Aufwachen

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Sam

Beitragvon Sam » 06.05.2011, 08:50

Aufwachen

1.

Gleich wird sie aufwachen. Sie wird die Augen aufschlagen, einige Male noch blinzeln bis das Bild sich schärft, und mich dann ansehen. Und in diesem ersten Blick werden die Entscheidungen der nächsten Monate und Jahre liegen, die Kämpfe, die Vorwürfe, die Verzweiflung. Alles was kommt, wird in diesem ersten Blick sein, als Schleier, als feuchter Film über den Pupillen, als kleine Flammen auf der Iris.
Noch sind ihre Augen geschlossen, nur die Bewegungen ihres Körpers verraten, dass sie aus der Bewusstlosigkeit in den Schlaf hinüber geglitten ist. Die schlaffen Gesichtszüge spannen sich ein wenig an. Aber es ist nicht ihr Schlafgesicht. Ihr Schlafgesicht ist ein ruhiger See. Es ist auch nicht ihr Schlafmund, der beständig zu lächeln scheint, als träume sie nur Musicals und Märchen. Einmal sagte ich zu ihr, wenn du schläfst, dann siehst du aus, als träumtest du nur Musicals und Märchen, und sie antwortete mit einem Lächeln und dem spitzbübischen Aufleuchten ihrer grünen Augen.
Nicht ihr Schlafmund ist es, eher ihr Zweifelmund, als wäre der Weg zum Aufwachen ein Lauf durch Stimmen, denen sie keinen Glauben schenken mag. Wenn sie etwas hört, was sie nicht glauben kann oder möchte, dann hat sie diesen Zweifelmund, die Lippen leicht zusammengeschoben, ein Kussmund fast, wenn er nicht in der Mitte solch kleine Falten hätte.
Ich sehe ihr Gesicht, das nicht ihr Schlafgesicht ist, und somit kein ruhiger See. Etwas bewegt sich unter der Oberfläche, wirbelt den Boden auf. Ein Fisch mit seinen Flossenschlägen. Der Fisch des Schmerzes, der Fisch der Schuld. Wenn sie die Augen öffnet, wird er auftauchen.

Wir haben unser Kind getötet, haben zusammen diese Entscheidung getroffen und doch werden wir diese Last nicht gemeinsam tragen, nicht gleichmäßig zu verteilen wissen, wir werden versuchen umzuschichten, sie wird es versuchen mit ihren ersten Blicken; wenn sie aufwacht, wird sie den Schmerz ganz für sich beanspruchen, die Schuld aber wird sie mir übergeben und ich werde sie annehmen, so wie ich bisher alles angenommen habe.

Da waren die Jahre des Aufopferns, der Sisyphusarbeit in den Straßen von Guayaquil, wo es darum ging, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Alternativen zu Gewalt und Verbrechen, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, Achtung vor den Mitmenschen. Dazu die schwangeren Mädchen und immer die Frage, was zu tun sei. Sie kämpfte um jedes Kind und gleichzeitig für die Mutter. Manchmal glücklich, manchmal unglücklich endete der Kampf, aber das Gefühl nicht tatenlos zuzusehen - darum ging es ihr. Um ihren Traum, ein Stück Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und ich träumte ihn mit, nicht, weil es auch meiner gewesen wäre, sondern weil ich keinen eigenen hatte.

