Alles in Butter oder 'anstelle von'

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.06.2008, 18:39

Alles in Butter oder ‚anstelle von’


Burkhard, dieser Junge, der sich den Hunger wegduscht, hat nur einen Gedanken: Alles muss in Butter sein, alles muss schwelgen, tropfen, alles rühren, matschen. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel; – Häuser! Laken, Uhren, Treppen; die Stunden tranen in die Tage in die Wochen in die Jahre. Ruft jemand in die Zeit, hebt er in seiner gelben Unterkunft den Hörer ab und spricht in die Muschel: Ja, Vater, ja, Mutter, Freund, Arbeitgeber, ja, lieber Gott, alles ist in Butter.

Burkhard ist schon lange fort von zuhause, aber heute hat er bei Aufräumarbeiten ein Photo wiedergefunden, das er einmal heimlich aus dem Familienalbum gelöst hatte. Es zeigt seine ältere Adoptivschwester mit etwa sieben Jahren, wie sie im hohen Gras steht, einen Bach im Rücken und einen glänzenden Hund vor sich an der Leine. Sie ist dem Photographen fliegend zugewandt. Das schwarze Haar ist kräftig, als bekäme sie auf dem Land zu essen, hätte drei Brüder und trüge Zöpfe; sie lächelt, steht in den Strahlen eines Lichtes, wie es auf deutschen Landschaftsgemälden zu finden ist: Ein Reh, so schaut sie aus; weich, wach und zum Verbergen wollen zart – jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen.

An seine Schwester zu denken, schmerzt Burkhard. Nicht verhindert zu haben, dass sie zuhause an so vielen Orten zusammenschrumpfte wie ein alter Ballon, z.B. am Esstisch, wenn sie etwas zerbrochen hatte – –

[aber sie zerbrach ja nie etwas. Als Burkhard auf die Welt kam, war die Schwester schon längst viel zu zurückgezogen in sich, um mit Gegenständen zusammenstoßen zu können. Es muss andere Anlässe gegeben haben. Anlässe, die Burkhard damals keine sein konnten. Zu klein, zu unauffällig müssen sie gewesen sein. Inzwischen haben sich Burkhards Sinne verfeinert. Doch was den Jungen heute kotzen macht, hat ihn früher nicht einmal husten lassen; und ohne Husten sind keine Erinnerungen zu machen]

– – formulieren wir es also allgemeiner: Wenn die Schwester einer Situation nicht gewachsen war, aber Antwort geben wollte, weil man ihr gut sein sollte und sie gelernt hatte, dass es dafür auf das Antworten ankam, und die Mutter sie beschimpfte, als stummen Fisch, oder ihr die Marmelade in den Schoß warf, dass er auf eine Art blutete, die nicht rechtfertigte, nach dem von ihr über jedes Maß herbeigesehnten Arzt zu rufen, es aber aussehen ließ, als könne es einmal, ein einziges Mal, doch notwendig sein, als bräuchte man nichts anderes zu tun, als der weißen Gestalt, die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme, entgegenzusinken, wenn also all dies geschah, so verschob die Schwester ihre Rettung in die Nacht. Scheren, kleine Doppelspiegel, Nadeln, Skalpelle, allem voran aber die strengen, mechanisch weißen Hände des Arztes baumelten wie Gestirne hinter ihren flackernden Augenlidern und gewannen an solcher Bedeutung in der Seele der Schwester – –

[und noch mehr in der von Burkhard, nachdem dieser seine Schwester im Schlaf einmal in wacher Klarheit hatte anrufen hören: Weißer Mann, bind mir einen Strauß aus deinen Instrumenten, an dem will ich riechen, bis ich blute und nicht mehr aufhöre zu bluten, solange nicht aufhöre, bis ich nicht mehr bin vor lauter Untersuchung]

– – diese Phantasien also gewannen solchen Raum in der Seele beider Kinder, dass sich das Phänomen wohl nur mit pathologischem Vokabular beschreiben ließe, was wir als Versuch jedoch mit aller Bestimmtheit von uns zu weisen haben, da uns die Dinge auf diese Weise nichts angehen.


