Die Power-Bibliothek

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Jürgen

Beitragvon Jürgen » 29.07.2006, 21:56

Die Läuten der Türklingel ließ mich von meiner Lektüre aufsehen. Ich legte das Buch aufgeschlagen, um mir die Seite nicht merken zu müssen, auf meinen Wohnzimmertisch und fragte mich, wer mich ausgerechnet heute am Samstag Nachmittag stören mochte. Ich drückte den elektronischen Öffner und schloss die Wohnungstür auf.
„Das Fernsehen ist hier, das Fernsehen ist hier“, quiekte mir die aufgeregte, für einen Mann ungewöhnlich helle Stimme meines Nachbarn Herrn Kleinkemper entgegen. Der hagere, alte Herr stand vor mir im Hausflur und fuchtelte aufgeregt mit den Händen, hinter ihm hatten sich mehrere Personen postiert. Ein rotbärtiger Mann, der Mitte dreißig sein mochte, trug einen bauchig geformten Koffer, hinter ihm hielt ein Jüngling, dessen Gesicht mit den Narben einer Akne übersät war, ein Stativ und eine Kabelrolle in den Händen. Ein weiterer Mann mit reichlich abgetragener Schirmmütze hatte eine Art Scheinwerfer unter dem rechten Arm geklemmt. Ein dicker Brillenträger mit Vollglatze stand neben einer schlanken Frau mit langem, wasserstoffblonden Haar. Verdutzt starrte ich den unerwarteten Besuch an. Eine groß gewachsene, schlanke Dame im Hosenanzug trat vor, zeigte ihre strahlend weißen Zähne in einem Lächeln, und reichte mir ihre Hand.
„Guten Tag“, sagte sie mit einer freundlichen, geschult wirkenden Stimme, „Mein Name ist Corinna van Opdrukken. Erschrecken Sie bitte nicht, wir haben etwas Besonderes mit Ihnen vor.“
Kleinkempers Stimme überschlug sich fast: „Ich wollte gerade zur Haustür raus, da hielt der Wagen der Herrschaften am Straßenrand.“
Frau van Opdrukken bedachte den alten Herrn mit einem milden Lächeln. „Ihr Nachbar war so freundlich uns in den Hausflur zu lassen“, erklärte sie.
„Vom Fernsehen, stellen Sie sich vor“, setzte Kleinkemper aufgeregt hinzu.
„Das ist Herr Braun“, erklärte Frau van Opdrukken und wies auf den Glatzkopf, „der Regisseur unserer Show.“
Eine Show, fragte ich mich erstaunt und kratzte mich am Kopf: „Und was kann ich für Sie tun?“
„Wir machen eine neue TV-Sendung, die Power-Bibliothek. Sie wird demnächst anlaufen und im Moment überall beworben. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?“
Ich schüttelte den Kopf wie ein Schuljunge, der eine Frage nicht beantworten konnte.
„Nun“, fuhr die Opdrukken fort, „das Konzept wurde von demselben Team entwickelt, das auch ´Einsatz in vier Wänden´ und ´Die Super-Nanny´ erfunden hat.“
Diese Sendungen kannte ich. Bei der einen wurden ungemütliche Wohnungen von einer Expertin auf Vordermann gebracht, bei der anderen kam eine junge Frau in eine Familie mit schwierigen Kindern. Ich hatte mir vor einigen Wochen eine Folge der Super-Nanny angesehen und fand das pädagogische Konzept der Moderatorin reichlich vereinfacht. Die gesamte Sendung war mir eigentlich lächerlich vorgekommen.
„In unserer Show geht es um Bücher“, erklärte die Opdrukken und mir fiel auf, wie auffallend und doch dezent geschminkt sie war, „Sie lesen gerne?“
„Ja, schon“, stammelte ich.
Die Dame nickte zufrieden und vergaß nicht, ihre weißen Zähne in einem Lächeln zu präsentieren, „Unser Buchregal daheim zeigen wir nur zu gerne vor. Jeder Gast, der sich für Literatur interessiert, geht die Reihen entlang und begutachtet die Titel. Sie kennen diese Situation bestimmt?“
Wieder nickte ich. Ich stand auch jedes Mal vor den Regalen in anderen Wohnungen und ließ meinen Blick über die Buchrücken fliegen, wenn ich zu Besuch war.
„Unser Buchregal ist wie eine Visitenkarte“, sagte Frau van Opdrukken und ihre Stimme klang nun bestimmter, „Es zeigt einem aufmerksamen Besucher sofort, wofür wir uns interessieren und ob wir uns kulturell orientieren. Jeder Gast, den wir einladen, kann mit einem Blick auf die Hausbibliothek ersehen, ob wir modern und trendbewußt sind oder hinter´m Mond leben.“
„Ist das alles aufregend“, rief Kleinkemper dazwischen.
Die Opdrukken ließ sich von meinem Nachbarn nicht beirren. „Das Konzept der Show ist absolut neu“, betonte sie stolz, „Ich schaue mit Ihnen zusammen über ihre Bücher und stelle dann für Sie eine Power-Bibliothek zusammen.“
„Power-Bibliothek?“ fragte ich verdutzt.
„Genau“, sagte die Opdrukken nicht ohne mir ein weiteres Mal ihr Zahnweißlächeln zu widmen, „Ich erkenne für Sie, welche Titel Ihrem Buchregal fehlen. Das alles natürlich vor laufender Kamera. Alle Bücher, von denen ich denke, dass sie Ihnen fehlen, werden von der Show gekauft. Sie müssen nicht einen Cent bezahlen.“