Nach fünf Jahren - Zeit, die mir heute vorkommt wie das endlose Anschwellen eines Muskels bis hin zu Krampf und Erschlaffung - sagt sie, ich möchte ein eigenes Kind. Ich war überrascht, weil es so plötzlich kam, es auf einmal gar kein anderes Thema mehr gab, eigene Kinder zuvor nie ein Thema gewesen waren, am Anfang unserer Ehe sogar ein Streitpunkt. Wie kann man nur, hatte sie immer wieder gesagt, in diese Welt Kinder setzen, wenn schon so viele da sind, um die sich keiner kümmert? Und nun, inmitten dieser Kinder, um die sich keiner kümmerte, inmitten der Beweise für die Richtigkeit ihrer Vorbehalte gegen eigene Kinder, diese, wie sie sagte, unwiderrufliche Entscheidung genau dafür.
Zunächst erschien es mir wie eine Kapitulation. Verständlich, wenn man bedenkt, dass wir eine völlig aussichtlose Mission verfolgten. Auf jedes Kind, dem wir helfen konnten, kamen Hunderte, für die wir nichts tun konnten. Und immer wieder versagte man bei dem Versuch, Abstand zu halten. Gerade da, wo es am nötigsten gewesen wäre, bei den hoffnungslosen Fällen, den Klebstoffschnüfflern, den unverbesserlichen Dieben und Schlägern, bei den vierzehnjährigen Strichmädchen und dreizehnjährigen Müttern. Alle diese Fälle bedeuteten Niederlage und Verlust. Und einen ständig wachsenden Zweifel am Wert der eigenen Arbeit, eine Erosion der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Und wenn der Altruismus sich erschöpft, wird ein Mensch ganz auf sich zurückgeworfen.
Wir verließen Südamerika, zogen zurück nach Deutschland, arrangierten uns, warteten jeden Monat darauf, dass die Weltgerechtigkeit ihre Schulden bei uns begliche. Zwischendrin hielt ich inne und überlegte, was da mit uns passiert war, was da mit ihr passiert war, wie radikal und ausschließlich ihr Umschwung war, wie radikal sie einen Traum gegen einen anderen eingetauscht hatte und welche Schwierigkeiten es mir bereitete, ihr dabei zu folgen, wie unmöglich es mir war, darüber zu reden. Sie hat es verdient, dachte ich mir dann. Diesen neuen Traum hat sie sich verdient und auch seine Erfüllung, so hart, wie sie für den alten Traum gekämpft hatte und dabei schuldlos unterlegen war.

Zwei Jahre geplanter Sex, berechneter Sex, aber sie wurde nicht schwanger. Untersuchungen folgten, bei ihr ergebnislos, mir jedoch beschied ein Spermiogramm, dass ich zu 95 Prozent zeugungsunfähig war.
Wenn das bei Ihnen von selbst klappen sollte, sagte der Arzt angesichts des Befundes, dann wäre das ein Sechser im Lotto. Eher werden sie noch vom Blitz erschlagen.

Die nächsten Monate gehörten nun den verbleibenden fünf Prozent meiner Manneskraft, aus unzähligen Ejakulaten extrahiert, um In-vitro Eizellen zu befruchten, die ihr entnommen und dann wieder eingepflanzt wurden. Und jedes Mal die Enttäuschung, wenn es nicht funktionierte, wenn dieses Zellknäuel nicht andocken wollte an der Plazenta. Eine Abwärtsspirale, die mit jedem Versuch ihr Gefälle verstärkte. Man nahm stetig an Fahrt zu, obgleich alles unwirklicher wurde, mehr Sex mit einem Plastikbecher, als mit der eigenen Frau, der Wichsraum beim Reproduktionsarzt, rot tapeziert, ein Sessel mit Plastiküberzug, eine Dusche, Aktfotos an den Wänden, Männermagazine, unterdrückter Orgasmus, denn nebenan, nur durch eine Wand getrennt, war das Labor, eine kleine Klappe, gleich neben einem der Bilder, die man öffnete, um den vollgewichsten Becher abzustellen, mauerbreit das Fach und auf der anderen Seite ebenfalls eine Klappe, dahinter professionelle Leidenschaftslosigkeit, die viel wichtiger schien, als jedwede zärtliche Berührung.
Nach sieben Versuchen hatten wir kein Geld und keine Kraft mehr. Langsam erwachten wir, als wäre alles ein Rausch oder ein Vollmondtraum gewesen. Wir schmiedeten kleine Pläne und versorgten unsere Wunden, ab und zu sogar gemeinsam.

