Ein Sommer lang, ein Leben...

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scarlett

Beitragvon scarlett » 25.10.2006, 09:09

Ein Sommer lang, ein Leben...

Als sie damals, in der eisigen Dezembernacht vor gut einem Vierteljahrhundert den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig und mit wehenden Gedanken, um zum ersten Mal in ihrem Leben die Landesgrenze zu überschreiten, war er nicht bei ihr.
Er hatte sich schon Tage zuvor von ihr verabschiedet, leise und umständlich.
Dem Abschiedsfest, einer rauschenden Party mit all ihren Freunden, war er danach fern geblieben, sie fragte nicht weiter nach dem Warum.
Er blieb in seinem Land, das bald nicht mehr das ihre sein sollte, er blieb in seiner Sprache, die sie nur geliehen hatte, er blieb zurück in der Dunkelheit, die sie mit jedem gefahrenen Kilometer hinter sich ließ. Wenn sie auch staatenlos und vogelfrei war, so ahnte sie doch, daß am Ende der langen Nachtfahrt Licht auf sie warten würde. Auf ihn hingegen wartete nichts als der rumänische Alltag des Jahres 1981.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“– Die Stimme der Stewardess holte sie aus ihren Träumen. Sie blickte auf die Uhr. Noch gut eine Stunde Flugzeit, dachte sie. Eine Stunde nur trennte sie noch von dem Land, das sie einst mit einem one-way-ticket verlassen hatte und das mittlerweile ein anderes geworden war. So zumindest hatte sie es den Medien und vielen Augenzeugenberichten entnommen. Trotzdem, so hatte sie beschlossen, wollte sie sich ihm aus sicherem Abstand näheren. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sie die Grenze, dieses grausame Stückchen Niemandsland im Nirgendmehr, wo mit kehliger Stimme bewaffnete Milchgesichter den Sozialismus sicherten, nie wieder überschreiten bzw. überfahren wollte. Nun also kam sie „von oben“ –
Und sie lächelte unwillkürlich, als ihr bewußt wurde, wie sehr die Redensart der Siebenbürger Sachsen in diesem Fall wörtlich zutraf: reisten sie nämlich nach Deutschland aus, dann sagten sie „nach oben“ und nach Rumänien fuhren sie dementsprechend von oben „hinunter“.

Sie machte es sich so gut es ging in dem engen Sitz der Maschine bequem und lauschte noch eine Weile dem Klappern der Servierwagen sowie dem gleichmäßigen, ruhigen Brummen der Motoren. Ab und an streiften Wortfetzen bemühter Konversation ihr Ohr, mal in dem breiten, etwas schwerfälligen Deutsch ihrer ehemaligen Landsleute, dann wieder im Dialekt, den sie zwar verstand aber nicht beherrschte und vereinzelt auch in der Sprache, in der sie einst wie in ihrer Muttersprache zu Hause war. Sie spürte, wie ihr Herz mit jedem verstandenen Wort heftiger zu schlagen begann.
„Alexandru“, flüsterte sie vor sich hin und spürte, wie sich ihre Gedanken in der blauen Tiefe verloren aus der jetzt die Bilder wieder aufstiegen...

Es war die Liebe zum Wort, zur Sprache, die sie einst zusammengeführt hatte.
Sie lebte damals am Rande einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf, getrennt war. Leben an der Grenze...Sie überquerte sie täglich, um in die deutsche Schule des Dorfes zu gehen.
Hinter den Wohnblocks erstreckten sich die Felder und Wiesen bis zu den Wäldern des siebenbürgischen Hochlandes. Die Tristesse des Städtchens, das nicht viel zu bieten hatte, schien sich hier, an ihrem Rande, aufzulösen.
Es war an einem dieser Tage, an dem der Sommer sich plötzlich und mit aller Macht über Mensch und Natur stülpte. Die Luft vibrierte und der schwere Duft blühender Akazien vermischte sich mit dem Leuchten der Wiesen, aus denen roter Mohn verheißungsvoll winkte.

Sie war 15, kam von der Schule und da saß er, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie früher kaum wahrgenommen hatte, auf der Bank vor ihrem Wohnblock. Sie grüßte und setzte sich zu ihm.
„Ich lese gerade ´ Sie tanzte nur einen Sommer ´ und du?“, fragte sie neugierig auf sein Buch schielend, das nun geschlossen auf seinen Knien lag. In seinen schwarzen, ernsten Augen jagten sich die Sonnenstrahlen, winzige Punkte waren das, die immer wieder aufblitzten, sobald er sprach. Und er sprach gern und viel.
Er war 19, stand kurz vor seinem Abitur und empfahl ihr Anna Karenina.
Und - er war Rumäne.


scarlett, 2006
Zuletzt geändert von scarlett am 06.11.2006, 19:27, insgesamt 2-mal geändert.

maxl

Beitragvon maxl » 05.11.2006, 18:15

Liebe Scarlett,

Ja, der Mohn ist wichtig. Vielleicht etwas in der Richtung: Ihr Blick saugte sich fest an dem rotglühenden Mohn.

Die letzte Anmerkung bez. des "ich lese..." habe ich nicht verstanden. Geht es um die Wiederholung?


Ja, um die WH geht es.

lg
maxl

scarlett

Beitragvon scarlett » 06.11.2006, 19:28

Ich habe nochmal korrigiert, Maxl, is es jetzt ok?

Gruß,
scarlett

maxl

Beitragvon maxl » 06.11.2006, 23:38

Ja, Scarlett, das ist gut so.

lg
maxl

maxl

Beitragvon maxl » 08.11.2006, 11:32

Liebe Scarlett,

ich kann deine PN nicht beantworten, weil ich die Meldung kriege, du bist weg.

lg
maxl

scarlett

Beitragvon scarlett » 08.11.2006, 16:45

Lieber Maxl,

ich bin wieder da!

Gruß,

scarlett


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