Retusche

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Yorick

Beitragvon Yorick » 08.04.2008, 13:06

Vielen Dank für die Kommentare, die mir einige Stellen am Text gezeigt haben, an denen ich einfach zu wenig Worte benutzt habe. Und es vielleicht noch immer zu wenig sind...

2. Fassung

Auf den Folien habe ich gemalt, auf diesen dünnen Folien, die ich in den Tag gehängt habe und die an dir kleben blieben, wenn deine Stirn sich in Falten legte oder du wortlos geblieben bist. Ganz dünne Folien, ich musste sie kaum andrücken, nur hier und da etwas gerade ziehen, um dann darauf die Fehler zu korrigieren, die sich in das Original eingeschlichen haben. Mit feinen Strichen habe ich die Nachlässigkeiten des Alltags beseitigt, ein verfehltes Lächeln repariert oder einen verrutschten Blick aufgefangen. Ja, das muss ich gewesen sein.
Um das Leben schöner zu machen! Wir haben doch nur dieses eine, und das soll doch schön sein, das ist doch unser! Wem nützen hässliche Erinnerungen, wenn es um die Liebe geht? Die schönen Momente soll man rahmen! Sie sind so selten, wenn man ehrlich ist - so hab ich all die Augenblicke noch zu Schöneren gestreckt.
So muss es gewesen sein! Ich hab dich dutzendfach übermalt und korrigiert, dich mit einer Folie nach der anderen überklebt – schau, dein Mund ist ja hundertfach verschoben und hier, deine Augen, von Linien ganz zerzaust, ich erkenne dich kaum noch unter all den Skizzen und Retuschen.
Komm her, mein Schatz, das brauchen wir doch alles nicht! Weg damit, weg mit diesen aufgemalten Augenblicken, die sind nicht echt. Halt still, ich zieh dir vorsichtig das geschönte Lachen vom Gesicht. Ssscht. Und hier, die Ecke hat sich schon abgelöst, es war doch kein echter Kuss, das war es nicht. Siehst du, es geht ganz einfach, es tut nicht weh, es tut nicht weh. Deine Locken, als du noch Locken hattest, da war nicht dieser Schimmer drin, ich zieh sie dir vom Nacken, ruhig, ich hab es gleich.
Hier, auf deinem Bauch, soviel Wärme, da war soviel Wärme und ein sanftes Beben. So schön. Oh Gott, war ich das etwa auch? Hab ich das aufgemalt, wo vielleicht nur Nabel war und Magengrummen? Dann muss es weg! Runter mit den falschen Strichen, ich zieh sie dir vom Leib. So halt doch still und schreie nicht, das kann nicht so gewesen sein, das habe ich geschönt.
Und noch mehr! Hier, an deinen Schenkeln, alles meine Korrekturen, viel zu schön um echt zu sein. Lass mich los, es ist schon schwer genug. Ich wünsche mir doch auch, dass es wirklich wäre. Aber es sind nur Folien, so wie hier, zwischen deinen Beinen. Hör auf zu schreien, so war es nicht, und eine noch, und eine letzte, ja, auch an den Innenseiten.
Jetzt ist alles weg, mein Schatz. Ssscht, mein Schatz, es ist ja alles gut, es ist ja alles gut. Nicht weinen, meine Liebe, es waren doch nur Retuschen. Wir wollen doch wirklich leben, stimmt's? Das wollen wir doch?


1.Fassung

Auf den Folien habe ich gemalt, auf diesen dünnen Folien, die ich in den Tag gehängt habe und die an dir kleben blieben, ganz dünne Folien, auf denen ich dann die Fehler korrigiert habe, die sich in das Original eingeschlichen haben. Mit feinen Strichen habe ich Nachlässigkeiten beseitigt, ein verfehltes Lächeln repariert oder einen verrutschten Blick aufgefangen. Das muss ich gewesen sein, dutzendfach übermalt und korrigiert, dass du dich kaum bewegen kannst. Ja, so muss es gewesen sein.
Das brauchen wir doch nicht, komm her mein Schatz, ich kann dich kaum noch sehen unter all den Folien, das muss alles weg, das ist doch nicht echt. Halt still, ich zieh dir vorsichtig das geschönte Lachen vom Gesicht. Ssscht. Und hier, die Ecke hat sich schon abgelöst, es war doch kein echter Kuss, das war es nicht. Siehst du, es geht ganz einfach, es tut nicht weh, es tut nicht weh. Deine Locken, als du noch Locken hattest, da war nicht dieser Schimmer drin, ich zieh sie dir vom Nacken, ruhig, ich hab es gleich. Die auf deinem Bauch ist groß, die kann ich kaum lösen, halt doch still, auf der hab ich so viel Wärme drauf gemalt, so viel Wärme hab ich auf deinen Bauch gemalt, die war doch niemals da, nicht wahr? Nein, die war niemals da, die hab ich dorthin geklebt. So wie hier, zwischen deinen Beinen, so war es nicht. Warte, eine noch, und eine letzte, ja, auch an den Innenseiten. Jetzt ist alles weg, mein Schatz. Ssscht, mein Schatz, es ist ja alles gut, es ist ja alles gut, nun ist alles weg, ich kann dich wieder sehen. Wir wollten doch wirklich leben, stimmt's? Das wollten wir doch?
Zuletzt geändert von Yorick am 04.05.2008, 21:16, insgesamt 1-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 08.04.2008, 22:33