Und dann, etliche Monate nach dem letzten Versuch, wurde sie schwanger, vom Zufall befruchtet. Zum allerersten Mal hatte ich das Gefühl, daran beteiligt gewesen zu sein. Nicht, weil mir der Umweg über den Wichsraum erspart geblieben war, sondern weil aus dem Unerwarteten eine ganz besonderes Gefühl herausströmte, als wäre es nur allein deswegen gut und richtig, weil es nicht geplant und scheinbar aus dem Nichts kam.

Zuviel war schon schief gegangen, als dass wir uns uneingeschränkt hätten freuen können, aber mit jedem Tag wuchs die Hoffnung. Und meine Frau erschien mir erstmals glücklich aus sich selbst heraus.

Das Fruchtwasser jedoch spiegelte ein Monster, eine Vision aus verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit. Sie stürzte ab und ich wurde zum Spiegel. Alles was sie sagte, warf ich auf sie zurück. Bestätigte ihre Ängste und ihre Bedenken, aber kein einziges Mal sagte ich, lass es uns machen, oder, lass es uns nicht machen. Kein einziges Mal sagte ich, das schaffen wir zusammen, egal was kommt. Immer nur sagte ich, wenn sie sagte, aber es kann doch keiner hundertprozentig wissen, ja, es kann keiner hundertprozentig wissen. Und wenn sie sagte, eine solche Behinderung macht ein Leben nicht lebenswert, sagte ich, ja, es macht es nicht wirklich lebenswert. Aber wenn sie danach, fast im selben Moment meinte, aber es ist dennoch nicht wirklich sicher, bestätige ich auch dies und nickte, wenn sie von der Nachbarin ihrer Mutter erzählte, die zwanzig Jahre zuvor eine ähnliche Diagnose erhalten, aber nicht abgetrieben hatte und deren Tochter völlig gesund war und ihrer Mutter beinahe jeden Tag dafür dankte, dass sie leben durfte. Ich stimmte ihr zu, wenn sie sagte, dass dies ja nur eine Minderheit sei, die Davongekommenen. Die Mehrheit hätte keine Stimme, weil sie im Orkus landeten und keiner wirklich wüsste, was aus ihnen geworden wäre. Ein riesiger Leichenberg von Hypothesen, und ich sagte, ja, ein riesiger Leichenberg von Hypothesen. Und sie sagte, aber eben auch immer Leben dahinter, Leben das ging, Leben das blieb und niemand weiß, was wirklich besser gewesen wäre, aber die, die weiter leben, müssten das Beste daraus machen, und ich sagte, ja, man muss das Beste daraus machen und streichelte ihre Hand, als würde ich sie unterstützen. Dabei warf ich sie jedes Mal auf den Boden, warf sie abwechselnd ins Feuer und ins Wasser. Am Ende trafen wir eine Entscheidung, aber es war die ihre, eine Entscheidung aus dem Mangel an Kraft heraus, aus der Unvorstellbarkeit mit vierzig Jahren noch einmal die Energieleistung aufzubringen, sich einem Wesen voll und Ganz zu verschreiben, das niemals in diesem Leben ankommen würde, das man goss wie eine Pflanze und fütterte wie ein Tier, das man lieben würde, auch wenn es einen aufzehrte, und am Ende würde es sterben, so wie es geboren worden war, unter Schmerzen und man würde zurückbleiben, ohne die Kraft noch einen oder zwei Atemzüge zu tun. Dann lieber die Gnade für alle, sagte sie und ich stimmte ihr zu.

So hat sie die Entscheidung getroffen, weil ich feige und bequem ihrer Spur gefolgt bin, wie ich damals ihrem Traum, die Welt ein Stück besser zu machen gefolgt bin, ohne dass es auch meiner gewesen wäre, sowie ihrem Traum von einem eigenen Kind, ohne dass auch dieser mein eigener gewesenen wäre, und wenn sie gleich aufwacht und die Augen öffnet, dann wird in diesem Blick alles umgekehrt und meine Entscheidungslosigkeit wird zur Entscheidung werden, mein Abwälzen wird zurückschoben, mein Nichthandeln wird zum Handeln werden.
Ein schlechtes Gewissen kann man nicht teilen. Jeder muss mit seinem eigenen Gewissen zurechtkommen. Wenn ein Paar wegen einer gemeinsamen Entscheidung ein schlechtes Gewissen hat, so wird im Laufe der Zeit wenigstens einer diese Belastung dem anderen zum Vorwurf machen.
All das wird in ihrem Blick liegen, wenn sie gleich aufwacht.



