Der Alte

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Herby

Beitragvon Herby » 07.09.2006, 10:04

Der Alte

Alles ist vom Feinsten, und doch stimmt irgendetwas nicht an diesem Abend. Der gemietete Saal in einem Fünf – Sterne Hotel ist mit Blumengestecken und Kerzen auf den runden Tischen festlich geschmückt, zur Begrüßung spielen Studenten der Musikhochschule leichte Klassik, das kalt – warme Buffet sieht erlesen und opulent aus, nach dem Essen wird eine Band zum Tanz aufspielen, die Gäste erscheinen in eleganter Abendkleidung und voll freudiger Erwartung eines schönen Festes. Mein Kollege hat es sich zweifelsfrei etwas kosten lassen, seinem 50. Geburtstag einen stilvollen Rahmen zu verleihen und ihn für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Da ich um die große Zahl der Eingeladenen, etwa 120 Personen, wusste und das Schlangestehen bei Gratulationsdefilées hasse, war ich schon sehr früh im Hotel und somit einer der ersten gewesen, der seine Glückwünsche nebst Geschenk überbringen konnte. Nun stehe ich mit einem Glas Champagner etwas abseits, gebe mich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hin, betrachte die nicht abreißende Schar der Gratulanten, die an dem gut gelaunten Jubilar und seiner Frau vorbeiziehen, und forsche in Gedanken nach der Quelle meiner Unzufriedenheit, als mein Blick auf meinen Kollegen fällt. Er plaudert charmant, schüttelt Hände und umarmt, nimmt lächelnd Präsente und gute Wünsche entgegen, und plötzlich weiß ich, was für mich nicht stimmt.
Während ich ihm zusehe, schiebt sich vor meine Augen ein anderes Gesicht und ein anderes Lächeln, dem ich vor langer Zeit einmal begegnet bin …

Ich wartete vor dem Hauptbahnhof, wo mich ein Freund mit dem Wagen abholen wollte. Da es mir in der großen Eingangshalle zu laut und voll war, war ich hinaus auf den Vorplatz gegangen. An diesem warmen Sommerabend herrschte das übliche Treiben, das man überall vor Hauptbahnhöfen antrifft: Berufspendler auf dem Weg nach Hause, Reisende, deren Fahrt hier begann oder endete, ankommende und abfahrende Taxis, abgehetzte Berufstätige, die nach Ladenschluss in den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe tätigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame, denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Während ich rauchend auf und ab ging, bemerkte ich einen alten Mann, der rechts hinter dem Seitenausgang stand und seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen zur letzten Gruppe gehörte. Unter einem dünnen, verschlissenen Mantel trug er eine viel zu weite, mehrfach geflickte Hose und ein verschmutztes Sweatshirt. Die Sandalen, in denen seine nackten Füße steckten, wurden von ausgefransten Lederriemen nur notdürftig zusammengehalten. Sein von den Entbehrungen des Lebens gezeichnetes und von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ließ ihn vermutlich älter aussehen als er tatsächlich war. Es wurde eingerahmt von schulterlangen, leicht ergrauten Haaren, die im Gegensatz zu seiner Kleidung gepflegt aussahen und sorgfältig gekämmt waren. Er sprach niemanden um Geld oder Zigaretten an, stand einfach nur da, die Hände vor der Brust gekreuzt, das Treiben um sich herum betrachtend. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich in Augen, die mehr Tiefen als Höhen gesehen hatten. Er nickte mir freundlich zu. Ich erwiderte seinen Gruß und schaute rasch weg, weil ich ihm nicht den Eindruck vermitteln wollte ihn anzustarren wie ein fremdartiges Insekt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr sagten mir, dass mein Freund sich offenbar verspätet hatte, also schlenderte ich weiter über den Vorplatz. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich aus den Augenwinkeln nach dem Alten schaute, der auf mich eine eigenartige, mir unerklärliche Anziehungskraft ausübte. Plötzlich klingelte mein Handy. Es war mein Freund, der mir erklärte, er warte am Hinterausgang des Bahnhofs auf mich. Der Weg zum Haupteingang würde mich direkt an dem Alten vorbei führen. Ich griff in die Tasche, kramte etwas Kleingeld hervor und trat auf ihn zu. Mir war aufgefallen, dass er mich beobachtet hatte, aber entgegen meiner Erwartung öffnete er seine Hände nicht. Ich befürchtete schon, meine Absicht, die er erkannt haben musste, hätte ihn verletzt, als er mit einem Mal seine Hände löste. Unsicher gab ich ihm die Münzen und wollte meine Hand wieder zurückziehen, doch zu meinem Erstaunen umfasste er sie und hielt sie für Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, fest. Keiner von uns sprach ein Wort, wir schauten uns nur an und ein Lächeln, wie ich es so schön und tief noch nie gesehen hatte, erhellte sein faltiges Gesicht.
Es war ehrlich überrascht, dankbar, voller Herzlichkeit und, ja, Güte. Aus ihm sprachen eine stille Würde, heitere Gelassenheit und zugleich ein großes Wissen um die Unvollkommenheit der Welt und ihrer Menschen. In dieses Lächeln hätte ich stundenlang schauen, in ihm wie in einem Buch des Lebens lesen können.
Behutsam löste ich mich schließlich aus seinem Griff und ging auf den Haupteingang zu. Mein Freund, dem ich kurz darauf im Auto von dem alten Mann erzählte, meinte nur: „Na und? Was machst du von dem denn für ein Aufhebens? Ist doch nur einer von Tausenden, die vor Bahnhöfen herum lungern.“ Ich schwieg. Gewiss, er war nur einer unter Vielen, aber für mich war er zu jemand ganz Besonderem geworden. Ohne dass es ihm und mir in dem kurzen Moment an jenem Abend bewusst gewesen wäre, hatte er mir sehr viel mehr gegeben als ich ihm mit meinen Münzen.
Meine Wege sollten mich in den kommenden Jahren noch oft zu diesem Bahnhof führen, doch dem Alten bin ich nie wieder begegnet.
Sein Lächeln aber sehe ich noch heute.