Hast Du nicht, liebe Sethe,

man kann Deine Argumentation gut nachvollziehen.

Und Dir, Yorick, müchte ich erstmal ein herzliches Willkommen im Blauen Salon zurufen.

Ich lese wie Sam und Sethe vom Überstülpen von Wunschgedanken und Erwartungen. Von Mord, SM oder Puppen kann ich hier nichts finden. Der Ich-Erzähler hat sich seine Partnerin oder seinen Partner zurecht gedacht, vielleicht zurecht erzogen (hier passt die Dominanz), wollte sie/ihn nicht akzeptierren, wie er/sie ist, doch er erinnert sich daran, dass er wirklich leben wollte. Und zerstört seine Wunschvorstellungen.

Zumindest kam er bei mir so an. Er wirkt intensiv und durchdacht geschrieben. Ich finde ihn sehr gut.

Schönen Abend

Jürgen

Yorick

Beitragvon Yorick » 08.04.2008, 23:52

Hallo Gurke,
Danke für den Willkommensgruß. Der Blaue Salon ist ja immerhin einer der wenigen Orte, an denen man noch rauchen darf. Mh, der Scherz ist gewiss nicht neu, aber ich bin es dafür.

Bei der Vorstellung von Sado-Puppen komme ich ins Grübeln... Ist aber wohl auch ein alter Hut seit "Chucky".

Danke für deine Rückmeldung und das Lob. Auch dir einen schönen Abend.

@sethe:
Durch welche Stelle, durch welche Wort wird denn in dem Text tatsächlich ausgeübte körperliche Gewalt beschrieben?


Durch keines. Dennoch sollte es sich nicht wie ein kuscheliger Sofaabend lesen (hoffe ich).

Das ist eine der Fragen, die mich beschäftigen. Klappt der Wechsel, die Drift? In einem aufgepeppten Beziehungsgespräch könnte das Bild der Folien, der Retuschen ja noch auftauchen, der Gedanke ist nachvollziehbar und hat möglicherweise ja auch "was Gutes". Und dann wird es real - oder auch nicht. Das Bild könnte real werden - als Visualisierung der inneren Vorgänge. Vielleicht würde man es auf einer Bühne akzeptieren? In beiden Fällen? Keine Ahnung.

entheddernde Grüße,
Y.

Sam

Beitragvon Sam » 09.04.2008, 05:21

Servus Yorick,

Bei der Vorstellung von Sado-Puppen komme ich ins Grübeln... Ist aber wohl auch ein alter Hut seit "Chucky".


...ich glaube Mucki meinte keine Sado-Puppen ala Chucki. Und auch Tom Sharpe wäre weniger ein Bezug als vielleicht der neue Film von Craig Gillespie: Lars und die Frauen, wo ein Typ mit einer Gummipuppe zusammenlebt.

Im Übrigen empfinde ich diesen Text schon als "gewalttätig". Aber nicht im körperlichen Sinn. CSI-geschädigt, wie wir sind, sehen wir den Gipfel pathologischen Handelns sehr oft in körperlicher Gewalt. Viel alltäglicher ist aber die psychische, wenn Menschen versuchen ihr Umfeld nach ihren Wunschvorstellungen zu formen, sei es im Privaten oder auch in der Arbeitswelt. Gerade dort entsteht mit der Zeit das, was auch im Text beschrieben wird. Die Bewegungslosigkeit durch die unzähligen, übereinandergeklebten Folien.

Du siehst Yorick, dein Text hat eine assoziative Dynamik. Und auch wenn diese an deiner Schreibintention vorbeigeht, so ist es doch sehr anregend, ihr zu folgen.

