Pig

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 10.08.2010, 14:43

Pig


Man nennt mich Pig. Könnten Sie mich sehen, würden Sie verstehen warum. Bei einem Gewicht von mehr als 500 Pfund, steht ein anderes Tier für einen Spitznamen nicht mehr zur Verfügung. Aber auch Pig hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt. Der einzige, der noch mit mir spricht, ist der junge Armenier von der Health Care. Und der nennt mich immer brav Mister Templeton. Diese Jungs werden verdammt schlecht bezahlt. Und das, was sie bekommen, erhalten sie weniger fürs Pflegen, als dafür, dass sie immer freundlich sein müssen. Bei mir ist ja noch nicht so viel zu tun. Einmal die Bude durchsehen, Fußnägelschneiden ab und zu oder das ein oder andere Ekzem einschmieren. Ich weiß gar nicht, wie der Junge heißt. Ich nenne ihn Sansibar, und damit ist er offensichtlich zufrieden.

Hemingway hat einmal richtigerweise gesagt, Trinken sei eine Religion. Oder war es Pollock? Egal. Wenn dem so ist, dann ist Essen auch eine Religion. Eine, die wesentlich mehr Hingabe verlangt, sind doch die ästhetischen Opfer viel früher und viel offensichtlicher zu erbringen.
Die hundert Pfund überschritt ich mit sechs, die zweihundert mit vierzehn Jahren. Es war, als wäre man in eine Sekte hineingeboren. Es gab keine unbeantworteten Fragen. Und jedes Problem schien sich darin zu begründen, dass es auf die eine oder andere Weise zu einem Engpass in der Nahrungsaufnahme gekommen war. Man mag eine solche Engstirnigkeit verurteilen. Paradoxerweise entspricht es aber der Wahrheit. Am Ende läuft alles auf das Essen hinaus, daran glaube ich fest.
Nun, ich geh mit dieser Erkenntnis nicht hausieren. Dennoch es ist meine Überzeugung, dass das Essen einen hinreichenden Lebensinhalt bieten kann. Hinreichend genug, um eventuelle negative Folgen in Kauf zu nehmen. Wie im Rennsport zum Beispiel. Oder beim Boxen. Es ist immer der Geist, der die Zerstörung des Körpers billigend in Kauf nimmt. Mein Körper will bestimmt keine fünfzehn Hamburger zum Frühstück haben. Der gäbe sich auch mit ein paar Scheiben Matzen zufrieden. Oder mit ein oder zwei Äpfeln. Ich bin derjenige, der keine Äpfel oder kein ungesäuertes Brot haben will. Ich bin es, der bestimmt, dass die Mayonnaise auf einem Sandwich mindestens einen Zentimeter dick aufgetragen werden muss. Ich ertränke dasselbe Sandwich unter einen halben Liter Ketchup.
Maßloses Essen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern davon, dass man seinen Körper zu einem gehorsamen Hund macht. Man bezwingt dessen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Mäßigkeit und macht ihn zu einem Gefäß der Gier.
Und das ist gut so, möchte ich sagen.
Witzigerweise ist die erste Frage, die sich vielen Menschen bei meinem Anblick stellen, ob ich es denn noch tun kann. Ich kann Sie beruhigen. Noch kann ich, auch wenn mein Arzt (die einzige Person, die sich außer dem Armenier noch um mich kümmert) mir prophezeit hat, dass damit in den nächsten Monaten endgültig Schluss sei. Verfettung der Drüsen etc. Schwellkörperlähmung infolge von kontinuierlich ansteigendem Cholesteringehalt im Blut. Und und und.
Meinen ersten Sex hatte ich mit einem Pirellikalender, den mein Vater für fünfhundert Dollar bei einer Auktion in Las Vegas ersteigert hatte. Seit ich dreizehn bin, kann ich meinen Schwanz nur noch im Spiegel sehen. Na und? Sex ist die am meisten überschätzte Sache der Welt. Ich habe mir Nutten kommen lassen. Manchmal sogar zwei oder drei zugleich und sie sind über meinen fetten Leib hergefallen, als wären meine kalkweißen Schenkel die Pforten zum Paradies. Sie haben ihre Nasen in meine Fleischfalten gepresst und an mir herumgesaugt und gelutscht. Dennoch bereitet mir ein Tiramisu weit mehr Vergnügen, ja selbst ein Viertelpfünder mit Käse bringt mein Blut eher in Wallung, als ein nackter Frauen- oder Männerarsch, wie jung er auch sei.
Die Völlerei ist der Sieg des Willens über das Bedürfnis. Und weit intensiver in seinem Ausleben, als jedwedes sexuelle Verlangen. Wie oft kann man innerhalb von vierundzwanzig Stunden Sex haben? Drei Mal, vier Mal, fünf Mal vielleicht. Essen können sie den ganzen Tag. Und das Schöne dabei: Das Essen alleine hat nichts von der Lächerlichkeit der Selbstbefriedigung, nichts von jener erbärmlichen Halbheit der Selbststimulierung, die nur dadurch funktioniert, dass man sich eine weitere Person vorstellt. Denn das andächtige Fressen, wie auch das Trinken, ist eine gewollt einsame Tätigkeit. Es ist kein Ersatz, es ist genau das, was man möchte. Der Unterschied zwischen dem Duft eines guten Essens und Musik ist der, dass Musik niemals die Bedürfnisse befriedigen kann, die sie weckt. Aber der Bissen im Mund erfüllt jenes Versprechen, welches der Duft bereits gemacht hat.

