Mit dem Kopf auf der Schiene

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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 22.05.2006, 20:37

Ich bin die Bahnstrecke hinter Stendal schon einige Male entlanggelaufen. Vom Bahnhof aus muss man noch eine ganze Weile neben einem hohen Zaun hergehen, der nur dem Zweck dient, Menschen davon abzuhalten, die Gleisanlagen zu betreten. Erst ungefähr vier Kilometer hinter Stendal liegt die Schnellfahrstrecke frei. Wie schwarz die Schienen im Dunkel der Nacht aussehen! Links und rechts der Gleise erstrecken sich Felder und dahinter der finstere Wald. Kein Mensch ist mehr zu sehen, obwohl man natürlich immer mit einem Jäger oder einem Spaziergänger mit Hund rechnen muss. Es ist kalt. Mein Atem kondensiert, sobald ich ausatme. Alles ist still. Ich werde noch ein paar Kilometer weiter laufen müssen. Ungefähr zehn Kilometer hinter Stendal erreicht der ICE seine Reisegeschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern. Das wird reichen. Ich laufe und versuche, nicht mehr an sie zu denken. Es ist vorbei. Sie hat mich betrogen und verlassen. Sechs Jahre sind wir zusammengewesen. Wir waren glücklich, meistens jedenfalls.
Es beginnt zu regnen. Kalte, große Tropfen durchweichen meine Cordjacke. Sie war mal schwarz. Meine Haare hängen in nassen Strähnen herunter. Um eine mögliche Erkältung muss ich mir jetzt keine Sorgen mehr machen. Es zählt nur der Augenblick.
Die Stelle hier erscheint mir perfekt für mein Vorhaben. Der Bahndamm ist problemlos begehbar. Ich steige die kleine Anhöhe hinauf, rutsche auf den feuchten Steinen aus, stehe wieder auf. Oben lege ich mich auf den Boden, bette den Kopf auf die Schiene. Zuerst lege ich mich auf den Bauch, damit meine glühende Stirn von dem kalten Metall gekühlt wird, doch nach einer Weile drehe ich mich um und schaue in den Regen. Ich schließe die Augen und warte.

Ich hatte nach meinem Universitätsabschluss keine Stelle bekommen. Ich war arbeitslos und wurde zunehmend verzweifelter. Alle meine Bewerbungen schlugen fehl. In den letzten Monaten hatte ich ein unbezahltes Praktikum in einer Zeitschriften-Redaktion gemacht. Auch hier gab es keine freien Stellen. Sie wohnte in einer kleinen Stadt in Thüringen, seit sie vor zwei Jahren anfing zu studieren. Eigentlich wollten wir zusammen nach Berlin ziehen, doch ihre Bewerbung an der Hochschule der Künste war abgelehnt worden, während ich einen Studienplatz an der Humboldt Universität bekommen hatte.
Ich bin zwei Jahre lang fast jedes Wochenende nach Thüringen gefahren, habe sie dort besucht. Sie hatte meistens etwas für mich gekocht. Freitags war ich ihr noch fremd. Schon am Samstag, wenn wir ein paar Mal miteinander geschlafen hatten, war es wie früher. Wir verließen kaum das Zimmer, schauten fern, kochten ein wenig, badeten zusammen, sprachen miteinander und liebten uns. Am schönsten war der Sonntagabend. Ich musste immer den Zug um sieben Uhr nehmen. Es war der letzte, der noch nach Berlin fuhr. Um fünf Uhr liebten wir uns und dann bat sie mich, für immer zu bleiben. Ich konnte nicht bleiben, das wusste sie ebenso gut wie ich. Sie war zärtlich und strich mir über das Haar. Dann ging ich allein zum Bahnhof.