„Soll das heißen, ich bekomme Bücher gratis?“ fragte ich. Das klang wirklich interessant.
Die Frau nickte: „Was sagen Sie? Wollen Sie die Hauptperson einer Folge der Show sein?“
Ich strich mir über das Kinn. So ganz wohl war mir bei der Sache nicht und mir schmeckte es nicht, dass Kleinkemper sich unaufgefordert zu Wort meldete. „Natürlich will er“, rief mein Nachbar.
„Wie kommen Sie gerade auf mich?“ fragte ich schnell.
„Ihre Arbeitskollegen haben auf unseren Aufruf geantwortet und sie als Kandidat vorgeschlagen“, erklärte die Opdrukken,„Was meinen Sie? Möchten Sie ins Fernsehen? Denken sie an die Bücher, die Sie kostenlos erhalten werden.“
Ich zögerte noch einen Moment, was Kleinkemper, seinem Blick nach zu urteilen, an meiner geistigen Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ. Aber was sollte schon passieren? Also stimmte ich zu.
Die Frau nickte zufrieden: „Dann beginnen wir direkt auf der Stelle, so verlangt es das Konzept der Sendung. Das Buchregal sollte so gefilmt werden, wie es jetzt ist. Dann sprechen wir über Ihre Heimbibliothek.“
Mit einem mulmigen Gefühl fragte ich mich, ob es in meiner Wohnung zu unaufgeräumt war, doch ich nickte. Für diese Fernsehfritzen besaß ich doch wohl Souveränität genug. Die konnten mich nicht einschüchtern.
„Sehr gut“, fuhr Frau van Opdrukken fort, „meine Kollegen bereiten den Dreh vor Ihrem Buchregal vor. In der Zeit wird Frau Menzel, unsere Visagistin, Sie für die Aufnahmen etwas herrichten. Sind Sie einverstanden?“
„Ja“, antwortete ich und ließ das Fernsehteam in meine Wohnung. Kleinkemper ließ es sich nicht nehmen, ebenfalls einzutreten. Unverzüglich holten die Männer ein Stativ aus dem silbernen Koffer hervor und stellten es vor meinem Buchregal auf. Ein Scheinwerfer, wie ihn Fotografen zum Ausleuchten benutzen, war erstaunlich schnell aufgebaut.
Während die Wasserstoffblondine mein Gesicht zurechtmachte, fragte ich mich, welcher meiner Arbeitskollegen denn in meiner Wohnung gewesen und zu dem Schluss gekommen war, ich sei ein geeigneter Kandidat für diese Sendung.
Eine halbe Stunde später stand ich mit der Opdrukken unter dem Licht des Scheinwerfers vor dem Regal. Kleinkemper hatte an der gegenüberliegenden Wand Stellung bezogen und verfolgte das Geschehen mit sensationshungrigen Augen. Der Rotbart hatte eine Kamera geschultert. Ein anderer Mann hielt ebenfalls eine in der Hand.
„Also“, sagte die Opdrukken, „vor der Sequenz, die wir gleich drehen werden, sehen die Zuschauer mich auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Dazu wird ein Sprecher erklären, worum es geht. Wir werden also jetzt direkt mit dem Gespräch über ihre Bücher beginnen. Alles klar?“
Ich nickte stumm.
„In Ordnung. Action!“ rief Braun, der Regisseur.
Während ich noch einen nervösen Blick zum Rotbart, der die Kamera hielt, warf, nahm die Opdrukken ein Buch aus dem Regal und hielt es hoch.
„Also, das ist bestimmt ihr Lieblingstitel“, sagte sie und blickte mich prüfend an.
„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte ich verdutzt und setzte ein zaghaftes „Wieso?“ hinterher.
„Weil das gute Stück derart zerfleddert ist, dass es einfach nur noch das Gesamtbild Ihrer Bücherwand zerstört. Die Seiten fallen ja schon heraus. Von so einem alten Schätzchen sollte man sich dann doch trennen können“, sagte sie und präsentierte wieder ihr Zahnpastareklamelächeln.
Sie legte das Buch in einen Pappkarton, den ich erst jetzt bemerkte. Einer ihrer Mitarbeiter hatte ihn anscheinend bereit gestellt.
Der Rotbart schwenkte mit seiner Kamera zu mir und mir wurde klar, dass er mein Gesicht in Großaufnahme filmte. „Ja, das stimmt“, sagte ich schnell, „Das Buch sieht wirklich arg mitgenommen aus.“
„Arg mitgenommen ist wohl etwas mild ausdrückt“, meinte die Opdrukken amüsiert, dann starrte sie wieder auf meine Bücher, „Sie haben leider keine Bildbände.“
Sie sah mich an, als ob sie eine Reaktion erwartete, dann fuhr sie fort: „Warum bieten Sie Ihren Gästen nicht den Anblick einiger interessanter Bildbände? Damit kann man eine besondere Note setzen.“
Die Opdrukken wandte sich von mir ab und lächelte in die Kamera: „Jedes Buchregal gewinnt, wenn man ein oder zwei schöne Bildbände darin präsentiert. Machen Sie zuhause bitte nicht den Fehler, diese einfach nur in das Regal zu stellen, so dass ihre Gäste nur auf den Buchrücken sehen. Positionieren Sie diese Schmuckstücke frontal, so dass man gleich danach greifen möchte.“