Ob ich Angst vor dem Tod habe? Natürlich nicht! Angst vor dem Tod haben nur diejenigen, die sich Diäten verordnen lassen und sie dann durchhalten. Schließlich ist der Tod das finale Abspecken. Damit muss man ja nicht schon vorzeitig beginnen. Und so, wie sich mein Körper bei vielen Dingen endlos Zeit lässt, sei es das Scheißen, das Pissen oder das Einschlafen, ja mit der gleichen Mühsal, mit der ich aufstehe und ein paar Schritte umhergehe, mit der ich mich in die Badewanne hinein und wieder hinauswuchte, mit der gleichen Gemächlichkeit, mit der alle meine Muskeln auf zerebrale Befehle reagieren, wird sich auch mein Körper an das Sterben machen. Da muss ich nun wirklich keine Befürchtungen haben. Zumal sich mein Schmerzempfinden auf angenehme zehn Prozent des Normalen eingependelt hat. Da könnte sich sogar meine Bauchspeicheldrüse verflüssigen, ohne dass es mir den Appetit verschlüge.
Wenn es noch etwas gäbe, für das ich mich stark machen würde, dann für mehr gesellschaftliche Akzeptanz von Fettleibigkeit. Ich wünsche mir, die Leute sähen ein, dass es sich hier nicht um eine Schwäche, sondern eine Stärke handelt. Und mehr noch. Um eine Art Kunst. Man formt den eigenen Körper zu etwas, das einerseits dem eigenen Wesen entspricht, unberührt von den Strömungen der Mode, gleichzeitig aber auch eine Abstraktion dessen darstellt, was weithin als akzeptabel gilt. So bereite ich mein Essen wie der Maler die Farbe anrührt und der Schriftsteller nach den richtigen Worten sucht. Bei den einen steht am Ende das Bild oder das Buch. Bei mir ist es der Körper als amorpher Kontrapunkt zum allgemeinen ästhetischen Empfinden. Und wenn ich in einigen Monaten das Stadium der absoluten Unbeweglichkeit erreicht habe, wäre mein Platz eher der in einer Kunstausstellung, als in einem Krankenhaus oder Pflegeheim.
Zugegeben, dies sind Träume. Aber eines Tages wird es vielleicht so sein. Unsere Lobby ist stark und wächst mit jedem Jahr, das der Wohlstand noch unter uns zu weilen gedenkt.
Was uns zustößt, enthält kein Urteil über uns, habe ich mal gelesen. Das mag stimmen. Aber unser Aussehen provoziert jede Menge Beurteilungen über das, was wir sind, was wir waren oder sein werden. Wenn die Leute mich anschauen, will ich, dass sie urteilen. Sie sollen den unvermeidlichen Rückschluss ziehen, von der Form zum Wesen, von der Gestalt zum Charakter. Und die Menschen tun es. Ich habe es oft gesehen. Niemanden treffen ehrlichere Blicke als einen fettleibigen Menschen.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.08.2010, 13:31

