Das Sterben der Großmutter
Verfasst: 08.05.2010, 08:24
Das Sterben der Großmutter
oder
Variationen zu einem Thema
Ein autobiografischer Essay
Ernst Morwitz, ein Freund Stefan Georges, sagte: „Die Toten lächeln, weil sie ein Geheimnis vor uns voraushaben.“ Dies bemerkte er, weil andere Freunde des gerade verstorbenen Dichters dessen Totenantlitz als erhaben und nach Innen lächelnd beschrieben hatten.
Großmutter lächelte nicht, nachdem sie gestorben war. Ihr zahnloser Mund, tief in die Mundhöhle eingesunken, sah aus, als würde sie ihn zusammenpressen. Die Nasenlöcher waren nur noch dünne Schlitze. Man hätte meinen können, ihre Nase sei in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch gewachsen, neben dem Leben, hätte auch das Nasenbein versucht aus dem Körper zu fliehen. Am auffälligsten aber waren ihre Augen. Rund wie Murmeln, die geschlossenen Lider von einer glänzend violetten Farbe, erschienen sie wie Fremdkörper, die man in die leeren Augenhöhlen eingelegt hatte. Das Totengesicht der Großmutter hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es war ein stillgelegter Bahnhof, ein für immer verlassenes Gebäude. Warum hätte sie lächeln sollen wegen eines blöden Geheimnisses, das die Toten überhaupt nicht interessiert? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.
Die meisten Religionen, die ein Weiterleben nach dem Tod lehren, verurteilen den Selbstmord. Als bestünde die Gefahr, dass diejenigen, die an die Unsterblichkeit glauben der Versuchen erliegen könnten, eine Abkürzung zu nehmen. Womöglich waren sich aber auch die Personen, die solche Regeln aufstellten, ihrer Sache nicht ganz sicher. Wie dem auch sei, es ist ein Gebot für Kranke und Unglückliche. Kein gesunder und glücklicher Mensch würde seinem Leben ein Ende setzen wollen, nur weil ihn auf der anderen Seite etwas Besseres erwartet. Und selbst die meisten Kranken und Unglücklichen halten an ihrem Leben fest, klammern sich an jeden Strohhalm, der ihnen eine Stunde, einen Tag oder länger ihre Existenz bewahren hilft. Der Mensch hat ein ihm innewohnendes Gespür dafür, dass nach dem Tod nichts mehr kommt.
Die letzten zwei Tage lag die Großmutter mit geschlossenen Augen im Bett und atmete schnell durch den offen stehenden Mund. Die eingesaugte Luft schabte trocken ihren Hals hinunter. Es sah so aus, als würde sie den Kopf in das Kissen drücken. Kein Wunder, dass die Umstehenden dachten, sie kämpfe gegen den Tod. Einmal beugte sich die Schwiegertochter zu ihr herunter, strich ihr über die Stirn und flüsterte: Lass doch los. Lass doch los!
Aber Großmutter dachte nicht daran. Als sei Ein- und Ausatmen ebenso ein Daseinszweck. Eine Aufgabe, die man zu erfüllen hatte, bis eben auch das nicht mehr ging. Es war schmerzhaft dieses heftige Atmen zu hören, weil man sich vorstellte, dass es für sie schmerzhaft sein musste. Es erinnerte mich an Wanderungen, bei denen man stundenlang bergauf läuft und irgendwann nur noch einen Schritt vor den anderen setzt. Spaß macht das keinen mehr, aber wenn man ankommen will, muss man weiterlaufen. Und wer leben will, muss atmen. Also weiteratmen, auch wenn man dabei Gott verspottet. Oder die Natur. Mindestens einer von beiden will den Tod. Aber das sieht ein Mensch wie Großmutter gar nicht ein. Sechsundneunzig Jahre schenkt man nicht einfach so her. Das Leben schenkt man nicht her. Wer es haben will, der muss es sich nehmen und zwar mit Gewalt. Muss es aus dem wundgeatmeten Hals herausreißen.
Die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ist nicht zu überbrücken. Viele, die sich Christen nennen und an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod glauben, sind ebenso davon überzeugt, dass die Evolution eine Tatsache ist. Man stelle sich das vor: Das Leben entwickelt sich vom Einzeller hinauf bis zum Homo Sapiens. An welchem Punkt kommt die Seele ins Spiel? Welches war das erste Lebewesen, das eine Seele hatte, die nach dem Tod weiterlebte? Woher kam die? Und selbst wenn ein Schöpfer sich der Evolution bedient hätte, dann müsste er zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegt haben, das nächste Geborene bekommt das Geschenk einer Seele. Das ist unlogisch und auch grausam.
Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod ist eine klare Verneinung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Pornografie des Sterbens. Atemzüge, die immer langsamer werden, obwohl sie nichts an Kraft verlieren. Und man steht dumm daneben. Vater war ins Nebenzimmer gegangen. Jetzt wurde er gerufen. Es ginge zu Ende. Aber niemand schrie auf, niemand stellte sich schützend vor die Sterbende. Weil es ja sowieso passiert. Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden. Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, war noch nie ein Mensch gestorben. Was wusste Kain vom Tod? Er kannte ihn nur aus der göttlichen Strafverkündung: Ihr werdet sterben!
Das Wissen ums Sterben hat aus dem Menschen einen Mörder gemacht.
Warum stand nicht der Geist neben Großmutter und macht sie wieder jung und gesund? Jener Geist, der sie, als sie zwölf Jahre alt war und an einer schweren Innenohrentzündung litt, heilte. Es ist die einzige unheimliche Geschichte, die Großmutter jemals erzählte und sie wirkte dabei selbst so erschrocken, dass ich die Begebenheit bis heute für wahr halte.
Meine Urgroßeltern hatten ein Haus in der Nähe von Zwickau. Es war Anfang der zwanziger Jahre. Aufgrund einer Blutvergiftung starb der zweitjüngste Bruder der Großmutter. Ein Bekannter der Familie erzählte ihrer Mutter von einem Medium, das Kontakt zu dem Verstorbenen herstellen könne. Also ging meine Urgroßmutter zu einer dieser Seancen und tatsächlich sprach ein Geist durch das Medium zu ihr und berichtete von ihrem Sohn. Von da an besuchte die Urgroßmutter regelmäßig das Medium. Ihr Mann stand dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber, ließ sich jedoch eines Tages dazu überreden, an einer der Sitzungen teilzunehmen. Als der Geist in das Medium fuhr, war er sehr aufgebracht, da sich jemand im Raum befände, der nicht an Geister glaubte. Der Urgroßvater gab sich zu erkennen. Darauf sagte der Geist zu ihm: „Du hast eine Tochter, die sehr krank ist. Ich werde heute Nacht zu ihr gehen und sie heilen.“.
In jener Nacht erwachte die Großmutter mit dem Gefühl, dass jemand neben ihrem Bett stünde. Sie schlief wieder ein und als sie am Morgen erwachte, waren ihre Ohrenschmerzen verschwunden. Sie kehrten auch nicht wieder, aber von diesem Tag an spukte es in dem Haus. Jede Nacht hörte man Stimmen und Geräusche, als würden schwere Möbel verrückt. Urgroßmutter verlor zeitweise den Verstand und verbrachte mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt. Das war kurz nachdem der jüngste Bruder der Großmutter über Nacht verstarb, ohne dass man hätte sagen können warum. Auffällig war nur gewesen, dass er am Abend zuvor viele Dinge noch einmal machen wollte. Darf ich noch mal diesen Tee haben? hatte er gefragt, oder noch mal jenes Spielzeug? In der Nacht kam er in das Bett der Eltern gekrochen und fragte, ob er noch einmal bei ihnen schlafen dürfe. Am nächsten Tag war er tot.
Das Spuken hörte nicht auf, bis die Familie aus dem Haus auszog.
In einem kurzen Text beschreibt George Orwell eine Hinrichtung, der er während seiner Dienstzeit in Burma beiwohnte. Dem Bericht fehlt auf beunruhigende Weise jedwedes Pathos. Nachdem der Tod des Delinquenten festgestellt ist, wird darüber diskutiert, was es wohl zu essen gäbe. Interessant sind jedoch die Gedanken des Erzählers, während der Verurteilte zum Galgen läuft. Dessen Ruhe beeindruckt Orwell offensichtlich, was ja nichts anders heißt, als dass er diese Gelassenheit gegenüber dem Tod nicht besitzt. Weil ihm bewusst wird, was es heißt, wenn ein Mensch stirbt. Er sagt wörtlich: „Eine Welt geht unter.“ Jeder Tod ist ein Weltuntergang, da es keine zwei Menschen gibt, die die Welt mit den gleichen Augen sehen. Der Tod zerstört einen absolut einzigartigen Blick auf das Leben und einen Geist, der diesen Blick wahrnimmt und als sein Eigentum beansprucht.
Großmutter glaubte an Gott. Seit ihrer Kindheit ging sie regelmäßig in die Kirche. Und da sie sehr musikalisch war, wurde sie schon in sehr jungen Jahren Organistin. Zunächst in einer evangelischen Kirche. Später sprach sie der katholische Pfarrer des Ortes an und fragte, ob sie denn nicht auch in seiner Kirche spielen könne. Die Gemeinde entbehrte schmerzhaft einen guten Organisten. Und außerdem müsste er sie warnen. Der protestantische Kollege wäre dafür bekannt, es mit der ehelichen Treue nicht so genau zu nehmen. Großmutter akzeptierte sowohl die Warnung als auch das Angebot und radelte sonntags zwischen zwei Kirchen hin und her. Am Ende war es allerdings der katholische Hirte, der versuchte sie zu verführen.