Der picklige Jüngling reichte ihr ein großes Buch, dass sie hochhielt: „Ich habe für diesen Fall immer einen prachtvollen Bildband dabei.“ Sie stellte es mit dem Cover nach vorn ins Regal und lehnte es an meine Bücher. Es war ein Fotoband über Pariser Gärten, wie ich feststellte.
„Sieht das nicht gleich ganz anders aus?“ fragte sie mich, „ein solches Bild weckt Interesse und lädt zu näherem Betrachten ein.“
Ich musste ihr Recht geben. Es sah wirklich dekorativ aus. Dass ich mich nie in irgendeiner Form für Gärten interessiert hatte, behielt ich vorsichtshalber für mich.
„Sie können das Buch behalten.“
„Danke schön“, sagte ich höflich.
„Sie lesen gerne Science Fiction und Fantasyliteratur?“ fragte die Moderatorin.
Ich bejahte.
„Der Trend geht allerdings zum Thriller“, belehrte mich die Opdrukken, „Brauchen Sie wirklich all diese Fantasyromane?“
Ihre Frage weckte meinen Stolz: „Ich mag diese Richtung halt“, hielt ich patzig entgegen.
Die Moderatorin lächelte nachsichtig: „Aber diese Titel sind doch Schnee von gestern. Und bedenken Sie, wie viel Platz sie Ihnen an der auffälligsten Stelle ihres Regals nehmen. Sie haben diese Bücher genau auf Augenhöhe stehen.
Sie begann die Bücher auszuräumen: „An dieser wichtigen Stelle erhält der Betrachter den ersten, den entscheidenden Eindruck von Ihrer Bibliothek. Hierhin gehören die trendigen Titel, die Ihren Gästen zeigen, dass Sie mit dem Zeitgeist gehen.“
Sollte ich mich in meinem Geschmack dem Diktat des Zeitgeistes unterordnen? Das gefiel mir nicht und ich setzte zu einer deftigen Erwiderung an. Ich hielt meine Zunge jedoch im Zaum als ich sah, dass der Rotbart seine Kamera genau auf mich hielt. Vor wer weiß wie vielen Zuschauern wollte ich lieber keinen Streit mit dieser wortgewandten Person führen.
„Hier“, erklärte die Opdrukken, während sie kniend das unterste Regalbrett frei räumte, „gehören solche Exoten hin. Aber hier kriegen wir Ihr ganzes Science Fiction Sammelsurium nicht unter“, sie richtete sich auf und sah mich herausfordernd an, „Von welchen dieser Bücher können Sie sich trennen?“
„Trennen?“ erwiderte ich verdutzt, „Was wollen Sie damit sagen?“
Die Moderatorin sah mich mitleidig an: „Wollen Sie das alles wirklich behalten? Denken Sie daran, wie viel Platz Sie schaffen, wenn Sie ein paar Titel dem Altpapier übergeben. Platz, den Sie brauchen, um Ihren Gästen Thriller zu präsentieren, die gefragter sind.“
„Ich werde keines dieser Bücher wegwerfen“, brauste ich auf.
„Na hören Sie mal“, flötete die Opdrukken, „Sie wollen doch eine Power-Bibliothek oder etwa nicht?“
Wieder wurde die Kamera auf mich gerichtet und ich konnte mir die Großaufnahme meines erzürnten Gesichtes auf den Bildschirmen vorstellen. Lieber schwieg ich als mich möglicherweise im Fernsehen zu blamieren.
„Denken Sie daran, dass Sie Platz für die neuen Bücher brauchen, die wir Ihnen kaufen“, säuselte die Moderatorin.
„Diese Bände können alle raus“ stieß ich gepresst hervor. Mit meiner Souveränität war es wohl doch nicht so weit her, wie ich dachte.
Die Opdrukken nickte zufrieden: „Sie werden sehen, wie Ihnen Ihre neue Heimbibliothek gefallen wird.“
Sie warf die Bücher in den Pappkarton.
„Und was bitte schön ist das hier?“ fragte sie mit spitzer Zunge und zog drei Sachbücher aus dem Regal.
„Politische Titel“, erklärte ich hastig, „die machen doch wohl was her.“
„Wirtschaftsthemen oder aktuelle Themen machen was her“, erklärte sie kopfschüttelnd, „aber doch nicht diese linke Krawallliteratur. Wollen Sie, dass Ihre Gäste denken, Sie wären so ein kauziger Altachtundsechziger?“
Ich presste die Lippen aufeinander und sagte lieber nichts.
„Das ist nur was für Ewiggestrige und gehört nicht in eine Power-Bibliothek.“ Mit diesen Worten landeten mehrere politische Analysen im Pappkarton.
Dann ließ sie ihren Blick wieder über die Buchrücken schweifen.
„Thomas Mann fehlt in Ihrem Regal“ stellte sie fest, „warum?“
Ein durchdringendes Augenpaar erwartete eine Antwort. Ich überlegte. Wir hatten ihn mal in der Schule durchgenommen und der Tod in Venedig gelesen. Er hatte mich damals herzlich wenig interessiert und daran hatte sich bis heute wenig geändert. Hilflos zuckte ich mit den Schultern.
„Thomas Mann brauchen Sie auf jeden Fall“, meinte die Moderatorin, „gerade jetzt, nachdem er von Reich-Ranicki in den letzten Jahren so hoch eingeschätzt wurde. Er darf in keinem Bücherregal fehlen.“
Ich nickte. Die Kamera brannte mir im Nacken.
„So“, fuhr die Opdrukken fort, „Ich denke, ich habe alles gesehen und weiß, welche Titel in Ihrer Bibliothek fehlen. Ich werde jetzt mit meinem Kollegen zu einer Buchhandlung fahren, wo wir bereits erwartet werden und dort für Sie einkaufen. Den überflüssigen Kram nehmen wir gleich mit zur Altpapiertonne.“