Lieber Sam,
Du weißt, wie gern ich Rollenprosa schreibe, und ebenso gern lese ich sie. Um Deine Idee, Dich in einen Dicken hineinzuversetzen, wohl gar in einen dieser Kolosse, die zu sehen fast beängstigend wirkt, möchte ich Dich beinahe beneiden. Mit der Ausführung bin ich nicht ganz einverstanden. Ich glaube, Du bist in die richtige Richtung gegangen – aber ich wäre weiter gegangen. Ich will gleich zum Kern kommen: Ich glaube, dass die Urteilslosigkeit, die Deinem Erzähler PIG hier bescheinigt wird, bei ihm bestehen mag, in seiner Charakterbeschreibung durch Dich spiegelt sich jedoch das negative Allgemeinurteil gegenüber den Adipösen wider, das Du eigentlich gerade unterlaufen möchtest. Nach meiner Erfahrung können Kolosse außerordentlich dünnhäutig und zartbesaitet sein. Dein Pig aber zeigt sich im Umgang mit seiner Sexualität als recht roh und ruppig. Das gefällt mir nicht. Ich hätte es vorgezogen, wenn Du ihn verzweifelt verliebt in eine durchaus wohlgestaltete Frau gezeichnet hättest, bei der er keinerlei Chancen hat. Vielleicht hat er ihretwegen versucht, abzunehmen – aber es hat nichts genützt. Da hat er sich in seiner Verzweiflung erst recht dick gegessen. So herum könnte ein Schuh draus werden – meine ich, aber das sage ich als Autor und Kollege – der eben einen anderen „approach“ zum Thema hätte oder suchen würde. Auf seine Weise ist Dein Text in sich geschlossen und okay. Aber er stimmt latent eben doch – ich würde fast sagen: unabsichtlich! - in die Diffamierung der Fetten ein, auch indem zu deutlich wird, dass hier Not geradezu gewaltsam in Tugend umgelogen wird.
In den Staaten kämpft die NAAFA ihren einsamen Kampf um die Anerkennung von „all sizes“. Dass daraus eine „fat pride“ Bewegung zu werden scheint, beschreibt dieser Artikel. Seit Gabourey Sidibe in „Precious“ eine mitreißend mutige und tapfere Mutter und Frau gespielt hat, hat sich das Klima den Dicken gegenüber für meine Begriffe nicht unwesentlich gewandelt ... Eine Vorläuferin war die von allen geliebte kolossale Mutter Bonnie in „Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa“ 1993. Auf dieser Linie müsste ein solches Stück für mich liegen.
Soviel dazu.
Herzlich grüßt
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.08.2010, 14:06

Hallo Sam,

gibt es so etwas wie eine grässliche Ästhetik, der in meinen Augen jegliche Sinnlichkeit fehlt? So kommt dein Text bei mir an, evoziert durch die peniblen Beschreibungen (Sex, Nutten, etc.). Pig stellt sein "Lebensmotto", sein Leben als fressendes Monstrum als etwas Absolutes, als etwas Gewolltes dar, das keinen Widerspruch zulässt. Im Gegenteil, er stellt es als das Beste dar, was es für ihn gibt, das Einzige, was er für wahr(haftig) hält. Und bei mir, als Rezipient, wird kein Bedauern provoziert, sondern Fassungslosigkeit, wie jemand so leben und dies auch noch preisen kann.
Ja, sehr authentisch und sehr bildhaft °grusel° geschrieben.

Übrigens: dein Text passt hervorragend zu unserem derzeitigen Monatsthema "Körper".
Wenn ich verschieben soll, sag mir Bescheid, ok?

Saludos
Gabriella

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 13.08.2010, 18:21

Lieber Sam, wie immer war es ein Lesevergnügenn deine ausgefeilte Geschichte über den Triumph des Geistes zu lesen. Es ist dir gelungen, beim Leser eine Erwartungshaltung zu schaffen und ihn durchgehend in Spannung zu halten. Allerdings - die Leserin ist am Ende konsterniert,

Woran liegt es, fragt sie sich, dass etwas "falsch" scheint?

Ist es das Thema selbst - gewiss nicht, denn trotz aller Medienresonanz zum Körper, der geformt, geschönt, erhalten werden muss - dieser heiligen Reliquie, diesem Schrein des modernen Menschseins, ist dein Ansatz schräg genug, um sich von den Banalitäten banger Elternphrasen abzuheben.