„… wer hätte das gedacht?“ Die Worte meines Kollegen reißen mich aus meinen Erinnerungen. „So danke ich Ihnen allen, auch im Namen meiner Frau, für Ihr Kommen und Ihre Geschenke sehr herzlich und hoffe, wir haben einen schönen Abend. Das Buffet ist eröffnet.“
Es ist sein Lächeln, das mir nicht gefällt.

Trixie

Beitragvon Trixie » 20.09.2006, 22:39

Guten Abend Herby!

Ich finde das ganz spannend und echt toll, dass du da wirklich noch dran arbeiten willst! Ich danke dir für diese tolle Geschichte und freue mich schon auf die neue Fassung, wobei ich diese auch sehr mag!

Einen angenehmen Abend
Trixie

Herby

Beitragvon Herby » 20.09.2006, 22:51

Hi Trixie,

Mensch, bist du aber flott ... :-)

Klar will ich an meinen Texten arbeiten, sonst brauchte ich sie hier nicht einzusetzen und du / ihr euch nicht die Zeit ( und manchmal Mühe ) des Lesens und Antwortens zu machen.

Danke und herzliche Abendgrüße

Herby

Bloodbrother

Beitragvon Bloodbrother » 25.09.2006, 07:10

Hallo Herby,
eine tolle Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe, zumal sie doch ziemlich lebensnah eine Grosse Schwachstelle in unserer Gesellschaft aufzeigen. Wir denken meistens nur noch an uns selbst. Ich glaube, wie Gerda, dass da noch mehr heraus zu holen wäre und du eine etwas längere Erzählung daraus machen könntest.

LG Michael

Rala

Beitragvon Rala » 25.09.2006, 18:49

Hallo Herby!

Mich hat dein Text auch sehr angesprochen. Nachdem die anderen jetzt schon so viele Verbesserungsvorschläge gemacht haben, denen ich mich teilweise auch anschließen kann - allerdings würde ich gar nicht so viel ändern, natürlich kann man viel machen, aber ich finde, man muss es nicht unbedingt - möchte ich dich jetzt nicht noch mit meinen Kleinigkeiten zusätzlich belasten und warte auch erst mal gespannt auf deine Überarbeitung. Ich finde im Übrigen, dass das mit dem Schlusssatz gar nicht so schwach ist, also, mir wurde das schon sofort klar.