Die ersten Toten die ich sah, waren Leichenhaufen. Fotos in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Großmutter hatte mich dort mit hingenommen. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Am meisten beidruckte mich die so gut leserliche Aufschrift „Duschbad“ über dem Eingang zur Gaskammer. Ich wusste genau, welchem Zweck diese Anlagen dienen sollten. Der Hohn der Worte war mir bewusst. Großmutter erzählte, dass sie oftmals den Gestank der verbrannten Leichen riechen konnten. Und wie der behinderte Sohn einer Bekannten abgeholt wurde, und seine Mutter für ihn extra einen Apfelkuchen gebacken hatte, um ihm etwas mitzugeben, was er sehr mochte. Der Junge kam nie wieder. Großmutter erzählte auch, dass sie, als schon die amerikanischen Panzer in der Stadt waren, noch immer an Hitlers Wunderwaffe geglaubt hatte.
Das Gehirn bereitet den Menschen aufs Sterben vor, indem es vergisst. Die Vorstellung von Zeit ist ein Konzept von Sterblichen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen. Die Zeit ist ein Pfeil, der schnell vorwärts schießt, daran angebunden ein unendlich großer Sack, der sekündlich mit Vergessen gefüllt wird. Die Zeit ist ein Grab. Großmutters Geschichten werden mit mir sterben und damit in den Sack gefüllt. Ich werde in den Sack gefüllt. Es ist lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Aber alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard)
Vor einigen Jahren gingen Vater und ich die Straße entlang, in der er und Großmutter während der Kriegszeit wohnten. Er zeigte mir die Stelle, wo er auf eine Glasscherbe getreten war und sich dabei den großen Fußzeh abgetrennt hatte. „Und da hinten“, sagte er, „da wohnte der Soundso. Den habe ich während des Krieges immer beneidet und tue es im Grunde heute noch. Der hatte sich einen Unterstand in seinem Garten gebaut und jedes Mal, wenn die Sirenen einen Luftangriff ankündigten, ging er dorthin. Von da aus konnte er genau beobachten wohin die Bomben fielen. Wir saßen derweil im Keller, hatten Angst und wussten überhaupt nichts.“
Es ist beeindruckend zu erfahren, dass der eigene Vater einen Menschen heute noch beneidet, der sechzig Jahre zuvor nicht soviel Angst zu haben brauchte.
Eine Mutter sieht ihr Kind sterben. Leukämie. Die Ärzte haben getan was sie können und das war in diesem Fall nicht genug. Das Leben schleicht sich aus dem jungen Körper. Das Kind stirbt zu Hause, so will es die Mutter. Es erscheint ihr richtig, auch wenn sie weiß, dass sie damit die Wohnung und das Haus für alle Zeit vergiften wird. Es wird ein Totenhaus werden, mit einer Totenwohnung. Darin ein Totenzimmer. Auch das Kind lächelt nicht, als es gestorben ist, sondern sieht seltsam alt aus und erschöpft.
Einige Straßen weiter klingelt ein Prediger einer so genannten Sekte an einem Haus. Ein älterer Herr öffnet die Tür. Der Prediger erzählt vom Paradies und vom ewigen Leben. Der Mann meint daraufhin, dass ewig zu leben wohl doch langweilig wäre. Und alles so friedlich, nein, es brauche das Böse, um das Gute zu schätzen. Es brauche den Tod, damit die Lebenden wissen, was sie haben.
Der erste wirkliche Tote, den ich sah, war Großvater. Ich hatte einige Wochen bei meinen Großeltern verbracht und nun wollten wir gemeinsam mit der Bahn zu den Eltern fahren. Großvater ließ Plätze reservieren. Im letzten Wagon, weil es da am ruhigsten war und niemand in den Gängen stand. Als wir auf den Bahnsteig kamen, stand der Zug schon da und wir stiegen ein. Großvater las Zeitung und Großmutter stickte den armen Poeten von Spitzweg. Ich beobachtet sie dabei und schaute mir immer wieder das Gedränge auf dem Bahnsteig an. Schließlich hörte ich den Pfiff des Schaffners. Ein kurzes Rumpeln. Die Leute draußen winkten. Aber wir bewegten uns nicht. Großvater legte die Zeitung weg, schob das Fenster herunter und sah hinaus. Dann fing er an zu schreien. Ich weiß nicht mehr genau was, aber es dauerte nur einige Sekunden, da ließ er sich wieder auf den Sitz fallen, schaute meine Großmutter an und sagte: „Die haben den Wagon nicht angehängt.“ Großmutter legte den armen Poeten neben sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. „Das gibt es doch nicht“, sagte sie, „die können doch nicht ohne uns fahren.“ Großvater aber flüsterte nur noch: „Ich bin müde“, und im gleichen Moment fiel sein Kopf nach hinten und er war tot.