Ist es der Charakter des Fettsüchtigen? Nein, denn gerade der egoistische gleichgültige Umgangston des Ich zu seinem Ich-Leib gehört zum Besten des Textes.

Es ist der Schatten des Erzählers, der zwar kaum vorscheint, aber doch die Fäden der Marionette sichtbar macht - ein Teil der Authentizität bricht ein: er mag schon Nutten um sich haben, dann will ich aber wissen, dass er reich ist, und woher er das Geld hat. Aus ihm eine Figur der Mafia machen (*lach*). Man kann die Geschichte mit dem gehorsamen Hund nicht wirklich akzeptieren. Mir scheint, dass der Körper will, will, und dann erbricht, was er verschlang . Und das Ende mit dem ehrlichen Blicken führt eine Ebene ein, die so nicht vorbereitet genug ist.

Der Erzähler schreckt mMn nach vor der absoluten Antipathie, Soziopathie des Protagonisten zurück ... das gilt aber nur für mich ...

Wie gesagt, nur dieser Punkt scheint mir eine Diskussion zu entfachen ... in allen anderen Bereichen: dein Stil ist bewundernswert

liebe Grüße
Renée
PS Wie Quoth eingehend schrieb, wird das fettsüchtige, fettwillige "ich" spürbar verurteilt ...Aber ich finde es schwierig, Stellen zu finden, die das belegen...
Zuletzt geändert von Renée Lomris am 14.08.2010, 00:50, insgesamt 2-mal geändert.

Klara
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Beitragvon Klara » 13.08.2010, 19:42

DAs ist ein guter Text - einverstanden.

Aber ich glaube nicht, dass Pig echt ist.

Pig ist ein Kunstprodukt wie das Essen, das er in sich stopft (weit entfernt von "Lebensmittel"). Pig ist so sehr ein Kunstprodukt, dass er nicht mal Ekel erregt. Er bleibt ein Bild. (FÜr mich.) Es findet kein tatsächliches Einfühlen (des Autors in die Figur) statt - eigentlich auch sonst kein Gefühl. Die totale Veräußerung. Die Selbst-Objektivierung. Im Grunde ein Widerspruch in sich: Das Text-Sprechen von "sich" in diesem Fall. Denn dieses Ich gibt es nicht außer als Aufnahmegerät einer Dekadenz-Präsentation, die sich triumphierend gibt.

Ich glaube dem Ich-Erzähler nicht - weder objektiv noch subjektiv: Es ist nicht der Wille, der hier siegt- sondern die Unfähigkeit, das Richtige, Schöne, wirklich Befriedigende zu wollen. (Oder ist es wie mit den Trauben: Man bekommt es nicht?) Das Richtige, Gute wäre ja ein Streben, kein Sein. Kein Fressen. Kein Produkt. Nicht fertig. Nicht im Supermarkt zu kaufen. Totale (sozusagen diktatorische) Bedürfnisbefriedigung wird behauptet - aber ich glaube nicht dran. Das Essen ist nicht so neutral, es weckt, eben wie die Musik, immer andere Bedürfnisse, kompensatorisch: das nach Liebe, GEborgenheit, Mama, Papa, Geschwistern, Gemeinsamkeit. Essen ist nicht wertfrei, und kann auch von einem Pig nicht a-sozial wahrgenommen werden. So piggy ist kein Schwein. Deshalb: ist der Text ein Kunstprodukt, eine Studie, ein Versuch... ein Schreibtest... - ferner könnte ein Text von einem Pig, einem Fresser, glaube ich, nicht sein.

Pig redet sich - und seinen Lesern - erfolgreich ein, dass sein Zustand ein gewählter sei, ein frei-williger, als gebe es keine WElt um ihn herum als den abstrakten "Wohlstand", keine Eltern, die ihn überfüttert haben, keine Leere, die er zu stopfen versucht mit Essen... and-so-on.

Die völlige Abwesenheit von psychologischer Deutung ist die Stärke des TExtes. Und doch lahmt er dadurch. Er lässt nichts. Offen. Übrig. Nicht mal Traurigkeit. Da frisst sich jemand tot und tut so, als wolle er das. Punkt.

Ich schätze, das wird "der Sache" nicht gerecht.