Liebe Grüße,
Rala

selina

Beitragvon selina » 27.09.2006, 16:57

Lieber Herby,

also mir hat deine kleine Geschichte gefallen - so wie sie da steht. Du hast sie mit Gefühl geschrieben und das spürt man. Für mich das Wichtigste :-)

lg selina

Herby

Beitragvon Herby » 02.10.2006, 19:33

Hallo Michael, Rala und selina!

Wenn ich auf die Daten Eurer Antworten sehe, schlägt mein schlechtes Gewissen aber heftig angesichts meiner verspäteten Antwort! Bitte betrachtet sie nicht als Ausdruck von Unhöflichkeit! Es liegt nur daran, dass ich momentan aus verschiedenen Gründen nicht mehr so häufig wie früher im Salon bin.

Jedenfalls danke ich euch sehr herzlich für eure Zustimmung und die Beschäftigung mit meinem "Alten". Ob ich das mit der Erzählung schaffe, bleibt abzuwarten. Ich bleibe jedenfalls dran. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Liebe Grüße an euch
Herby

Herby

Beitragvon Herby » 08.10.2006, 18:51

Der Alte ( 2. Fassung )

Alles ist vom Feinsten, und doch stimmt irgendetwas nicht an diesem Abend. Der gemietete Saal in einem Fünf – Sterne Hotel ist mit Blumengestecken und Kerzen auf den runden Tischen festlich geschmückt, zur Begrüßung spielen Studenten der Musikhochschule leichte Klassik, das kalt – warme Buffet sieht erlesen und opulent aus, nach dem Essen wird eine Band zum Tanz aufspielen, die Gäste erscheinen in eleganter Abendkleidung und voll freudiger Erwartung eines schönen Festes. Mein Kollege hat es sich zweifelsfrei etwas kosten lassen, seinem 50. Geburtstag einen stilvollen Rahmen zu verleihen und ihn für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Da ich um die große Zahl der Eingeladenen, etwa 120 Personen, wusste und das Schlangestehen bei Gratulationsdefilées hasse, hatte ich mich sehr früh im Hotel eingefunden und meine Glückwünsche nebst Geschenk überbracht.
Nun stehe ich mit einem Glas Champagner etwas abseits, gebe mich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hin, betrachte die nicht abreißende Schar der Gratulanten, die an dem gut gelaunten Jubilar und seiner Frau vorbeiziehen, und forsche in Gedanken nach der Quelle meiner Unzufriedenheit, als mein Blick auf meinen Kollegen fällt. Er plaudert charmant, schüttelt Hände, nimmt lächelnd Präsente und gute Wünsche entgegen. Plötzlich begreife ich, was für mich nicht stimmt.
Während ich ihm zusehe, schiebt sich ein anderes Gesicht mit einem anderen Lächeln vor meine Augen, eine Begegnung vor langer Zeit …