Borges glaubte nicht an die Unsterblichkeit. Nicht an eine persönliche, wohl aber an eine, wie er es nennt, kosmische. Von allem was man getan, gesagt und auch geschrieben hat, wird etwas bleiben, und sei es nur eine vage Erinnerung. Im Grunde aber ist diese Unsterblichkeit nichts anderes, als der Glaube an einen ewigen Kreislauf von Wiederholungen. Hatte ein Mensch vor tausenden von Jahren das tosende Meer bestaunt, und stehe ich heute genauso staunend davor, dann bin ich auch jener schon längst vergessene Mensch, da in mir ein Gefühl wohnt, das einst auch ihn erfüllte. Wenn ich Shakespeare lese, dann bin ich Shakespeare, weil seine Worte durch mich hindurchgehen. Lese ich Goethe, bin ich Goethe usw. Diese Unendlichkeit bringt keinen Trost für den, der sich eine individuelle Unsterblichkeit ersehnt. Nicht jeder denkt wie der Argentinier, der den Gedanken grauenhaft fand, für immer Borges zu sein. Wahrscheinlich sogar die wenigsten. Vielleicht hat er in dem Moment seines Todes auch anders gedacht und sich gewünscht, doch noch weiter Borges sein zu können. Seine Existenz in ein philosophisches Konzept einzubetten, ist eben doch nur eine metaphysische Krücke, die dazu dienen soll, unser Unbehagen vor der Ewigkeit einerseits und der Endlichkeit anderseits zu überwinden. Gleiches gilt für die Religion. Den Toten sind alle diese Dinge natürlich egal.
Großmutter hatte es fast geschafft. Das war zu hören. Immer länger wurden die Pausen zwischen den Atemzügen. Man wartete nur noch auf den Tod, sehnte ihn fast herbei. Der innere Abschied war vollzogen, man mochte es nun auch offiziell haben. Großmutter blieb aber noch für einige Minuten. Immer wieder ein tiefes, noch hartes Einatmen. Danach das Abstoßen der verbrauchten Luft. Vater hielt ihre schlaffe Hand. Sie hatte ihm das Leben geschenkt und einmal sogar gerettet. Gegen Ende des Krieges, als täglich die Bomber kamen, nahm Großmutter den Sohn aus der Schule und er musste mit ihr zusammen auf die Arbeit gehen. Dort spielte er auf dem Boden oder las Bücher. Wenn die Sirenen heulten, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder in eines der Erdlöcher, schnell in den Boden gegrabene Unterstände die allenfalls Schutz vor Bombensplittern boten, oder in den großen Bunker auf der anderen Seite der Kreuzung. Als wieder einmal die Sirenen losgehen, schnappt die Großmutter den Jungen, rennt die Treppen herunter und schlüpft in eines der Erdlöcher. Nochmals ertönt das Signal, warnt vor einem Großangriff. Einen Moment zögert sie, dann greift sie den Jungen an der Hand und rennt aus dem Unterstand. Die ersten Bomben fallen schon, als sie den Bunker erreicht. Sie schlägt gegen die Tür, die kurz aufschwingt und die beiden werden hineingesaugt. Drei Stunden bleiben sie dort und spüren wie die Stadt bebt und ächzt. Als es vorbei ist, schlüpfen sie ins Freie, überqueren die Kreuzung und kommen an dem Erdloch vorbei, in dem sie zuvor gesessen hatten. Es ist größer geworden. Ein Trichter, gefüllt mit zerrissenem Holz und Asphalt. Das Bein eines kleinen Jungen liegt am Rande des Trichters, sein Kopf etwas weiter links. Die Großmutter erinnert sich an ihn. Er hatte auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und der Rotz war ihm die Nase herunter gelaufen, sodass Großmutter noch nach einem Taschentuch für ihn suchen wollte, aber da waren dann die Sirenen und sie hatte plötzlich andere Dinge im Kopf.
Nietzsches Gottesverleugnung war eine Abwehrreaktion, die ihn in den Wahnsinn geführt hätte, wäre er es nicht auch so geworden. Ist man einmal mit dem Gottesglauben infiziert, dann gibt es keine Heilung davon. Man wird bis zum Rest seines Lebens versuchen ihn entweder zu beweisen oder zu widerlegen. Loswerden kann man ihn nicht.
Dann starb Großmutter. Nach dem letzten Ausatmen war für einige Sekunden Ruhe. Noch ein lauter und tiefer Seufzer und es war endgültig Schluss. Als hätte man eine Maschine abgeschaltet. Mit der Ruhe brachen die Tränen aus. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Familie hatte dem Tod einen weiteren Tribut gezollt. Keiner dachte in diesem Moment daran, wer der Nächste sein könnte, aber dass es einen Nächsten geben wird, ist gewiss.
„Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe, und der Tag des Todes denn der Tag der Geburt. Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt's zu Herzen.“
(Prediger 7:1,2)
oder
Variationen zu einem Thema
Ein autobiografischer Essay
Ernst Morwitz, ein Freund Stefan Georges, sagte: „Die Toten lächeln, weil sie ein Geheimnis vor uns voraushaben.“ Dies bemerkte er, weil andere Freunde des gerade verstorbenen Dichters dessen Totenantlitz als erhaben und nach Innen lächelnd beschrieben hatten.
Großmutter lächelte nicht, nachdem sie gestorben war. Ihr zahnloser Mund, tief in die Mundhöhle eingesunken, sah aus, als würde sie ihn zusammenpressen. Die Nasenlöcher waren nur noch dünne Schlitze. Man hätte meinen können, ihre Nase sei in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch gewachsen, neben dem Leben, hätte auch das Nasenbein versucht aus dem Körper zu fliehen. Am auffälligsten aber waren ihre Augen. Rund wie Murmeln, die geschlossenen Lider von einer glänzend violetten Farbe, erschienen sie wie Fremdkörper, die man in die leeren Augenhöhlen eingelegt hatte. Das Totengesicht der Großmutter hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es war ein stillgelegter Bahnhof, ein für immer verlassenes Gebäude. Warum hätte sie lächeln sollen wegen eines blöden Geheimnisses, das die Toten überhaupt nicht interessiert? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.
Die meisten Religionen, die ein Weiterleben nach dem Tod lehren, verurteilen den Selbstmord. Als bestünde die Gefahr, dass diejenigen, die an die Unsterblichkeit glauben der Versuchen erliegen könnten, eine Abkürzung zu nehmen. Womöglich waren sich aber auch die Personen, die solche Regeln aufstellten, ihrer Sache nicht ganz sicher. Wie dem auch sei, es ist ein Gebot für Kranke und Unglückliche. Kein gesunder und glücklicher Mensch würde seinem Leben ein Ende setzen wollen, nur weil ihn auf der anderen Seite etwas Besseres erwartet. Und selbst die meisten Kranken und Unglücklichen halten an ihrem Leben fest, klammern sich an jeden Strohhalm, der ihnen eine Stunde, einen Tag oder länger ihre Existenz bewahren hilft. Der Mensch hat ein ihm innewohnendes Gespür dafür, dass nach dem Tod nichts mehr kommt.
Die letzten zwei Tage lag die Großmutter mit geschlossenen Augen im Bett und atmete schnell durch den offen stehenden Mund. Die eingesaugte Luft schabte trocken ihren Hals hinunter. Es sah so aus, als würde sie den Kopf in das Kissen drücken. Kein Wunder, dass die Umstehenden dachten, sie kämpfe gegen den Tod. Einmal beugte sich die Schwiegertochter zu ihr herunter, strich ihr über die Stirn und flüsterte: Lass doch los. Lass doch los!
Aber Großmutter dachte nicht daran. Als sei Ein- und Ausatmen ebenso ein Daseinszweck. Eine Aufgabe, die man zu erfüllen hatte, bis eben auch das nicht mehr ging. Es war schmerzhaft dieses heftige Atmen zu hören, weil man sich vorstellte, dass es für sie schmerzhaft sein musste. Es erinnerte mich an Wanderungen, bei denen man stundenlang bergauf läuft und irgendwann nur noch einen Schritt vor den anderen setzt. Spaß macht das keinen mehr, aber wenn man ankommen will, muss man weiterlaufen. Und wer leben will, muss atmen. Also weiteratmen, auch wenn man dabei Gott verspottet. Oder die Natur. Mindestens einer von beiden will den Tod. Aber das sieht ein Mensch wie Großmutter gar nicht ein. Sechsundneunzig Jahre schenkt man nicht einfach so her. Das Leben schenkt man nicht her. Wer es haben will, der muss es sich nehmen und zwar mit Gewalt. Muss es aus dem wundgeatmeten Hals herausreißen.
Die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ist nicht zu überbrücken. Viele, die sich Christen nennen und an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod glauben, sind ebenso davon überzeugt, dass die Evolution eine Tatsache ist. Man stelle sich das vor: Das Leben entwickelt sich vom Einzeller hinauf bis zum Homo Sapiens. An welchem Punkt kommt die Seele ins Spiel? Welches war das erste Lebewesen, das eine Seele hatte, die nach dem Tod weiterlebte? Woher kam die? Und selbst wenn ein Schöpfer sich der Evolution bedient hätte, dann müsste er zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegt haben, das nächste Geborene bekommt das Geschenk einer Seele. Das ist unlogisch und auch grausam.
Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod ist eine klare Verneinung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Pornografie des Sterbens. Atemzüge, die immer langsamer werden, obwohl sie nichts an Kraft verlieren. Und man steht dumm daneben. Vater war ins Nebenzimmer gegangen. Jetzt wurde er gerufen. Es ginge zu Ende. Aber niemand schrie auf, niemand stellte sich schützend vor die Sterbende. Weil es ja sowieso passiert. Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden. Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, war noch nie ein Mensch gestorben. Was wusste Kain vom Tod? Er kannte ihn nur aus der göttlichen Strafverkündung: Ihr werdet sterben!
Das Wissen ums Sterben hat aus dem Menschen einen Mörder gemacht.
Warum stand nicht der Geist neben Großmutter und macht sie wieder jung und gesund? Jener Geist, der sie, als sie zwölf Jahre alt war und an einer schweren Innenohrentzündung litt, heilte. Es ist die einzige unheimliche Geschichte, die Großmutter jemals erzählte und sie wirkte dabei selbst so erschrocken, dass ich die Begebenheit bis heute für wahr halte.
Meine Urgroßeltern hatten ein Haus in der Nähe von Zwickau. Es war Anfang der zwanziger Jahre. Aufgrund einer Blutvergiftung starb der zweitjüngste Bruder der Großmutter. Ein Bekannter der Familie erzählte ihrer Mutter von einem Medium, das Kontakt zu dem Verstorbenen herstellen könne. Also ging meine Urgroßmutter zu einer dieser Seancen und tatsächlich sprach ein Geist durch das Medium zu ihr und berichtete von ihrem Sohn. Von da an besuchte die Urgroßmutter regelmäßig das Medium. Ihr Mann stand dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber, ließ sich jedoch eines Tages dazu überreden, an einer der Sitzungen teilzunehmen. Als der Geist in das Medium fuhr, war er sehr aufgebracht, da sich jemand im Raum befände, der nicht an Geister glaubte. Der Urgroßvater gab sich zu erkennen. Darauf sagte der Geist zu ihm: „Du hast eine Tochter, die sehr krank ist. Ich werde heute Nacht zu ihr gehen und sie heilen.“.
In jener Nacht erwachte die Großmutter mit dem Gefühl, dass jemand neben ihrem Bett stünde. Sie schlief wieder ein und als sie am Morgen erwachte, waren ihre Ohrenschmerzen verschwunden. Sie kehrten auch nicht wieder, aber von diesem Tag an spukte es in dem Haus. Jede Nacht hörte man Stimmen und Geräusche, als würden schwere Möbel verrückt. Urgroßmutter verlor zeitweise den Verstand und verbrachte mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt. Das war kurz nachdem der jüngste Bruder der Großmutter über Nacht verstarb, ohne dass man hätte sagen können warum. Auffällig war nur gewesen, dass er am Abend zuvor viele Dinge noch einmal machen wollte. Darf ich noch mal diesen Tee haben? hatte er gefragt, oder noch mal jenes Spielzeug? In der Nacht kam er in das Bett der Eltern gekrochen und fragte, ob er noch einmal bei ihnen schlafen dürfe. Am nächsten Tag war er tot.
Das Spuken hörte nicht auf, bis die Familie aus dem Haus auszog.
In einem kurzen Text beschreibt George Orwell eine Hinrichtung, der er während seiner Dienstzeit in Burma beiwohnte. Dem Bericht fehlt auf beunruhigende Weise jedwedes Pathos. Nachdem der Tod des Delinquenten festgestellt ist, wird darüber diskutiert, was es wohl zu essen gäbe. Interessant sind jedoch die Gedanken des Erzählers, während der Verurteilte zum Galgen läuft. Dessen Ruhe beeindruckt Orwell offensichtlich, was ja nichts anders heißt, als dass er diese Gelassenheit gegenüber dem Tod nicht besitzt. Weil ihm bewusst wird, was es heißt, wenn ein Mensch stirbt. Er sagt wörtlich: „Eine Welt geht unter.“ Jeder Tod ist ein Weltuntergang, da es keine zwei Menschen gibt, die die Welt mit den gleichen Augen sehen. Der Tod zerstört einen absolut einzigartigen Blick auf das Leben und einen Geist, der diesen Blick wahrnimmt und als sein Eigentum beansprucht.
Großmutter glaubte an Gott. Seit ihrer Kindheit ging sie regelmäßig in die Kirche. Und da sie sehr musikalisch war, wurde sie schon in sehr jungen Jahren Organistin. Zunächst in einer evangelischen Kirche. Später sprach sie der katholische Pfarrer des Ortes an und fragte, ob sie denn nicht auch in seiner Kirche spielen könne. Die Gemeinde entbehrte schmerzhaft einen guten Organisten. Und außerdem müsste er sie warnen. Der protestantische Kollege wäre dafür bekannt, es mit der ehelichen Treue nicht so genau zu nehmen. Großmutter akzeptierte sowohl die Warnung als auch das Angebot und radelte sonntags zwischen zwei Kirchen hin und her. Am Ende war es allerdings der katholische Hirte, der versuchte sie zu verführen.