Die Erzählhaltung, die den amerikanischen maßlos Übergewichtigen zur Grundlage hat (die Diktion lehnt sich an die der amerikanischen Filme an und wird ja auch durch "PIG" überdeutlich), weist daraufhin, wie überfressen auch wir, Europäer, von der US-amerikanischen Flachheit sind. Da muss man dann den ganzen Mist fressen und sich überlegen geben - und so tun, als hätte man die Wahl. Hat man sie?

Ich weiß nicht...

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Beitragvon Pjotr » 13.08.2010, 23:29

Was Pig da erzählt, kann ja durchaus "Show" sein. Vielleicht denkt er ja tatsächlich an Liebe und all das schöne usw. Das widerspricht nicht notwendig dem Umstand, dass seine Erscheinung, seine Stimme, seine Art zu reden, im Kopf manchen Lesers sehr echt wirkt. Man kann ja auch einem Lügenbold literarisch Leben einhauchen, so dass er, als Gestalt, echt wirkt, und seine Lügen Lügen bleiben.

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Beitragvon Zakkinen » 14.08.2010, 00:40

Hallo Sam,

ganz kurz, und ich habe auch die Vorkommentare nicht alle gelesen.

Wertungslos finde ich den Text nicht. Es kommen durchaus genügend Hinweise auf "das Richtige". Ich bin dennoch ganz froh, dass Du nicht der von Quoth vorgeschlagenen Linie folgst und den zur Zeit korrekten Ton anschlägst.

Mir ist der Text noch zu konstruiert. Es klingt noch zu viel von der Botschaft durch, um wirklich authentisch zu wirken.

Grüße
Henkki

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 14.08.2010, 01:01

Hallo ---

Warum das Ich eines Fettsüchtigen als Ausgangspunkt einer Aussage, und welcher Aussage? Mir ginge es dann nicht, und ich vermute, Sam, dir auch nicht, um eine verständnisheischende Ausleuchtung eines gequälten Menschen, der konsequenterweise nun sich selbst (zumindest seinen Leib) quält. Ich werde versuchen einen Text aus "microfictions" von Regis Jauffret zu scannen und vorzustellen - wenn das möglich ist ... vielleicht von Berlin aus ... Er schreibt kurze Texte (auf etwa 600 Seiten, also etwa 350 kurze Fiktionen) und einige handeln von adiposen ...

Niko

Beitragvon Niko » 14.08.2010, 12:44

die kraft deiner sprache, sam, finde ich unglaublich faszinierend. und ebenso faszinierend finde ich dein eintauchen in die gedankenwelt eines fettleibigen. das gespür für motivationen, das sich-schönreden eines zustandes, der ein leidensweg ist. und der scheinbar glückseligkeit in sich birgt.
ich habe hie und da eine ahnung, was menschen mitmachen, die sich außerhalb der norm bewegen. so sie sich noch bewegen können.
zu wenig lese ich prosa, als fundiert stellen auseinanderdröseln zu können. dies ist nur mein leseeindruck. und ich bin fasziniert von dem besonderen zauber deines schreibstils.

liebe grüße: Niko

Rala

Beitragvon Rala » 14.08.2010, 21:47

Hallo Sam,

statt eines Hungerkünstlers also mal ein Fresskünstler. Einer, der vermutlich frühkindliche Defizite hinsichtlich zwischenmenschlichen Beziehungen durch etwas kompensiert, was er voll unter Kontrolle hat, durch die Konzentration auf Bedürfnisse mit 100% Befriedigungsgarantie. So verstehe ich ihn jedenfalls und so funktioniert der Text für mich auch, auch der Ton passt für mich. Also, gut gemacht!

Liebe Grüße,
Rala

Sam

Beitragvon Sam » 15.08.2010, 17:16

Hallo Zusammen,

vielen dank für eure Kommentare und die unterschiedlichen Ansichten, Meinungen, Bedenken, Kritikpunkte und Lob den Text betreffend. Das ist alles sehr interessant zu lesen.

Und jetzt mal der Reihe nach:


Quoth,

dem, dass der Text meine negative Meinung zu Fettleibigen widerspiegelt, möchte ich gerne widersprechen, da ich eine solche nicht habe. Gut, ich möchte keine 250 Kilo wiegen, aber wenn ich eine solch gewichtige Person sehe, denke ich nicht automatisch, da kommt ein selbstbeherschungsloser Fettsack, dessen Krankenkosten auch aus meinem Geldbeutel bezahlt werden. Im Gegenteil. Meine erste Reaktion ist meist die, dass ich denke, dieser Mensch ist vermutlich krank und kann gar nichts dafür, dass er so übergewichtig ist.