Ich wartete vor dem Hauptbahnhof, wo mich ein Freund mit dem Wagen abholen wollte. Die laute und überfüllte Eingangshalle ließ mich zum Vorplatz ausweichen. An diesem warmen Sommerabend herrschte das übliche Treiben, das man überall vor Hauptbahnhöfen antrifft: Berufspendler auf dem Weg nach Hause, Reisende, deren Fahrt hier begann oder endete, ankommende und abfahrende Taxis, abgehetzte Berufstätige, die in den bis spät in den Abend geöffneten Geschäften der Bahnhofsarkaden schnell noch Einkäufe erledigen wollten, sowie Obdachlose und Einsame, denen der Bahnhof das Wohnzimmer ersetzte.
Während ich rauchend auf und ab ging, bemerkte ich einen alten Mann, der rechts hinter dem Seitenausgang stand und seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen zur letzten Gruppe gehörte. Unter einem dünnen, verschlissenen Mantel trug er eine viel zu weite, mehrfach geflickte Hose und ein verschmutztes Sweatshirt. Die Sandalen, in denen seine nackten Füße steckten, wurden von ausgefransten Lederriemen nur notdürftig zusammengehalten. Sein von den Entbehrungen des Lebens gezeichnetes und von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ließ ihn vermutlich älter aussehen als er tatsächlich war. Es wurde eingerahmt von schulterlangen, leicht ergrauten Haaren, die im Gegensatz zu seiner Kleidung gepflegt aussahen und sorgfältig gekämmt waren. Er sprach niemanden um Geld oder Zigaretten an, stand einfach nur da, die Hände vor der Brust gekreuzt, das Treiben um sich herum betrachtend. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich in traurige Augen, die mehr Tiefen als Höhen gesehen hatten. Er nickte mir freundlich zu. Ich erwiderte seinen Gruß, schaute aber rasch weg, weil ich ihm nicht den Eindruck vermitteln wollte ihn anzustarren wie ein fremdartiges Insekt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr sagten mir, dass mein Freund sich offenbar verspätet hatte, also schlenderte ich weiter über den Vorplatz. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich aus den Augenwinkeln nach dem Alten schaute, der auf mich eine eigenartige, mir unerklärliche Anziehungskraft ausübte. Plötzlich klingelte mein Handy. Es war mein Freund, der mir erklärte, er warte am Hinterausgang des Bahnhofs auf mich. Der Weg zum Haupteingang würde mich direkt an dem Alten vorbei führen. Ich griff in die Tasche, kramte etwas Kleingeld hervor und trat auf ihn zu. Mir war aufgefallen, dass auch er mich beobachtet hatte, aber entgegen meiner Erwartung öffnete er seine Hände nicht. Ich befürchtete schon, meine Absicht hätte ihn verletzt, als er mit einem Mal seine Hände löste. Unsicher gab ich ihm die Münzen und wollte meine Hand wieder zurückziehen, doch zu meinem Erstaunen umfasste er sie und hielt sie für Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, fest. Keiner von uns sprach ein Wort, wir schauten uns nur an und ein Lächeln, wie ich es so schön und tief noch nie gesehen hatte, erhellte sein faltiges Gesicht.
Es war ehrlich überrascht, dankbar, voller Herzlichkeit und, ja, Güte. Aus ihm sprachen eine stille Würde, heitere Gelassenheit und zugleich ein großes Wissen um die Unvollkommenheit der Welt und ihrer Menschen. In dieses Lächeln hätte ich stundenlang schauen, in ihm wie in einem Buch des Lebens lesen können.
Behutsam löste ich mich schließlich aus seinem Griff und ging auf den Haupteingang zu. Mein Freund, dem ich kurz darauf im Auto von dem alten Mann erzählte, meinte nur: „Na und? Was machst du von dem denn für ein Aufhebens? Ist doch nur einer von Tausenden, die vor Bahnhöfen herum lungern.“ Ich schwieg. Gewiss, er war nur einer unter Vielen, aber für mich war er zu jemand ganz Besonderem geworden. Ohne dass es ihm und mir in diesem kurzen Moment an jenem Abend bewusst gewesen wäre, hatte er mir sehr viel mehr gegeben als ich ihm mit meinen Münzen.
Meine Wege sollten mich in den kommenden Jahren noch oft zu diesem Bahnhof führen, doch dem Alten bin ich nie wieder begegnet.
Sein Lächeln aber sehe ich noch heute.
„… wer hätte das gedacht?“ Die Worte meines Kollegen reißen mich aus meinen Erinnerungen. „So danke ich Ihnen allen, auch im Namen meiner Frau, für Ihr Kommen und Ihre Geschenke sehr herzlich und hoffe, wir haben einen schönen Abend. Das Buffet ist eröffnet.“
Es ist sein Lächeln, das mir nicht gefällt.



Dies ist die sprachlich überarbeitete Fassung, in die zwar nicht alle, aber doch viele von Magics Verbesserungsvorschlägen eingeflossen sind. Liebe Magic, nochmals Danke für deine Hilfe.
Die von Gerda und Trixie angeregte Ausarbeitung des Alten zu einer Erzählung wird, so sie mir denn überhaupt gelingt, allerdings viel Zeit in Anspruch nehmen. Doch sollte ich es schaffen, werde ich das Endergebnis gerne hier einsetzen, um Eure Reaktionen zu erfahren.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 89 Gäste