LG

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.04.2008, 11:56

Hallo Yorick,

nein, ich meinte keine Sadopuppen, sondern eine ganz "normale" lebensgroße Gummipuppe. Und das wäre für mich das Kranke an dem Typ. Er lebt mit einer Puppe zusammen, hat sie angemalt, mit Folien bedeckt, etc. Später nimmt er diese Folien wieder ab. Im Prinzip ist er in seiner kranken Welt total verheddert, weiß selbst nicht, was er tut.
Dass der Text nur innere Gedanken beschreiben soll, kann ich nicht nachvolllziehen. Dafür ist mir zu viel aktive Handlung im Text. Nein, ich stellte mir vor, wie er jeden Handgriff, den du beschreibst, genau so macht, eben mit der Puppe.

Dein Text ist wirklich in viele Richtungen interpretierbar, wie du an den Kommentaren gut sehen kannst.
Saludos
Mucki

Nicole

Beitragvon Nicole » 09.04.2008, 15:21

Hi Sethe,
also, ich lese die Gewalt, wobei ich keine körperliche meine, eigentlich weniger im Bild des Folie abziehens, sondern in der Art wir das Ich spricht und eben das Du nicht antwortet.
Die Art und Weise, wie Ich spricht, hat für mich dieses "irre", das mich an Jeannie erinnert
"Dein Lippenstift ist verschmiert ... Sie werden Dich nicht finden, denn Du bist bei mir" auch hier ist ja eigentlich keine Gewalt in den Worten, wohl aber in der Sprechweise, mit der Falco dies aussprach.

Nicole

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Beitragvon annette » 09.04.2008, 16:39

Ich stimme Nicole zu. Es ist der vermeintlich wohlmeinende Ton, der besagt "Ich weiß, was für Dich gut ist - halt nur still", der für mich schon etwas Gewalttätiges hat.

Zum anderen impliziere ich das Hantieren am Körper ohne Zutun oder Reaktion des anderen als eine Form der physischen Gewalt. Obwohl man natürlich sagen könnte, dass es hier keine Gegenwehr gibt.
Wobei das Ich versucht, sich zu rechtfertigen und das Du zu beschwichtigen und zu überzeugen.

Besonders unheimlich finde ich das Schweigen des Du in einer so emotionalen, intimen, dichten Situation.
Allein, dass das Ich ohne Punkt und Komma spricht, macht ja das Verhältnis beider deutlich. Okay, das hat nichts mit körperlicher Gewalt zu tun.

Gruß - annette

Yorick

Beitragvon Yorick » 09.04.2008, 19:39

Die vielen verschiedenen Ansichten und Deutungsmöglichkeiten zu diesem Text freuen mich sehr. Der Grundton ist da, und jeder Leser kann seine eigene Stimmlage mitsummen. Schön.

Im Gegensatz zu der Auffassung, ein Autor solte niemals seine eigenen Texte interpretieren, rede ich (manchmal) gerne über meine Absicht - um zu überprüfen, ob das auch im Text zu finden ist. Werkstatt eben. Natürlich ist das nicht einengend gemeint, und jede Deutung hat seine Berechtigung.

Mucki, meine Anmerkung über die Chucky-Puppe war eine reine assoziative Spinnerei - ich habe dich schon verstanden. Und deine Sichtweise steck ja ebenso im Text.

Vielen Dank an alle für die Reaktionen und die anregende Diskussion,

Yorick.

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Beitragvon Elsa » 10.04.2008, 19:28

Willkommen im Salon, Yorick (ein sehr schöner Nick),

Ich sehe da keine körperliche Gewalt, keinen Mord, keine Jeanny.
Ich sehe eine Idee. Eine verzweifelte Überlegung, wie es möglich sein könnte, mittels Abziehen der Alltags-, Gewohnheits-, und anderer Schichten, die die Liebe verdrängt haben.

Lieben Gruß
ELsa
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Yorick

Beitragvon Yorick » 15.04.2008, 00:01

Hallo Elsa,

ist jetzt auch schon ein paar Tage her, aber dennoch Danke für deine Rückmeldung und das Willkommen.

Der Nick gefällt mir auch sehr gut, auch wenn er vielleicht hohlwangige Assoziationen hervorruft...

viele Grüße,
Yorick.

Yorick

Beitragvon Yorick » 04.05.2008, 21:22

Je kürzer der Text, desto härter der Kampf, mannomannomanno...

Da hilft nur eines: den Text länger machen...

Vielen Dank für die Anregungen zur 2. Fassung.

Grüße,
Yorick.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.05.2008, 01:23

Hallo Yorick,

ich habe eben deine 2. Fassung gelesen und mit der ersten verglichen.
Ich finde die 2. auf jeden Fall besser. Sie hat zwar immer noch etwas Unheimliches (durch das schweigende Du und das "So halt doch still und schreie nicht"), aber insgesamt wird jetzt deutlicher, worum es dir geht.
Dass nach wie vor viele Deutungen möglich sind, ist ja zudem zusätzlich von dir intendiert.
Saludos
Mucki


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