Dagegen steht natürlich das negative Allgemeinurteil, dessen ich mir durchaus bewusst bin. Nur unterwandern wollte ich es nicht. Dazu hätte es einen Text bedurft, der das Problem ernst nimmt, was meiner allerdings nicht tut. Einzig das Ende könnte man dahin lesen. Nur ging es mir nicht um eine Auseinadersetzung damit, wie Dicke nun wahrgenommen werden, sondern ich sehe es, im Hinblick auf Pigs Selbstwahrnehmung und Selbstverständlichkeit als konsequent an, auch diesen Apekt anzusprechen.

Du sagt, der Texte würde - unabsichtlich - dann doch in die Diffamierung von Fetten mit einstimmen. Ich hoffe, du verzeihst, wenn ich sage, dass dies auf deine Version (Pig verliebt sich in gutaussehende Frau, will abnehmen, hat aber trotzdem keine Chancen und fängt dann an wieder zu fressen.) um vieles mehr zutrifft. Er geht nämlich zunächst einmal davon aus, der Dicke will gar nicht dick sein, sondern leidet darunter, möchte gerne schlank und gutaussehend sein, um ein gewissen Grad von Akzeptanz in der Welt der Schanken und Gesunden zu finden. Gelingt das nicht, wird er von seinen eigenen Schwächen wieder übermannt und gibt sich in seiner Völlerei selbst auf.

In einem Satz hast du allerdings Recht: Hier wird Not zu Tugend umgelogen. Wobei der Begriff Not eigentlich in Anführungszeichen zu setzen ist, weil er wiederum suggeriert, ein Fettleibiger würde nur Not erleiden. Dem mag vielleicht oftmals so sein, grundsätzlich annehmen kann man es aber nicht.

Danke für die Links. Sie sind sehr aufschlussreich, wenn man sich mit dem Thema Dicksein und Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt. Aber wie schon gesagt, darum ging es mir nicht.
Wobei mir jetzt beim Schreiben der Gedanke kommt, man sollte mal einen Essay schreiben über Fettleibige in der Literatur. Aber vielleicht gibt es das ja schon.



Gabriella,

das Absolute, Widerspruchslose, welches du in der Geschichte findest, genau da wollte ich auch hin. Dass es sich hier um einen Dicken handelt, ist ja eher Zufall (bei Getrud erwähnte ich dies schon).

Wenn du den Text verschieben willst, kannst du es tun. Meinetwegen kann er aber auch hier stehen bleiben.



Renée,

inwieweit die Authentizität nun wirklich gegeben ist, dass kann der Leser wohl nur für sich selbst entscheiden. Als Beispielfall, an dem man das Problem der Fettleibigkeit diskutieren könnte, taugt Pig natürlich überhaupt nicht. Die Authentizität muss sich, meiner Meinung nach, aus dem Text heraus ergeben. Die Frage war für mich also nicht, wieviel von Pig ist typisch für einen Fettleibigen Menschen, sondern wie ist der Charakter darzustellen, dass seine Absolutheit, sein grenzenloses Selbstverständnis glaubhaft wird. Das führt natürlich auch zu der Frage, wieiviel "Hintergrund" man der Figur gibt. Wieviel will man erklären, was will man einfach als gegeben darstellen. Bei Pig erschien mir ein sehr spärlicher, nur an bestimmten Stellen angedeuteter Hintergrund am passendsten. In der eigenen Vergangenheit wühlen meist nur Menschen, die hadern oder zweifeln. Pig aber hadert nicht, er glaubt, ist überzeugt, lebt in seinem gewichtigen Jetzt.

Darüber, ob der letzte Satz mit den ehrlichen Blicken eine andere Ebene einführt, habe ich lange nachgedacht (Quoth erwähnte ja ähnliches). Ich persönlich kann es nicht erkennen, aber ich akzeptiere natürlich, wenn erfahrene Leser das so sehen. Pig ist ja nicht so soziopathisch, als dass er nicht registriert, wie andere ihn sehen. Deswegen auch die Hinweis auf Sex und ob er es noch tun kann. Für ihn ist das aber ein Sprungbrett, um zu dem für ihn Wichtigen zu kommen. Später plädiert er für mehr gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Fettleibigen. Also ist ihm die mangelnde Akzeptanz durchaus bewusst. Wobei bei ihm Akzeptanz bedeutet, die Überlegenheit der Fettleibigen anzuerkennen. Wenn er also möchte, dass die anderen über ihn urteilen, so wünscht er kein Mitleid, sondern Bewunderung. Aber er weiß auch, dass die Urteile ganz anders ausfallen. Für mich heißt der letzte Satz nichts anderes als: Ich durchschaue sie alle.