2.

Jetzt wacht sie auf...
Zuletzt geändert von Sam am 19.05.2011, 17:36, insgesamt 2-mal geändert.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 14.05.2011, 20:13

Hallo Gerda,
Ich habe das meiste an Details vergessen und bin froh drum. Jedenfalls gibt es einen Unterschied, der mir wesentlich erscheint. Bei einer eingeleiteten Geburt kommt ein erkennbarer Mensch zur Welt. Wie bei einer Frühgeburt. Und ich weiß, früher konnte oder durfte man nicht testen.
Gruß
Henkki

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Beitragvon leonie » 14.05.2011, 20:35

Man kann es so früh machen, aber es dauert ja auch noch, bis ein Befund vorliegt. Dann muss ggf. eine Entscheidung getroffen werden. Und sehr oft ist dann die Zeit, in der eine Abtreibung (mit Narkose) möglich ist, vorbei. Dann wird eine Geburt eingeleitet, bei der normalerweise keine Narkose gemacht wird. Das ist auch das, was mich irritiert hat.
Meines Wissens ist auch das Risiko einer Fehlgeburt höher, je eher man die Untersuchung macht. Ich glaube, oft sogar höher als das, ein behindertes Kind zu bekommen. Was dann wieder unwahrscheinlicher macht, dass die Protagonistin es auch machen lassen hätte...

Liebe Grüße

leonie

Gerda

Beitragvon Gerda » 15.05.2011, 10:15

Liebe Kommentatoren, lieber Sam,

für mich sind diese terminlich-medizinischen Un-/Möglichkeiten in keiner Weise wesentlich für den diesen herausragenden Text. Es sind m. M. jene Dinge, die ein Lektor zu suchen und zu korrigieren hätte.
Mich quält es regelrecht, daran zu zupfen und darüber nachzudenken, ob es so, oder besser so, oder doch anders nur gewesen sein könnte.
Deshalb lasse ich es lieber .

Einen schönen Sonntag
Gerda

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.05.2011, 21:10

Lieber Sam,

(nur die ersten Kommentare gelesen)

auch ich habe den Text in einem Zug gelesen, er hat wirklich, gerade durch den Einstieg, einen richtigen Sogcharakter. Ich habe den Text zugegebenermaßen gar nicht besonders hinsichtlich der Kindstötungproblematik gelesen, sondern war die ganze Zeit bei dem Paar, ihren Rollenverhältnissen, ihren gemeinsamen Plänen und einsamen Realisierungen daraus. Besonders die Rolle des Mannes - seine (hilflos grausame) Passivität, die sich bis ins Letzte vollzieht, finde ich großartig geschildert und dass das ganze in der Tötung des gemeinsamen Kindes gipfelt finde ich das beste (klassischste, vollste ,tiefste) Beispiel für das ganze Verhältnis. Hat mich hier von der Figurenanlage her sehr an "Alles" von Bachmann erinnert.
Wenn ich den Text so lesen würde, dass es in erster Linie um das Thema Abtreibung gehen würde, stände ich dem Text weit kritischer gegenüber, da würden für mich die einzelnen Teile (etwa das Südamerikakapitel) noch nicht genug Hinführung/Durchführung sein. In meiner Lesart aber finde ich es stimmig.