_________


Später zog die Schwester aus – –

[um noch im selben Jahr, gefühlte Zeit, zu heiraten, vier Kinder zu bekommen und zu beschließen an Dart-Turnieren teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene. Sie meldete sich auch tatsächlich bei solchen Turnieren an, obwohl sie nie zuvor Dart gespielt hatte und grobmotorisch veranlagt war, doch es wurde nichts daraus. Schließlich nahm sie nicht einmal der Nachtkiosk als Aushilfe und so saß sie wie ein Meerschwein mit ihrer Nachbarin auf dem Domäne-Sofa und indem sie einander ihr Elend klagten, hielten sie sich gegenseitig die Beziehung zu dem mysteriösen Etwas aufrecht]

– – später also zog die Schwester aus und von da an war Burkhard nicht länger hilflos gegen den Schmerz der Schwester; denn die Schwester war ja fort. Nein, von da an war er selbst seine Schwester, ergab sich aber nicht natürlich in ihre Form, da sie ganz anders war als er, wie jeder Mensch ganz anders ist als jeder weitere, und wurde so ein schreiender Fisch – –

[obwohl auch Burkhard sich hütete, bestimmte Geräusche zu machen (die leisen). Denn ihren Schmerz, den hatte die Schwester zwar mitgenommen, da war sich der Junge sicher, aber es war ihm doch, als bestünde er in Form einer Hinterlassenschaft fort. Vielleicht hatte sich so etwas wie sein chronischer Schatten an die Wände geworfen, wie auch nach Jahren abgenommene Gemälde einen hellen Fleck hinterlassen. Verräterisch kamen die Wände ihm vor, ein furchterregendes großes Ohr waren sie ihm und das einzige, was verhinderte, in seinem erbärmlichen Gewimmere von ihnen belauscht zu werden, war Schreien und Stampfen. War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung, dass niemand von der Armut, in der man auf seinem Zimmer saß, erfuhr. Und so wurde Burkhard lauter, als er es eigentlich geworden wäre, und das kurioserweise, obwohl er nicht einmal rechtfertigen konnte, weshalb er so laut war, wie er es ohnehin war]

– – Burkhard wurde also ein schreiender Fisch. Der Vater brachte ihm in diesen Jahren oft Süßes mit, wenn etwas gewesen war, wofür er keine Tränen fand. Der Vater, das war einer, der weinte nie, er war ganz in seinen Algen, ein Wels war er, aber wenn er dem Jungen das Süße zustecken wollte und dieser es in einem ersten Versuch ausschlug, weil es ihm wehtat, etwas anstelle von zu bekommen, dann zitterte auf kaum merkliche, ja, dem Jungen schien (und darin lag der ganze Wert) auf eine nur für ihn wahrnehmbare Weise, die Stimme des Vaters und dem Jungen wurde ganz weich zumute und bevor sie beide fürchten mussten, dass sie doch vor einander anfangen müssten zu weinen, nahm der Junge hastig, was er bekam, ging auf sein Zimmer und aß es – ganz gleich wie groß und wie viel, ganz gleich, was es überhaupt war – auf.


_________


Warum tut es Burkhard so ohne gleichen weh, an seine Schwester zurückzudenken?
Weil es die einzige Art für Burkhard ist, sich mit einem Gefühl daran zu erinnern, wie es zuhause war. Nur über dieses Gefühl, das jemand anderem gehört, kann er sich selbst anrühren. Natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen.

Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl stehenden Adoptivkindern von der Mutter ausgesucht worden. Er stellt sich dabei das Kinderheim als eine Art Legebatterie vor – –

[allerdings ohne sich zu vergegenwärtigen, dass er dies tut. Täte er dies, würde es ihn verwundern, solch eine Vorstellung sein Eigen zu nennen. Er würde sie in die kindlichen Vorstellungen einreihen, die man noch von Korrekturen gänzlich unberührt mit sich herumträgt. Wie das etwa bis ins 20. Jahr der Fall war in Bezug auf die verrußten Steine, mit denen die Bahndämme aufgeschüttet sind und die er – wohl aufgrund ihrer Farbe und weil er wusste, dass alte Dampflokomotiven mit Kohle angetrieben wurden – für Kohle hielt. Da es viele Jahre keinen Anlass gegeben hatte, diese Vermutung mit dem, der er heute war, abzugleichen, hatte er sie nie revidiert, obgleich er heute nicht einmal mehr im Stande wäre, eine solche Idee hervorzubringen, wie er auch heute nicht mehr in der Lage wäre, seinen Schmerz in solch ein unreflektiertes Gedankenkonstrukt wie das der ‚Kinderlegebatterie’ zu legen, hätte er es sich nicht schon als Kind erfunden]

– – wie dem auch sei, Burkhard stellt sich das Heim als eine Art Legebatterie vor. Die adoptionswilligen Neueltern wurden dabei herbeizitiert und in einen Ausstellungsraum geführt, in dem unzählige Wiegen nebeneinander standen, aus denen überdimensional große Säuglingsköpfe mit rosa und himmelblauen Kappen über den Bastrand schielten: Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann.


_________


Dabei hat das Wissen darum, dass die Behauptung, das Photo habe für die Auswahl eine Rolle gespielt, nicht stimmen kann – –

[weil die Schwester auf dem Photo schon viel älter ist als sie es zum Zeitpunkt der Adoption war und Burkhard den Hund als den Hund seiner Großmutter wiederkennt, den er selbst noch gestreichelt hat und der ganze 19 Jahre alt geworden ist, bis ihm an einem heißen Julitag sein verkrebstes Gesäuge geplatzt war und sich über das Lederpolster des violetten Volvos der Tante ergossen hatte]

– – dabei also hat das Wissen um diese Unmöglichkeit keinerlei Macht über den Glauben von Burkhard. Es kann nicht sein, weiß Burkhard. Und doch ist es ihm wahr.

Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben – wenn wir Burkhards also in seinem Glauben folgen, das Photo sei der Grund gewesen, weshalb die Mutter Burkhards Schwester ausgesucht habe, stellt sich immer noch die Frage, was so bedeutsam an gerade diesem Photo ist. Worin liegt seine Macht begründet?

Auf dem Photo ist zu entdecken, was die Schwester versprochen hat zu werden und hält Burkhard es gegen das Licht, das zeigt, wer seine Schwester heute ist, dann weiterhin: was die Schwester nicht geworden ist. Zwischen ihrem Versprechen und meiner Schwester tut sich die Hölle auf, fühlt Burkhard und in diesem Gefühl vermag das Wort ‚Hölle’ ihn erstmals zu grausen.

Heute ist Burkhards Schwester ein Gnom mit kratzigem Kräuselhaar und Brüsten so groß wie anderer Leute Köpfe (z.B. wie die ihrer Kinder). Seit ihrer Sterilisation, die ihr Mann nach dem mehrfach missglücktem Versuch, mithilfe gängiger Verhütungsmittel keine weiteren Babys mehr zu produzieren, angeordnet hat, tummeln sich in ihrer Reihenhaushälfte so viele Haustiere, dass diese begonnen haben sich gegenseitig aufzufressen. Und irgendwo unter ihnen sitzen die vergessenen Kinder, denen jetzt schon die Schuld dafür zugesprochen wird, dass sie heranwachsen, also nicht die weißen Spiegel bleiben, in denen die Schwester das Gesicht sehen kann, das sie verlor, weil sie es nie besaß.