Ist es im Text also wirklich so, dass die dargestellte Person unterschwellig als vom Autor verurteilt wahrgenommen wird, dann muss ich mir das ankreiden lassen, weil es so nicht gewollt war und ich müsste mir eingestehen, dass der Text in dieser Hinsicht misslungen ist.

Nach Regis Jauffret muss ich mal googlen. Der Name sagt mir leider gar nichts.



Klara,

du hast natürlich Recht. Pig ist nicht echt. Oben schrieb ich schon, dass diese Figur nicht taugt, um eine Diskussion über die Sache, wie du es nennst, anzustoßen. Darum wird er ihr auch nicht gerecht. Pig kann nur in dem Text selbst echt sein, nicht im Abgleich mit einer "dicken" Wirklichkeit. Somit stimmt es auch, dass von meiner Seite nicht die Einfühlung in einen dicken Menschen stattgefunden hat (was notwendig gewesen wäre, hätte ich die Geschichte so angelegt, wie Quoth es vorgeschlagen hat). Die versuchte Einfühlung meinerseits war die in einen persönlichen, ja körperlichen Absolutismus. Dekadenz (auch so ein wertendes Wort)-Präsentation, die sich triumphierend gibt, das trifft es im Kern sehr gut.
Interessant finde ich, wie du den Willen Pigs umdefinierst in Unfähigkeit. Das ist, glaube ich, eine völlig normale Reaktion, die, könnte ich den Text völlig unvoreingenommen lesen, wohl auch die Meine wäre. Aber gerade deshalb fand ich es so reizvoll, den Text genau so zu schreiben, Pig eben genau so darzustellen, als wäre sein Wille wirklich sein Wille. Eben keine Eltern, die in vollgestopft haben, keine Leere, die es vollzufressen gilt, sondern der nackte Wunsch, es einfach so zu tun. Völlige Abwesendheit von psychologischer Deutung gibt es zwar nicht, aber da ist keine, die Pigs Position erschüttern könnte. Im Übrigen habe ich Pig durchaus bewusst nicht als Person dargestellt, die übers Fressen nicht hinausdenken kann. Ich hoffe, dass er in der Art, wie er hier auftritt und auch in dem, was er sagt, klar wird, dass es sich durchaus um eine wenigstens nicht unintelligente Person handelt.

Das Amerikanische in dem Text rührt, wie ich schon Gertrud erklärte, eigentlich nur davon, dass mir die Idee zu dieser Geschichte eben da kam, am Flughafen von Newark, nach einem Jahr unter meist sehr dünnen und kleinen Menschen in Südamerika und ich mir plötzlich dachte: Hier sind ja alle dick und fett und das mit einer unendlichen Selbstverständlichkeit (eine subjektive Wahrnehmung, die der "Sache" natürlich auch nicht gerecht wurde). Weitere Bezüglichkeiten hatte ich eigentlich nicht im Sinn.



Zakkinen,

welche Botschaft meinst du genau, die durchklingt? Das interessiert mich ehrlich, weil ich Texte mit Botschaften weder gerne lese und noch viel weniger schreiben möchte.


Niko,

vielen dank für dein Lob. Es freut mich sehr, dass du dich hier zu einem Posatext zu Wort gemedet hast. Und ja, das sich außerhalb der Norm zu bewegen ist schwierig. Im richtigen Leben und manchmal auch in der Literatur.



Rala,

danke für das "Gut gemacht". Fresskünstler - ein Wort, das wohl auch Pig gefallen würde, möchte er doch lieber ins Museum, als ins Krankenhaus.
Natürlich nimmt man an, dass so jemand, wie Pig etwas kompensiert. Ausgangspunkt für mich bei dem Text war allerdings, dass er genau das nicht macht, sondern frisst, weil er es eben genau so mag.