Eine andere Möglichkeit, mich zu töten, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Die Entfernung hatte uns auseinander gebracht. Die Entfernung und meine Arbeitslosigkeit. Während ich den heißen August über an einem Computer saß und ohne Bezahlung Texte schrieb und redigierte, war sie auf eine Exkursion nach Frankreich gefahren. Dort hatte sie einen anderen kennen gelernt. Sie schrieb mir keine Briefe, rief mich nicht an und verlängerte ihren Aufenthalt in Frankreich noch um eine Woche, um bei der Weinlese mitarbeiten zu können. Ich hatte im August Geburtstag. Ich war krank und lag in meinem dunklen Hinterhauszimmer auf meiner Matratze, als sie mich anrief, um mir zu gratulieren. Natürlich merkte ich, dass etwas nicht stimmte, aber was sollte ich machen? Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, wie verzweifelt ich war und dass ich schon wieder zwei Absagen in meinem Briefkasten gehabt hatte. Ausgerechnet an meinem Geburtstag. Sie stand in einer Telefonzelle. Das Gespräch war schnell vorüber, denn der Automat fraß viel Geld. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon mit dem anderen geschlafen und gemerkt, dass das Leben ohne mich viel schöner sein konnte als mit mir.
Zehn Tage später kam sie nach Berlin, stellte mir als verspätetes Geschenk drei Flaschen Wein auf den Tisch und machte mit mir Schluss.
„Ich habe unsere Beziehung kaputt gemacht“, waren ihre Worte.
Ich lief aus der Wohnung, kam zurück, bat sie, mir zu erklären, was geschehen war, verzieh ihr, bat sie, mich nicht zu verlassen, drohte ihr, trank den Wein, zerschlug ein Bild und tobte. Sie zog ihre schwarze Lederjacke an und ging zur Tür. Auf die Frage, ob sie ihn wiedersehen wolle, sagte sie nur.
„Ich weiß nicht.“
Heute Abend habe ich vom Bahnhof Stendal aus bei ihr angerufen. Ich hatte eine Telefonkarte mit einem Guthaben von zehn Euro. Ich sagte ihr, dass ich ohne sie nicht leben kann und dass dies unsere letzte Chance sei.
„Ich bin nicht allein. Ruf morgen noch einmal an“, sagte sie und legte auf.
Ich wählte immer wieder ihre Nummer, sprach auf ihren Anrufbeantworter. Sie nahm den Hörer nicht mehr ab. Als das Guthaben verbraucht war, machte ich mich auf den Weg.

Wir hatten uns in elf Städten geliebt. In Hamburg, Berlin, Weimar, Paris, Amsterdam, Oerlinghausen, Verona, Essen, Dublin, Cork und London. Wie oft hat man in sechs Jahren miteinander Sex? Bevor ich nach Berlin ging und sie nach Weimar, liebten wir uns fast jeden Tag. Haben wir fünfhundertmal miteinander geschlafen oder tausendmal? Ich denke an ihre langen weichen Haare, die sie je nach Laune schwarz, rot oder blond färbt. Ich denke an ihren Blick, als sie mir sagte, dass es vorbei sei. Von dem unaufhörlichen Regen ist meine Kleidung mittlerweile völlig durchnässt. Ich denke an einen Tag in Verona, als wir aus einem Museum kamen und keinen Regenschirm dabeihatten. Wir waren klatschnass, als wir im Hotel ankamen. Es war noch früh am Nachmittag. Im Haus herrschte geschäftiges Treiben. Über die Via XX Settembre rasten die frisierten Mofas. Wir hatten ein Zimmer zum Innenhof. Vom Bett aus konnte man die Wäsche sehen, die die Bewohner des Hauses zum Trocken aufgehängt hatten. Die Leinen waren über den Hof gespannt. Irgendwo spülte jemand Geschirr. Wir zogen uns die nassen Kleider vom Leib und liebten uns den ganzen langen Nachmittag.

Ich muss eingeschlafen sein. Meine Glieder sind völlig steif. Mir ist unglaublich kalt. Ich zittere am ganzen Leib. Ich schaue auf die Uhr. Der Zug hätte schon vor einer Stunde meinen elenden Schädel zertrümmern sollen. Es war der letzte Zug. Ich muss wieder zurück zum Bahnhof gehen.

Nur in Brandenburg gibt es auf Provinzbahnhöfen noch Bahnhofsvorsteher. Der von Stendal wohnt sogar im Bahnhofsgebäude. Ich klingle ihn wach.
„Wo war der ICE nach Düsseldorf?“
Er schaut mich an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Der Zug ist ausgefallen. Personenschaden zwischen Zoo und Spandau.“
Zuletzt geändert von Paul Ost am 23.05.2006, 21:11, insgesamt 1-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 25.05.2006, 13:26

Ach Lisa,

meiner babylonischen Baumeisterin hat's gut gefallen. Ich war davon eher gelangweilt.

Jetzt fällt mir gerade ein, dass ich das Buch wohl nicht mehr habe, weil's bei ihr liegengeblieben ist. Sie wird es wohl entsorgt haben. Aber das Cover war auch wirklich hässlich. So braun und mit einem Mann und einer Frau in unmöglichen 70er-Jahre-Klamotten.

Es grüßt

Paul Ost


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