Burkhard kann nicht versuchen, sich auf die Weise Kindheit anzufressen, wie seine Schwester es tut, er muss andere Wege finden. Wenn Burkhard heute eingekauft und alles vertilgt und wieder erbrochen hat – –

[mindestens drei Supermärkte fährt Burkhard dafür ab. Drei, damit die Menge an Lebensmitteln an der Kasse nicht auffällt, dass ihn die Verkäufer nicht erinnern oder falls er auf einen Bekannten trifft. Wenn er schließlich nachhause fährt, werden alle Tüten ins Schlafzimmer verfrachtet, das Burkhard abschließt, obwohl er seit Jahren alleine wohnt und nur er einen Hausschlüssel besitzt. Dann wird noch kurz auf der Bettkante gesessen, dass das Schwitzen und Zittern fortgeht danach noch einmal geprüft, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist, und dann alles aufgerissen und hinuntergeschlungen und ins Badezimmer gerannt und wieder herausgebrochen und manchmal verfängt sich eine Erinnerung in dem Erbrochenem und kommt mit hoch und Burkhard würgt sie in die Schüssel und ist sie doch nicht los. Das Ganze wird noch einige Male von vorn begonnen; bis Burkhard elend ist: aber auf glückliche Weise. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich das Elend lohnt]

– – Wenn Burkhard also all diesen Aufwand vertilgt und wieder erbrochen hat, auf dem Bett liegt, alle Viere von sich streckend: ein gehäutetes Tier, dann ist für eine kurze Dauer alle Butter fort. Dann kommen dem Jungen seltsame Sätze in den Kopf.

                                                                      A little bit much summer between the cat                                                    Barbarische Mädchen verstecken ihre Rhabarberherzen
                                                                              Laut Volksauskunft ist der Empfang des Glücks gestört



Und obwohl diese Sätze sich „schräg“ anfühlen, bleiben die Worte leicht und klar und Burkhard braucht nichts zu überwinden, damit das Weinen gelingt, ja, oft – aber das ist wohl dasselbe – hat er nicht einmal Interesse am Weinen, dreht sich auf die Seite, lässt die vertäfelte Wand auf sich zutreiben und heilt sich am Eindruck des braunen Holzes. Holz. Raues, sprödes, gemasertes Holz.


_________


Burkhard muss weinen, da ist so viel Zärtlichkeit für seine Schwester, auch wenn sich nie eine Sprache finden wird, in die sich in einer ehrlichen Bewegung etwas von dieser Zärtlichkeit legen ließe, und doch: Zuletzt bedeutet ihm all dies nur in Hinblick auf eines etwas: In Hinblick darauf, dass das Photo nicht nur die Unzulänglichkeit seiner Schwester, sondern über diese hinaus seine eigene zeigt. Denn auch Burkhard ist nicht geworden, was er versprochen hätte, hätten seine Eltern ihre gestöhnten Träume befragen können.

Versucht Burkhard die Gründe zu erfassen, die ihn zu einem Falschen machen, zerfallen ihm alle Berechtigungen wie ein zu Asche gewordener Gegenstand, den man nach einem großen Feuer das erste Mal berührt. Und dann bleibt ihm nur so etwas wie das Photo.

Ja, er war ein klügeres Kind als seine Schwester, aber davon war kein Gebrauch zu machen, denn er war es auf laute Weise. Und hatte man zuhause auch nicht stumm zu sein, so hatte man doch noch weniger laut zu sein – –

[ irgendwo innen drin ahnt Burkhard, dass jedes Kind zu laut gewesen wäre, aber diese Ahnung folgt erst auf den älteren Glauben, falsch zu sein, und verstärkt ihn so nur umso mehr]

– – von seiner Klugheit also war kein Gebrauch zu machen, denn aufgrund ihrer Lautstärke verriet sie, wer Burkhard war; wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war, der zu ungeduldig war, um Milchtüten auf eine solche Art zu öffnen, dass sie nicht beanstandet werden mussten; dass er einer war, der seinen Schwimmbeutel in der Schulumkleide vergaß und dem Lehrer, der nach Wochen den inzwischen durch die Feuchtigkeit von Schimmel befallenen Beutel in den Unterricht mitbrachte, widersprach, dass es seiner sei, obwohl alle wussten, dass es Burkhards war. Dass er einer war, der seinen Hund an seinem Bein rammeln ließ, um darüber zu masturbieren, weil er sonst keinen Eindruck von Lust kannte, aber solch einen Eindruck nötig hatte, weil ihn der Aufwand, der eine bloße Vorstellung bedeutete, zu sehr erschöpfte, um zum Ziel zu gelangen. Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte und darüber, anstatt sich von sich selbst zu befreien, indem er es gut sein ließ, nur noch mehr Dinge tat, die er nicht verwirken konnte und so eben der wurde, der er war: Einer, der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seiner Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen – –

[Beide, Mutter und Junge, hatten mit dieser sie beide kompromittierenden Tatsache, dass nichts an Burkhard die Mutter davon abhielt, ihren Sohn so zu beschimpfen, nichts anderes anzufangen gewusst, als Jahre über solche irrelevante Fragen wie z.B., ob die Mutter Pottwal oder Pottsau geschrieen hatte, zu streiten. Burkhard kann bis heute nicht davon ablassen, Überlegungen zu solchen Vorfällen anzustellen. War es nicht doch möglich, dass die Mutter, so wie sie es behauptete, Pottwal gesagt hatte? Es scheint ihm allerdings unglaubwürdig, vor allem, weil das Wort Pottsau ein gebräuchliches Schimpfwort ist und seine Mutter kein Mensch ist, der Schimpfwörter oder überhaupt Wörter erfindet. Andererseits kennzeichnet das Wort Pottsau eher weibliche Personen und Pottwal männliche, es könnte also auch anders gewesen sein und auf diese Weise blühen Burkhards Überlegungen fort und wird er einer müde, so erinnert er sich der nächsten usw.]

– – kurzum: Nichts hielt die Mutter ab, ihren Sohn auf die eine oder andere Weise zu beschimpfen; auf welche Weise dies geschah, war dabei nicht mehr auszumachen und würde es auch niemals sein. Wo bin ich hingekommen, dass es mir Erleichterung verschafft, wenn sie nur Pottwal gesagt hat, steigt es in Burkhards Hals aus der wahrgenommenen Unverhältnismäßigkeit dieser Beschäftigung auf. Nirgends bin ich hingekommen.

Und wenn er dann über das Gefühl, das seiner Schwester gehört, sich selbst anrührt, natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen, dann hat diese Geschichte kein Ende. Dann springt Burkhard unters Wasser, um sich den Hunger wegzuduschen, fährt zur Arbeit, kommt am Abend heim, steht am Fenster, sitzt auf der Bettkante und alles ist in Butter, schwelgt und tropft, rührt und matscht. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel – Häuser! Laken, Uhren, Treppen. Gebirge, Telefonleitungen; Bücher, Spiegelbilder. Und die Stunden tranen in die Tage und die Wochen in die Jahre.
Zuletzt geändert von Lisa am 01.07.2008, 14:06, insgesamt 4-mal geändert.

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Beitragvon Lisa » 03.07.2008, 15:25

Lieber jondoy,

ich bin nur in der Lage Huhu oder Liebe/r zu schreiben. Entschuldige .-) .

Mir ging es jedenfalls so, immer dann, als ich dachte, jetzt hast du wirklich alles darüber ausgesagt, hast du wieder damit angefangen, mit dem Sezieren, das ist schon hartnäckig mit einem Thema auseinandergesetzt, du lässt nicht locker, wer diese Geschichte durchliest, muss sich das immer wieder anhören,
wie Mucki es bereits mit anderen Worten ausgedrückt, aber vielleicht ganz anders gemeint hat, hat, es ist für mich Leser unangenehm und mühsam, sich das zu Gemüte zu führen.
Du leuchtest seine Psyche so aus, hinterfrägst sie dermaßen, dass ich mir beim Lesen denke, o je, o je.


würdest du diesen Effekt denn in Bezug auf die Textqualität positiv (da wirkung) oder negativ (da nur abschreckend) bewerten? Das habe ich nicht herauslesen können...

Dass der Kontrast zu den poetischen Stellen berührt, freut mich - auch wenn es auch da wieder so überspitzt angelegte Stellen gibt, die auch wiederum das verneinen und dann durchaus analytische stellen, die gar nicht analytisch sind ~.