Wie auf Kommando hob das junge Pickelgesicht den Karton hoch. Ich sah zu wie er mit der Moderatorin die Wohnung verließ und mit ihnen meine Bücher. Keine Frage, meine Souveränität hatte sich in unbekannte Weiten verflüchtigt.
Braun sprach mich an: „Bis unsere Kollegen wieder hier sind, drehen wir ein paar Szenen mit Ihnen. Wir brauchen auf jeden Fall erstmal die Sequenz für den Anfang.“ Seine Stimme war tief und klang dennoch heiser, als ob er viel brüllte.
„Was für eine Sequenz?“ fragte ich matt.
„Stellen Sie sich mal hier vor den Scheinwerfer“, forderte er mich auf, „und dann sagen Sie, ´ich will eine Power-Bibliothek´.
„Das ist mir zu dämlich.“
„Nun machen Sie schon.“
Sein ärgerlicher Tonfall erschrak mich etwas und brachte mich dazu, seinem Wunsch nachzukommen.
„Ich will eine Power-Bibliothek“, sagte ich in die Kamera.
„Was war das denn“, bellte Braun, „Das könnte meine Großmutter zehn Mal besser. Sie wollen etwas, oder? Dann sagen Sie das auch druckvoller. Ballen Sie eine Faust so, als ob Sie eine Hantel stemmen würden. Und dann noch mal mit etwas mehr Elan, wenn ich bitten darf.“
„Ich will eine Power-Bibliothek.“
„Na bitte“, brummte der Regisseur, „es geht doch. Ist die Szene im Kasten?“
Der rotbärtige Kameramann nickte.
Wir drehten noch drei weitere Szenen. In einer stand ich nach Anweisung händeringend vor meinem Bücherregal und kam mir unglaublich lächerlich vor. Aber was soll´s, sagte ich mir. Bald ist der Spuk vorbei. Ich fühlte mich immer unwohler und sehnte das Ende dieses ganzen Theaters herbei. Kleinkemper ging es offensichtlich anders. Er beobachtete das Treiben mit unübersehbarer Faszination.
Nach anderthalb Stunden kehrte die Opdrukken zurück. Der Jüngling trug vier prall gefüllte Plastiktüten mit der Aufschrift einer großen Buchhandelskette. Unverzüglich begann die Moderatorin mein Regal zu bestücken.
„Die aktuellen Bestseller gehören immer auf Sichthöhe“, ermahnte sie mich, „Ihre Gäste müssen sie beim ersten Blick sehen können.“
Ich hörte mir ihre Ausführungen lustlos an. Mein Kopf tat weh.
„Dieser Titel“, sie hielt ein Buch hoch, „steht im Moment auf Platz eins der Bestsellerlisten. Werfen Sie doch mal einen Blick hinein.“
Wortlos nahm ich den Band entgegen. Mein Schädel brummte und ich wünschte, die Fernsehfritzen würden zum Ende kommen.
Die Opdrukken stellte meine neuen Bücher in das Regal. Bildbände sah ich, diverse Romane, ich las den Namen Thomas Mann, Thriller, wie sie es angekündigt hatte. Ich beschloss, sie werken zu lassen und setzte mich auf einen Sessel, um einen Blick in den ersten Platz der Bestsellerlisten zu werfen. Ich schlug den Roman auf und las einige Zeilen. Ich rieb mir die Augen. Das Lesen strengte an.
„Wunderbar“, rief die Moderatorin: „Er schmökert in seinem neuen Buch. Los, das musst Du filmen.“
Der Rotbart kam ihrer Aufforderung nach und ich machte gute Miene zum Spiel. Dann wandten sie sich wieder dem Regal zu.
Ich versuchte, weiter zu lesen, aber der Text kam mir mit jedem Wort zäher und ermüdender vor. ´Das ist Deutschlands beliebtestes Buch zur Zeit´, versuchte ich mir einzureden, ´das muss Dir doch gefallen, wenn es so gefragt ist´.
Vor meinem Buchregal nahm das Fernsehteam die letzte Szene auf. Die Opdrukken erklärte den Zuschauern, dass so und nicht anders eine Powerbibliothek auszusehen habe.
Ich versuchte mich weiter auf mein neues Buch zu konzentrieren, doch es bereitete mir zunehmend Mühe, bei der Sache zu bleiben.
Die Moderatorin rief mich zu sich.
„Wir sind dann fertig“, erklärte sie, „nur noch die Schlussszene fehlt, Sie stehen begeistert vor Ihrer neuen Power-Bibliothek“. Diese Szene war schnell im Kasten. Wir verabschiedeten uns und sie verließ mit ihrem Team meine Wohnung, begleitet von Kleinkemper, der ihr ständig versicherte, er wäre ein geeigneter Kandidat für eine weitere Folge der Powerbibliothek. Als hätte der Alte jemals ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen.
Schließlich war ich endlich allein. Ich atmete tief durch. Eigentlich hätte ich froh sein sollen. Ich nannte, ohne einen Cent dafür bezahlt zu haben, eine beträchtliche Anzahl neuer Bücher mein eigen. Jede Leseratte hätte an meiner Stelle einen Freudentanz vollführt. Doch ich fühlte mich stattdessen ausgelaugt, als hätte ich in den letzten Stunden Möbel gestemmt. Erstmal lege ich mich einige Stunden hin, beschloss ich. Ich schlief tatsächlich tief und fest bis zum Abend.