Die ersten Toten die ich sah, waren Leichenhaufen. Fotos in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Großmutter hatte mich dort mit hingenommen. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Am meisten beidruckte mich die so gut leserliche Aufschrift „Duschbad“ über dem Eingang zur Gaskammer. Ich wusste genau, welchem Zweck diese Anlagen dienen sollten. Der Hohn der Worte war mir bewusst. Großmutter erzählte, dass sie oftmals den Gestank der verbrannten Leichen riechen konnten. Und wie der behinderte Sohn einer Bekannten abgeholt wurde, und seine Mutter für ihn extra einen Apfelkuchen gebacken hatte, um ihm etwas mitzugeben, was er sehr mochte. Der Junge kam nie wieder. Großmutter erzählte auch, dass sie, als schon die amerikanischen Panzer in der Stadt waren, noch immer an Hitlers Wunderwaffe geglaubt hatte.
Das Gehirn bereitet den Menschen aufs Sterben vor, indem es vergisst. Die Vorstellung von Zeit ist ein Konzept von Sterblichen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen. Die Zeit ist ein Pfeil, der schnell vorwärts schießt, daran angebunden ein unendlich großer Sack, der sekündlich mit Vergessen gefüllt wird. Die Zeit ist ein Grab. Großmutters Geschichten werden mit mir sterben und damit in den Sack gefüllt. Ich werde in den Sack gefüllt. Es ist lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Aber alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard)
Vor einigen Jahren gingen Vater und ich die Straße entlang, in der er und Großmutter während der Kriegszeit wohnten. Er zeigte mir die Stelle, wo er auf eine Glasscherbe getreten war und sich dabei den großen Fußzeh abgetrennt hatte. „Und da hinten“, sagte er, „da wohnte der Soundso. Den habe ich während des Krieges immer beneidet und tue es im Grunde heute noch. Der hatte sich einen Unterstand in seinem Garten gebaut und jedes Mal, wenn die Sirenen einen Luftangriff ankündigten, ging er dorthin. Von da aus konnte er genau beobachten wohin die Bomben fielen. Wir saßen derweil im Keller, hatten Angst und wussten überhaupt nichts.“
Es ist beeindruckend zu erfahren, dass der eigene Vater einen Menschen heute noch beneidet, der sechzig Jahre zuvor nicht soviel Angst zu haben brauchte.
Eine Mutter sieht ihr Kind sterben. Leukämie. Die Ärzte haben getan was sie können und das war in diesem Fall nicht genug. Das Leben schleicht sich aus dem jungen Körper. Das Kind stirbt zu Hause, so will es die Mutter. Es erscheint ihr richtig, auch wenn sie weiß, dass sie damit die Wohnung und das Haus für alle Zeit vergiften wird. Es wird ein Totenhaus werden, mit einer Totenwohnung. Darin ein Totenzimmer. Auch das Kind lächelt nicht, als es gestorben ist, sondern sieht seltsam alt aus und erschöpft.
Einige Straßen weiter klingelt ein Prediger einer so genannten Sekte an einem Haus. Ein älterer Herr öffnet die Tür. Der Prediger erzählt vom Paradies und vom ewigen Leben. Der Mann meint daraufhin, dass ewig zu leben wohl doch langweilig wäre. Und alles so friedlich, nein, es brauche das Böse, um das Gute zu schätzen. Es brauche den Tod, damit die Lebenden wissen, was sie haben.
Der erste wirkliche Tote, den ich sah, war Großvater. Ich hatte einige Wochen bei meinen Großeltern verbracht und nun wollten wir gemeinsam mit der Bahn zu den Eltern fahren. Großvater ließ Plätze reservieren. Im letzten Wagon, weil es da am ruhigsten war und niemand in den Gängen stand. Als wir auf den Bahnsteig kamen, stand der Zug schon da und wir stiegen ein. Großvater las Zeitung und Großmutter stickte den armen Poeten von Spitzweg. Ich beobachtet sie dabei und schaute mir immer wieder das Gedränge auf dem Bahnsteig an. Schließlich hörte ich den Pfiff des Schaffners. Ein kurzes Rumpeln. Die Leute draußen winkten. Aber wir bewegten uns nicht. Großvater legte die Zeitung weg, schob das Fenster herunter und sah hinaus. Dann fing er an zu schreien. Ich weiß nicht mehr genau was, aber es dauerte nur einige Sekunden, da ließ er sich wieder auf den Sitz fallen, schaute meine Großmutter an und sagte: „Die haben den Wagon nicht angehängt.“ Großmutter legte den armen Poeten neben sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. „Das gibt es doch nicht“, sagte sie, „die können doch nicht ohne uns fahren.“ Großvater aber flüsterte nur noch: „Ich bin müde“, und im gleichen Moment fiel sein Kopf nach hinten und er war tot.