Lieber Albert,

Meiner Meinung ist das Problem vielleicht eine abnehmende/fehlende Perspektivspannung im Vergleich zu den anderen Teilen. Denn letztlich lebt der Gestus des Textes ja von dieser Relativierung; er ermöglicht, dass du verschiedene Stilelemente benutzen kannst und es dennoch ästhetisch aufgehoben ist. Hier scheint mir an einigen Stellen gerade diese Aufhebung zu fehlen (siehe die erste Detail-Anmerkung gleich).


ja, ok, vermerkt für die Überarbeitung. das ist sehr hilfreich!


Außerdem nochmal kurz zu den Details. Zunächst hast du, soweit ich sehe, meine Anmerkung zu der Formulierung "soziale Mechanismen und Strukturen" übergangen, die ich hier wie gesagt unpassend finde; sie klingt für mich wie eine Stilüberschreitung, als hättest du plötzlich ernsthaft angefangen von der ICD-10-Klassifikation zu schreiben (dies steht für mich im Zusammenhang mit der eben erwähnten fehlenden Spannung innerhalb der Perspektive).


da stimme ich dir absolut zu, werd ich im Zuge der Änderungen versuchen zu verbessern!


aus dem Familienalbum genommen? hm, das find ich eher fast "falsches" Deutsch

"gewannen an solcher Bedeutung" - wie gesagt, ich bin nicht sicher, aber ich kenne nur: "gewannen an Bedeutung" und "gewannen solche Bedeutung" (wobei ich die letzte Formulierung im Verdacht habe, ein illegales Derivat der ersten zu sein) - "gewannen an solcher Bedeutung" hakt bei mir, aber wenn du es angesichts der Gegenüberstellung darauf bestehst, bin ich auch schon still smile

hmmm - vielleicht hast du doch Recht, ich dachte, es sei unproblematisch in die Phrase "an Bedeutung gewinnen" einfach noch ein Pronomen einzufügen? warum geht das nicht?
Bei den Meerschweinchen sehe ich nur davor ein "um", und das ist nicht mal ein richtiges Zweck-um - würde ich so lassen. Den Verweis auf das Etwas finde ich deshalb komisch, weil er keinen Sinn gibt; insofern habe ich auch keine Idee, wie du diesen besser ausdrücken kannst. (Es gibt keinen Sinn für mich, weil du ja sagst, sie wollte sich "etwas dazuverdienen" - warum hält man dazu - also zu Geld - später noch eine Beziehung aufrecht? Das verstehe ich einfach nicht.)


um geht klar, aber das etwas ist meines Erachtens erklärt - es wird doch als mysteriös gekennzeichnet, schon beim "Geld"-kontext - das ist ja der Witz/sollte der Witz sein .-)


Hab den Wollte-Sollte-Satz verstanden! aber: "war man lauter, als man es sein wollte" - es? es weg?


ja, das ist mindestens besseres Deutsch, notiert


hm. Seit wann hat Wissenschaft mit Fakten zu tun? biggrin Ernsthaft, mich irritiert an dem Satz, dass Psychoanalytiker sich ja dadurch auszeichnen sollen, dass sie es mit Fakten zu tun hätten; ich würde da nicht so einen scharfen Unterschied sehen zu Burkhards Tätigkeit, gerade, was deren Grundlage angeht. - Also, natürlich ist da ein Unterschied und man kann ja den Gegensatz durchaus aufmachen, aber der Satz scheint gerade Psychoanalytiker als Paradigma der Faktensammler zu kennzeichnen, was nicht meine Assoziation wäre.


Das wort fakten scheint mir aber von wissenschaftlern (als ihres) beansprucht zu sein - und ihre perspektive ist dabei eingenommen. die analytische-esoterik der psychoanalytiker würde auch mich nicht gerade dazu verleiten von Fakten zu sprechen, aber eigentlich wurde der sinn davon ja auch gerade negiert - sie würden jedenfalls schon von fakten sprechen?
Den Waisenkinder-Satz: es hindert dich ja nichts daran ihn zu ersetzen durch andere Ausgestaltungen; ich fand, er klang schon arg lächerlich und dabei seltsam ausdrucksarm.


auch das sei notiert und dann eruiert .-)


(gibt es eigentlich noch eine einfachere Einrückfunktion als über diese unsäglichen Leerzeichen?)


noch nicht, leider...ewiges Thema...