Bezüglich der geschilderten medizinischen Einwände sehe ich nicht, warum hier nicht kritisiert werden sollten. Ich finde es jedenfalls schade, wenn ein guter Text an sowas hängt und finde auch, dass es noch nicht aufgeht. Im dritten Monat ist der Ultraschall bestimmt nicht so klar (ist er ehrlich gesagt nie in meinen Augen), dass man ein schwer behindertes Kind von einem normalen unterscheiden könnte - was schon deine Beschreibung, wenn ich auch den Visionscharakter und damit ihre Subjektivität verstehe und teile, etwas unhaltbar macht, denn an irgendetwas alternatives lehnt sie sich ja an, nimmt Bezug und da sehe ich eben Probleme in Bezug auf den Ultraschall.
Sich auf eine Fruchtwasseruntersuchung festzulegen, wäre sicher auch problematisch (überhaupt und dass dieses Paar sich trotz der Gefahren fürs Kind dafür entscheiden würdewürde, zudem zeigt diese Untersuchung ja das Kind nicht, sondern nur der Ultraschall?), aber da steht ja gar nichts von solch einer Untersuchung, sondern nur, dass das Fruchtwasser das spiegelt. Es ist zwar sprachlich eine Anspielung, aber das "spiegeln" verstehe ich durchaus auch anders (dass aus einer Spiegelung etwa eine Vision (bei den Eltern) entsteht, finde ich toll, so könnte man diese Art Wahrnehmung und Wahrnehmungsgenerierung gut fassen, dass so erst das Monster erschaffen wird und damit sogar die Entscheidung). Ich würde einfach den Text um die Zeitangaben "im dritten Monat" kürzen und auch so umgestalten, dass es sowohl eine Ausschabung als auch eine stille Geburt sein könnte, also einfach an manchen Stellen medizinisch weniger faktisch beschreiben, so dass man weniger auf solch eine Lesart verfällt (Es kann doch durchaus sein, dass die Frau ein stärkeres Beruhiungsmittel bekommen hat, was sie im Dämmerzustand ließ, um das ganze nicht wirklich mitzubekommen). Dann ist es mehr erzählt und weniger geschildert an der Stelle und motivert den Leser nicht sich medizinische Fragen zu stellen und dann geht das auch auf. Dann passt der Rest und schafft genug Raum für die Vision und den Aufwachmoment, welcher der Geschichte ja unbedingt erhalten bleiben muss.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 17.05.2011, 18:34

Hallo Gerda,

vielen Dank für deine Anmerkungen zu diesem Text! Natürlich freut es mich sehr, dass er dir so gut gefällt.

Was die medizinischen Aspekte betrifft, habe ich meines Wissens korrekt skizziert, aber natürlich könnte man abändern, wenn etwas den Tatsachen komplett entgegenläuft. Wahrscheinlich lässt es sich auch nicht ganz verhindern, dass einige (oder sogar viele) Leser sich darauf konzentrieren und sich wünschten, bis ins Detail nachvollziehbare Fakten vorgelegt zu bekommen. Um so mehr freut es mich, wenn du auf die eigentliche Geschichte blickst, die hier erzählt wird.


Hallo Lisa,

ja, es geht überhaupt nicht um das Thema Abtreibung. Wie oben schon erwähnt, müsste der Text dann völlig anders angelegt sein.

Natürlich können die medizinischen Aspekte kritisiert werden, und wie ich jetzt schon einige Male erwähnte, würde ich den Text auch entsprechend ändern. Nach den Kommentaren von Leonie und Xanthie habe ich noch ein wenig nachgeschaut und habe nichts gefunden, was der Schilderung in meinem Text widerspricht. Was fehlt, sind die Überlegungen, ob man überhaupt eine gefährliche Untersuchung in einem so frühen Stadium machen sollte. Das aber habe ich ausgespart, weil dieses dem Konflikt der letzten Entscheidung zu ähnlich gewesen wäre. In einem Text über das Thema Abtreibung wäre dies bestimmt notwendig. Die Geschichte dreht sich aber um das Thema Schuld und darum, was in unserer Vorstellung passiert. Aus diesem Grund ist die Behinderung des Kindes auch nicht benannt, denn auch diese ist eine Vision, eine Vorstellung, keine Tatsache. Ebenso, wie die Erwartungen des Erzählers, die Reaktion seiner Frau betreffend wenn sie aufwacht, keine Tatsachen sind, sondern reine Vorstellung.