Borges glaubte nicht an die Unsterblichkeit. Nicht an eine persönliche, wohl aber an eine, wie er es nennt, kosmische. Von allem was man getan, gesagt und auch geschrieben hat, wird etwas bleiben, und sei es nur eine vage Erinnerung. Im Grunde aber ist diese Unsterblichkeit nichts anderes, als der Glaube an einen ewigen Kreislauf von Wiederholungen. Hatte ein Mensch vor tausenden von Jahren das tosende Meer bestaunt, und stehe ich heute genauso staunend davor, dann bin ich auch jener schon längst vergessene Mensch, da in mir ein Gefühl wohnt, das einst auch ihn erfüllte. Wenn ich Shakespeare lese, dann bin ich Shakespeare, weil seine Worte durch mich hindurchgehen. Lese ich Goethe, bin ich Goethe usw. Diese Unendlichkeit bringt keinen Trost für den, der sich eine individuelle Unsterblichkeit ersehnt. Nicht jeder denkt wie der Argentinier, der den Gedanken grauenhaft fand, für immer Borges zu sein. Wahrscheinlich sogar die wenigsten. Vielleicht hat er in dem Moment seines Todes auch anders gedacht und sich gewünscht, doch noch weiter Borges sein zu können. Seine Existenz in ein philosophisches Konzept einzubetten, ist eben doch nur eine metaphysische Krücke, die dazu dienen soll, unser Unbehagen vor der Ewigkeit einerseits und der Endlichkeit anderseits zu überwinden. Gleiches gilt für die Religion. Den Toten sind alle diese Dinge natürlich egal.
Großmutter hatte es fast geschafft. Das war zu hören. Immer länger wurden die Pausen zwischen den Atemzügen. Man wartete nur noch auf den Tod, sehnte ihn fast herbei. Der innere Abschied war vollzogen, man mochte es nun auch offiziell haben. Großmutter blieb aber noch für einige Minuten. Immer wieder ein tiefes, noch hartes Einatmen. Danach das Abstoßen der verbrauchten Luft. Vater hielt ihre schlaffe Hand. Sie hatte ihm das Leben geschenkt und einmal sogar gerettet. Gegen Ende des Krieges, als täglich die Bomber kamen, nahm Großmutter den Sohn aus der Schule und er musste mit ihr zusammen auf die Arbeit gehen. Dort spielte er auf dem Boden oder las Bücher. Wenn die Sirenen heulten, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder in eines der Erdlöcher, schnell in den Boden gegrabene Unterstände die allenfalls Schutz vor Bombensplittern boten, oder in den großen Bunker auf der anderen Seite der Kreuzung. Als wieder einmal die Sirenen losgehen, schnappt die Großmutter den Jungen, rennt die Treppen herunter und schlüpft in eines der Erdlöcher. Nochmals ertönt das Signal, warnt vor einem Großangriff. Einen Moment zögert sie, dann greift sie den Jungen an der Hand und rennt aus dem Unterstand. Die ersten Bomben fallen schon, als sie den Bunker erreicht. Sie schlägt gegen die Tür, die kurz aufschwingt und die beiden werden hineingesaugt. Drei Stunden bleiben sie dort und spüren wie die Stadt bebt und ächzt. Als es vorbei ist, schlüpfen sie ins Freie, überqueren die Kreuzung und kommen an dem Erdloch vorbei, in dem sie zuvor gesessen hatten. Es ist größer geworden. Ein Trichter, gefüllt mit zerrissenem Holz und Asphalt. Das Bein eines kleinen Jungen liegt am Rande des Trichters, sein Kopf etwas weiter links. Die Großmutter erinnert sich an ihn. Er hatte auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und der Rotz war ihm die Nase herunter gelaufen, sodass Großmutter noch nach einem Taschentuch für ihn suchen wollte, aber da waren dann die Sirenen und sie hatte plötzlich andere Dinge im Kopf.
Nietzsches Gottesverleugnung war eine Abwehrreaktion, die ihn in den Wahnsinn geführt hätte, wäre er es nicht auch so geworden. Ist man einmal mit dem Gottesglauben infiziert, dann gibt es keine Heilung davon. Man wird bis zum Rest seines Lebens versuchen ihn entweder zu beweisen oder zu widerlegen. Loswerden kann man ihn nicht.
Dann starb Großmutter. Nach dem letzten Ausatmen war für einige Sekunden Ruhe. Noch ein lauter und tiefer Seufzer und es war endgültig Schluss. Als hätte man eine Maschine abgeschaltet. Mit der Ruhe brachen die Tränen aus. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Familie hatte dem Tod einen weiteren Tribut gezollt. Keiner dachte in diesem Moment daran, wer der Nächste sein könnte, aber dass es einen Nächsten geben wird, ist gewiss.
„Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe, und der Tag des Todes denn der Tag der Geburt. Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt's zu Herzen.“
(Prediger 7:1,2)