Bis zur überarbeiteten Version,

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Albert

Beitragvon Albert » 03.07.2008, 19:05

Liebe Lisa,

nur ganz kurz auf deine Rückfragen.

aus dem Familienalbum genommen? hm, das find ich eher fast "falsches" Deutsch


Na zum Glück nur "eher fast"! :-) (Hast schon Recht, mir fällt auch nichts gutes ein)

hmmm - vielleicht hast du doch Recht, ich dachte, es sei unproblematisch in die Phrase "an Bedeutung gewinnen" einfach noch ein Pronomen einzufügen? warum geht das nicht?


Also genauer ja ein Demonstrativpronomen und eigentlich heißt "solcher" hier ja "so einer" (ohne dass sich die beiden grammatisch gleich verhalten müssten). Der Satz ist: "die Hände gewannen an solcher Bedeutung, dass sich das Phänomen nur so und so beschreiben ließe" - und nun scheint mir "solcher" in diesem Fall den Einzahlaspekt zu betonen: "gewannen an so einer Bedeutung, dass" - aber ich finde, das hört sich einfach schräg an und deshalb hast du ja in dem Satz später auch geschrieben "gewannen solchen Raum". "gewannen an" bildet sich vielleicht nur mit, wie sagt Quine dazu: "mass terms", also solchen generellen Termini, die sich nicht auf konkrete Einzelgegenstände beziehen lassen, wie z.B. Wasser, Schnee, usw. (es gibt nicht "ein Schnee", "zwei Schnee" usw., man kann nur sagen: "das da besteht aus Schnee"; ich glaube, auf deutsch heißt das "Stoffnamen"). Und jetzt muss man unterscheiden: Bedeutung heißt einmal: Sinn einer Aussage z.B., dann gibt es mehrere Bedeutungen (z.B. die eine Bedeutung dieser Metapher ist xy, die andere yz), aber dann gibt es auch Bedeutung im Sinne von Wichtigkeit, Relevanz - und da kann man nicht sagen die eine Relevanz hier, die andere dort. Also: gewann an Erfahrung, gewann Erinnerungen; gewann an Klugheit, gewann Informationen.
Das Problem ist jetzt meiner Meinung, dass "solche" genau die Zählbarkeit impliziert, die Bedeutung eigentlich nicht hat. (Wobei ich zugebe, dass ich schon sagen würde: "eine solche Wichtigkeit", "so eine Bedeutung"; aber ich denke, der Verweis auf die Möglichkeit der weiteren Zählbarkeit durch "solche" reicht hier schon aus). Wahrscheinlich ist das aber eher ein subjektives Empfinden hinsichtlich des "solche"; wird sich wohl nicht zu einer Falschheit aufsummieren.
Hingegen kann man "gewann solche Bedeutung" sagen, weil es "gewinnen" allein egal ist, ob nun mass oder count noun. (ich gewann Geld, Euros, Applaus usw.)

Ich hab keine Ahnung ob das stimmt! :daumen:

Das mysteriöse Etwas verstehe ich hingegen immer noch nicht, es wird doch genau so eingeleitet, dass gesagt wird, das Etwas sei Geld ("dazuverdienen") - wie kann man dazu noch eine Beziehung aufrecht erhalten? Nun kann man mir sehr emphatisch natürlich antworten: MYSTERIÖS! - aber dann ist mir der Text eben nicht emphatisch genug :smile:

Das wort fakten scheint mir aber von wissenschaftlern (als ihres) beansprucht zu sein - und ihre perspektive ist dabei eingenommen. die analytische-esoterik der psychoanalytiker würde auch mich nicht gerade dazu verleiten von Fakten zu sprechen, aber eigentlich wurde der sinn davon ja auch gerade negiert - sie würden jedenfalls schon von fakten sprechen?