Sicher, man könnte die Zeitangabe bezüglich er Untrersuchung weglassen, aber dann könnten solche Fragen auftauchen, wie von Henkki, ob es denn eine Abtreibung war, oder eine eingeleitete Geburt.

Wichtig waren für mich zwei medizinische Fakten:

1. Es gibt Fruchtwasseruntersuchungen in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft.
2. Das Ergebnis kann dazu beitragen, dass ein Paar sich für einen Abbruch entscheidet.

Wenn daran etwas nicht stimmt, ändere ich den Text sofort.


Gruß

Sam

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leonie
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Beitragvon leonie » 17.05.2011, 19:42

Lieber Sam,

ich habe nocheinmal nachgelesen und gefunden, dass nach späteren Abbrüchen (also eingeleiteter Geburt) oft eine Ausschabung gemacht wird, die meines Wissens mit Vollnarkose erfolgt. Vielleicht wäre es so glaubwürdiger.

Dritter Monat, das ist 9-12. Woche. Dann müsste ja sonst die Amniozentese zu einem Zeitpunkt durchgeführt worden sein, bei dem sie sehr viel riskanter ist als nach der 12. Woche.
Das passt für mein Empfinden schwer zu dem heftigen Kinderwunsch.

Ich denke, es wäre glaubwürdiger, wenn das Ganze zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden hätte, dann per eingeleiteter Geburt und der Mann jetzt dabei ist, wenn sie nach der Ausschabung aufwacht.

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 17.05.2011, 20:22

Hallo Leonie,

man könnte natürlich aus dem dritten Monat den vierten machen. Wann (und wie) der Schwangerschaftsabbruch erfolgt, wird ja im Text nicht erwähnt. Ich werde das jetzt mal entsprechend ändern.

Vielen Dank!


Gruß

Sam

Gerda

Beitragvon Gerda » 17.05.2011, 20:41

Liebe Lisa,

Lisa hat geschrieben:Bezüglich der geschilderten medizinischen Einwände sehe ich nicht, warum hier nicht kritisiert werden sollten.

Da hast du völlig Recht, mich aber vielleicht missverstanden.
Ich schrieb davon, dass ich es nicht detaillierter tun will und kann.
Ich habe schon bei meiner ersten "Rechnerei" Bauchschmerzen bekommen, verstehst du?!
(Bin nämlich eine "Spätgebärende" gewesen).
Andere Saloner, konnten Sam offenbar zu den medizinischen Fakten wichtige Daten vermitteln.
Das ist in Ordnung, solange der Autor es richtig und wichtig erachtet.
Was ich meine ist, dass ein solcher Text nicht an diesen, m. E. marginalen Dingen scheitert.

Liebe Grüße
Gerda

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Beitragvon Zakkinen » 17.05.2011, 21:03

Hallo Sam,

Du hast Recht, der Text geht natürlich nicht um Abtreibung oder eingeleitete Geburt. Ich kann ihn nicht wirklich anders lesen, aber das ist meine Schuld.

Grüße
Henkki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.05.2011, 21:23

Hallo,

Sam, entschuldige, dass ich was angesprochen habe, was schon längst Gegenstand der Diskussion war, ich hab den Faden ab einer gewissen Zeit nicht mehr verfolgt, hatte aber schon einen Kommentar angefangen. I ch freu mich, dass du auch die Abtreibung nicht als Kern der Geschichte siehst, weil ich das wie gesagt auch so erlebe. "Schuld" als zentraler Begriff ist für mich gerade in Bezug auf meine Gedanken zum Paar interessant, und vielleicht auch andersherum (warum lässt sich gerade an einem Paar das gut erzählen).