Nach dem Nickerchen fühlte ich mich etwas besser. Aus dem Kühlschrank holte ich mir etwas zu trinken und ging zurück zum Buchregal. So sah sie also aus, meine Power-Bibliothek. Ich grinste, trank einen Schluck und ließ meinen Blick über die Bücher schweifen. Mir wurde etwas unbehaglich, während ich meinen neuen Lesestoff betrachtete. Ich wendete mich ab, denn das Regal wollte mir immer weniger gefallen. Dann entdeckte ich den Roman, der die Bestsellerlisten anführte, auf dem Wohnzimmertisch. Ich nahm ihn in die Hand und setzte mich. Wenigstens ein paar Seiten wollte ich mir zu Gemüte führen. Aber das Lesen fiel mir schon nach einigen Sätzen schwer. Ich begriff den Inhalt nicht mehr, obwohl es seichte, einfache Literatur war, und kam mit dem Text nicht weiter, so sehr ich es auch versuchte. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen Ich atmete tief durch. Dann zwang ich mich weiter zu lesen. Ich quälte mich durch den Text wie ein Erstklässler, langsam mit dem Finger die Zeilen entlang fahrend. Es nutzte nichts, ich konnte nicht mehr lesen. Entnervt warf ich das Buch zu Boden.
Zuletzt geändert von Jürgen am 06.08.2006, 19:09, insgesamt 8-mal geändert.