Euch allen - Pjotr, dir natürlich auch!! - nochmals herzlichen Dank!


Gruß


Sam

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Beitragvon Mucki » 15.08.2010, 17:33

Hallo Sam,
Sam hat geschrieben:Wenn du den Text verschieben willst, kannst du es tun. Meinetwegen kann er aber auch hier stehen bleiben.

ich verschiebe den Text natürlich nur, wenn du es auch so siehst, dass er sehr gut zum derzeitigen Monatsthema "Körper" passt.

Saludos
Gabriella

Sam

Beitragvon Sam » 15.08.2010, 18:38

Hallo Gabriella,

ich habe mich mit dem Monatsthema nicht befasst, auch den Text nicht extra dafür geschrieben. Von daher würde ich sagen, lassen wir ihn einfach hier stehen.

Aber vielen Dank für das Angebot!


Gruß

Sam

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Beitragvon Zakkinen » 15.08.2010, 19:57

Hallo Sam,

eigentlich ist es mehr eine etwas konstruierte Wirkung, die ich verspüre. Eine hohe Verdichtung und eine hohe sprachliche Ebene, die auf der anderen Seite versucht, mit gelegentlich beiläufigen Formulierungen den Eindruck einer gesprochenen Rede zu erwecken, oder den eines Briefes, einer Antwort. Sicher mit dem Ziel, Authentizität zu erzeugen. Dennoch ist es sofort klar, dass hier ein Autor durch eine fiktive Person spricht. Und damit werden die Selbstbewertungen der Person eben auch zu Wertungen des Autors. Auch, wenn sie nicht direkt genommen werden dürfen, sondern verborgen sind.

So eröffnest Du mit "Man nennt mich Pig". Warum sagt er das? Ist das wirklich neutral? Seine Argumentation ist so überzeichnet, dass ich vermute, sie ist nur vorgeschoben. Teile sind auf eine Art "neutral", die für mich nach Zynismus klingt. Und damit stellt der Text an mich die Forderung, mich mit den Gründen für extremes Übergewicht zu fragen, mit den Personen Mitgefühl zu haben. Daran appellierst Du m.E. sogar sehr direkt "Wenn es noch etwas gäbe, für das ich mich stark machen würde, dann für mehr gesellschaftliche Akzeptanz von Fettleibigkeit." Auch, wenn dieser Satz sofort danach wieder durch das Umdeuten der Schwäche zur Stärke ironisiert werden soll.

Eine weitere Frage, die sich mir stellt, ist, warum Du gerade den Sex so herausgestellt hast. Um einen drastischeren Eindruck zu erzeugen?

Ich bin kein guter Analytiker, mir fehlt das Werkzeug und die Erfahrung. Aber vielleicht kannst Du trotzdem was mit diesen Gedanken zu Deinem Text anfangen.

Grüße
Henrik

Sam

Beitragvon Sam » 17.08.2010, 21:52

Hallo Henrik,

vielen Dank, dass du auf meine Nachfrage nochmal eingegangen bist.
Ich frage mich halt, ob, wenn ein Autor eine Person über Dinge reden lässt, diese automatisch die Meinung des Autors wiederspiegeln? Könnte es nicht einfach sein, dass der Autor sich in eine Person und dessen Meinung hineindenkt. Natürlich bleiben da immer Spuren, diese aber als Wertungen zu bezeichnen, trifft es glaube ich nicht.
Im Grunde ist das doch nur eine Frage der Fantasie, Empathie und der Kreativität.

Der Text ist tatsächlich so aufgebaut, dass Pig zu jemanden spricht. Ziel war aber da weniger die Authentizität, sondern das Selbstverständnis mit dem Pig sich selbst betrachtet noch zu unterstreichen. Die direkte Anrede zeugt noch von mehr Selbstbewusstsein, als ein im geheimen Kämmerlein geschriebenes Statement.

Warum der Sex? Wegen der Drastik? Ja, aber nicht um genügend Raum für Derbheiten zu haben, sondern weil mir diese Gleichgültigkeit gegenüber Sex in Verbindung mit der Überhöhung des Essensaktes als sehr eindrückliches und wirkungsvolles Bild erschien, um die Entschlossenheit Pigs zu verdeutlichen, sein Leben so zu leben, wie er möchte.

Ich danke dir nochmals herzlich für deine Gedanken zu dem Text.

Gruß

Sam


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