Wenn ich übrigens mal gesammelt über deine Art zu schreiben etwas sagen müsste, würde ich immer bei deinem Erzähler ansetzen, da ist eine immer wiederkehrende Haltung "drin", die sehr tief geht und spannend ist.


Gerda: Ja, na klar, das verstehe ich!

liebe Grüße,
Lisa
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 17.05.2011, 21:45

Hallo Sam,

ich möchte noch etwas anderes zu Bedenken geben. Der Anfang ist wunderbar, ich bin ganz bei der Situation, unsichtbarer und unbeteiligter Betrachter. Das ändert sich aber im Laufe der nächsten Abschnitte, weil ich das sichere Gefühl bekomme, dass sich der Protag nach außen wendet, bzw. mir als Leser eine Geschichte erzählt (verkauft) werden soll. Ein innere Monolog erscheint mir, bis auf den ersten Abschnitt, nicht glaubhaft, weder sprachlich noch inhaltlich, dafür ist er viel zu detailliert, erklärend, geordnet und ausformuliert.
Es tauchen für mich dadurch aber ganz andere Aspekte und Fragen auf, die ich hier aber nicht bewusst angelegt finde. Vielleicht täusche ich mich da aber auch. Diese Unstimmigkeit wirft mich jedenfalls aus der Geschichte, der Situation, weil ich den Text dadurch schon im Lesen als Text betrachte und hinterfrage.

Ich denke, dass die medizinischen Aspekte für die Geschichte wichtig sind, nicht, weil es das zentrale Thema ist, sondern weil genau solche Unstimmigkeiten den Fokus viel zu stark auf diesen Aspekt der Geschichte lenken.
Ich halte es auch nicht für glaubhaft, dass diese Frau ein Risiko eingehen und die Untersuchung so früh machen würde, dass eine Abtreibung noch möglich wäre, oder ihr dazu geraten werden würde, wenn nicht zusätzlich z.B. ein familiärer Risikofaktor, eine Vorgeschichte hinzukommt. Das würde denke ich für mich auch andere Aspekte der Geschichte stimmiger erscheinen lassen.
Wenn du einfach den Termin nach hinten verschiebst, hast du die Unstimmigkeit nur in einen anderen Bereich verlagert, denn dann ist es eben keine Abtreibung mehr, sondern eine eingeleitete Geburt, wenn ich mich nicht täusche, und das ganze Aufwachszenario nach der Vollnarkose mit dem gefürchteten ersten Blick, fällt in sich zusammen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 17.05.2011, 22:00

Guten Abend Sam,

ich wollte nur noch einmal betonen, dass bei dieser Geschichte eine Intensität sowohl von der Sprache als auch vom Inhalt ausgeht. Das Thema der primär weiblichen Frage um Kindhaben, Menschsein und Mutterschaft und die aus unterschiedlichsten Gründen immer schuldhafte Verstrickung des Mannes in ein System, in das er par la nature des choses eindringt - um sich zurückzuziehen - ist ein absolutes Grundthema. Es gibt Personen, denen es gelingt ohne Verlogenheit, ohne Konventionen darüber zu schreiben. Zu diesen wenigen gehörst mMn du.
Selbstverständlich ist das meinerseits kein Genderplädoyer oder sonst falsch verstandener Feminismus. Es sind die Grenzen unseres Körpers (schönste Grenzüberschreitungen erlebend, hoffe ich) die uns gesetzt sind, imselben Maße wie Endlichkeit. Unsere Zeit ist endlich. Unser Körper schränkt unsere Wahrnehmungen und Möglichkeiten ein, Unsere Vorstellungsraft endet ebenfalls an irgendeinem Seifenblasenrand ...

Was du beschreibst ist ein langsames Fortschreiten des Unverstandenen zwischen sich nicht mehr aufrichtig sprechenden Personen oder Körper, das sich Verschließen. In diesem Kontext ist die Schwangerschaft nach und nach nur noch ein Vorwand ....Ich spürte in diesem Text von Anfang an wie der Fokus sich verkleinerte, bis das Bild schwarz wurde ... das Bild schwarz, der Foetus tot.