steyk

Beitragvon steyk » 13.08.2006, 08:27

hallo gurke,
ich kann mich lisas urteil nur anschließen und finde es
traurig, daß ich nicht schon viel früher die zeit gefunden
in dieser rubrik zu leben. mir ist so einiges entgangen.

gruß stefan

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 21.12.2006, 20:41

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Beitragvon leonie » 21.12.2006, 22:05

Dieser Text ist mir während der Urlaubszeit durchgerutscht. Vielen Dank fürs ausgraben. Das ist wirklich gelungen, Jürgen!!! Und sehr toll erzählt!!!

Liebe Grüße

leonie

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 21.12.2006, 22:48

Hallo Leonie

Vielen Dank für Deine Worte. Ich habe mich sehr gefreut.

@ Lichl,
hast Du die ganzen Zweien im Text etwa per Hand in Anführungszeichen geändert? :eek:
Vielen Dank für´s Ausgraben.

MfG

Jürgen

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 22.12.2006, 16:51

"hast Du die ganzen Zweien im Text etwa per Hand in Anführungszeichen geändert? "

:mrgreen: Klar, war doch nicht so viel...

(Nee, gab nen kleinen Trick)

Freut mich natürlich besonders, dass wir dir, leonie, hier noch einen ganz unbekannten zeigen konnten...

(Ist das alles schon wieder 5 Monate her...? :eek: )

Liebe Grüße,
lichelzauch


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