ich habe aber keine Lust dazu, dem Leid anderer als Zuschauerin beizuwohnen, wenn das Zuschauen die einzige Rolle ist, die ich übernehmen darf. Es verschlechtert mein Leben und verbessert das anderer nicht. Ich empfinde es zudem als unangemessen und irgendwie auch zynisch (andere mögen das anders empfinden).

Die Realität stellt uns doch das Leid schon so dar, wie es ist. Mir reicht das aus. Ist oft genug schon zuviel.
Mir reicht auch, wenn ich meine eigenen Alpträume erleben muss. Ich höre mir die anderer an, wenn die Menschen dahinter sich dadurch ein bisschen leichter fühlen.
Aber sie mir als Film aus der Distanz anzuschauen, damit ich mich ein bisschen gruseln kann oder weil ich meine, sie würden mir irgendetwas über den Schmerz mitteilen oder oder oder. Nein.
Das kann das Leben aus erster Hand besser, authentischer und so, dass ich meine Rolle und Position dazu selbst wählen kann.
Es gibt ziemlich viele Menschen, die sich da verweigern, weil ihre Angst zu groß ist. Ich kann von mir sagen, dass ich da mal mutig war (und vielleicht immer noch bin). Ich bin durch einen Haufen echten Schmerz durch, nicht nur eigenen auch als Begleiterin.
Ich verweigere mich halt da, wo es für mich keinen Sinn macht: Wenn ich künstlerisch gemachten (und sei er noch so gut gemacht) bloß zuschauen soll.

Ich will eine Rolle, durch die sich etwas verändert, und zwar in eine gute Richtung.
Und das heißt gerade nicht, dass ich glaube, ich wüsste, wie die Welt beschaffen ist. Aber ich will versuchen dürfen, mit dem, was mir vor die Füße fällt, auf eine möglichst gute, verantwortliche Weise umzugehen. Für mein Empfinden lässt der Text mir diesen Freiraum nicht.

Dann:
Wenn ich als Autorin einen Text schreibe, geht es mir darum mitzuteilen, zu kommunizieren. Wenn das nicht gelingt, dann frage ich nach meinem Anteil daran und suche die Verantwortung in allererster Linie bei mir als Autorin. Und ich komme nicht an und sage: Ihr wollt mich ja bloß nicht verstehen und es liegt an Euch.
Darauf erwidere ich: Wenn Du mich als Leserin gewinnen möchtest, dann sprich so mit mir, dass ich es verstehen kann.

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon leonie » 01.11.2009, 13:19

Liebe Elsa,

ich finde nicht, dass jeder Text mich in die Rolle einer Gafferin bringt.
Viele Texte holen mich hinein, bieten Identifizierungsmöglichkeiten, bringen mich zum Nachdenken, lasse mich eine neue Position zu etwas finden oder mich zumindest auf die Suche begeben. Andere bewirken, dass ich mich verstanden, getröstet etc. fühle.

Liebe Grüße

leonie


Ich will überhaupt nicht sagen, dass der Text "keine Kunst" sei. Darüber maße ich mir kein Urteil an.


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