Die Diskussion um Monate, Abtreibung etc. scheint mir nebensächich. Die Frage der Schuld, der Schuldzuweisung, des Einheimsens von Schuld schien mir wichtiger ...

liebe Grüße
Renée

Nicole

Beitragvon Nicole » 18.05.2011, 18:07

Hallo zusammen,

ich finde zwar die Dikussion über Abtreibung / eingeleitete Geburt / macht man eine Untersuchung, oder macht man sie nicht für diese Geschichte tatsächlich nebensächlich, aber trotzdem hier ein paar Gedanekn dazu vorn mir:

1. Auch nach einer eingeleiteten Geburt wird meines Wissens eine Ausschabung gemacht (so wie auch nach einer Fehlgeburt) "Sie" kann also durchaus aus einer Narkose aufwachen.
2. Wenn ich x Versuche der künstlichen Befruchtung hinter mir hätte, würde ich vermutlich auch eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Wenn ich einen derart großen Kinderwunsch hätte, wäre es mir ein Bedürfnis, dann auch sicher zu stellen, das das Kind wirklich o.k. ist, also das, was ich mir wünsche.
3. Jede Frau ist diesbezüglich anders. Ich kann also nicht wirklich begreifen, warum hier das "das so zu tun kann ich nicht verstehen" so wichtig ist. Würde in Realität eine Frau so handel, wie "Sie" in dieser Geschichte, würden wir dies vermutlich als "das ist eben ihre Art..." akzeptieren.

Ansonsten, mein Liebster, weißt Du ja, wie sehr ich diese Geschichte mag.

Viele liebe Grüße aus Phoenix,

Nicole

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Ylvi
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Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 19.05.2011, 09:21

Hallo Nicole,

ich finde zwar die Dikussion über Abtreibung / eingeleitete Geburt / macht man eine Untersuchung, oder macht man sie nicht für diese Geschichte tatsächlich nebensächlich,
Wenn Leser in Geschichten über Dinge, Unstimmigkeiten stolpern, sind sie für sie nicht mehr nebensächlich, sondern rücken in den Fokus und verhindern denke ich oft, dass man sich auf den Rest überhaupt einlassen kann oder möchte. Wenn man das als Autor nicht intendiert hat und wie hier die Möglichkeit erhält mit den Rückmeldungen zu arbeiten, verstehe ich nicht, warum man das nicht tun sollte. Ich denke die Geschichte hat diese Aufmerksamkeit verdient und kann dadurch nur gewinnen.
1. Auch nach einer eingeleiteten Geburt wird meines Wissens eine Ausschabung gemacht (so wie auch nach einer Fehlgeburt) "Sie" kann also durchaus aus einer Narkose aufwachen.
Ja, kann sie. Dann geht aber die Szene für mich überhaupt nicht mehr auf, denn wenn ich das annehme, wäre es für mich nicht glaubwürdig, dass er bei der Geburt nicht dabei war und sie das hat alleine durchstehen lassen und nicht einmal ein Wort, einen Gedanken darüber verliert, gerade in diesem Schuldkontext. Und wenn er dabei war, dann hätte er diesen Blick schon längst gesehen, da wäre schon alles "gesagt" und das Aufwachen nach der Narkose wäre ein ganz anderer Moment und dann wäre es erst recht nicht glaubwürdig, dass er davon nichts erwähnt.
3. Jede Frau ist diesbezüglich anders. Ich kann also nicht wirklich begreifen, warum hier das "das so zu tun kann ich nicht verstehen" so wichtig ist. Würde in Realität eine Frau so handel, wie "Sie" in dieser Geschichte, würden wir dies vermutlich als "das ist eben ihre Art..." akzeptieren.
Weil die Figur nicht so gezeichnet ist, dass man das als ihre Art verstehen kann. Ich denke auch im realen Leben würde man sich dann wundern und nachfragen, oder zumindest darüber nachdenken, vor allem auch ihr Mann, so reflektierend, wie er hier gezeigt wird.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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