Schon schon, aber die Frage ist doch, ob hier der Kontrast gerade zu Psychoanalytikern über die Fakten herzustellen ist? Weder denke ich bei Psychoanalyse besonders an Fakten, noch andersrum - das ist das wichtige, denn wenn mir das nicht besonders nahesteht, lese ich so einen Satz:
Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben


ohne Verständnis für die Begründung, die ja zu sein scheint: Wer kein Psychoanalytiker ist, hat kein Problem damit, Fakten zu ignorieren. Äquivalent: Wer Fakten nicht ignorieren kann, ist Psychoanalytiker. Natürlich stimmt dieser Satz in seiner Ausschließlichkeit sowieso für keine Wissenschaftlergruppe, aber er fordert für mich doch wenigstens einen paradigmatischen Fall. Und das sind Psychoanalytiker für mich nicht, deshalb bleibt der Satz mir "komisch". Vielleicht ändert sich das durch einen weiteren Verweis auf die Psychoanalyse (oder Verwandtes) im Vorfeld dieser Passage.

Liebe Grüße,
Albert

jondoy
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Beitragvon jondoy » 04.07.2008, 00:26

Liebe Lisa,

würdest du diesen Effekt denn in Bezug auf die Textqualität positiv (da wirkung) oder negativ (da nur abschreckend) bewerten? Das habe ich nicht herauslesen können...


Positiv. Es hat mich schon beeindruckt.

Die Stärke des Textes ist in meinen Augen, dass seine Sprache es mir ermöglicht, ihm trotz seiner Komplexheit zu folgen, auch wenns weh tut.

Gruß,
Stefan

PS: Vielleicht noch was. Die von dir im Text verwendeten Ausdrücke "Pottwal" oder "Pottsau" sind m. E. viel zu brav. Nicht lebensnah. Das sind ja fast schon vornehme Ausdrücke.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 06.07.2008, 18:29

Lieber kurz angebundener Albert :mrgreen:

dank für deine, ja, ich muss es wohl Nachforschungen nennen, Nachforschungen bishin zu Quine. Immerhin kenne ich den Herrn zumindest. Und was soll ich sagen, ich denke, ihr beide habt mich überzeugt, dass es zumindest ein unsauberer Gebrauch ist.

Auch die mysteriöse Mysteriös-Stelle werd ich versuchen noch klarer zu machen.

Zu den Psychoanalytikern: Ganz sauber betrachtet stimmt wohl auch hier deine Beobachtung, s ist halt die Frage, ob die unscharfe Dichotomie nicht eine Realität sein kann, aber natürlich sollte abgsichert sein, dass der Autor das absichtlich macht.

ich habe etwas Angst, dass ich den Text nun nie überarbeitet bekomme, aber ich werd es zumindest wirklich probieren. Sehen wir dann .-)

ich dank dir, dass du immer so dran geblieben bist.



Lieber jondoy,

das hätte ich nicht gedacht.
@pottwal - findest du? ich nicht, ich finde, sie passen in den erniedrigungskontext. schriebe ich etwas wie missgeburt oder arschloch etc. wäre klar, dass die Mutter unvrhältnismäßig reagiert, bei den von mir gwählten schimpfwörtern wird aber eher ein Mangel angkreidet, der - ein einer Realität - ja tatsächlich vorliegt. ~ so die idee zumindest.

Zumindest scheint mein neues Lieblingswort.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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jondoy
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Beitragvon jondoy » 07.07.2008, 00:07

Liebe Lisa,

ja, scheinen tuts.
...mich blendete anfangs es :- ) .

...weder es noch seine schwester hab ich in einem solchen und überhaupt einen solchen in dieser form noch nie, und nun das tüpfelchen, wie mir, bin mir überhaupt nicht sicher, wie ichs verstanden habe, fühle nur annäherung an anderes denken,

nein, ich stell fest, kann da drauf gar nicht antworten, mir verschwimmt alles, vermutlich hat das mit dem pottwal zu tun.

Gruß,
Stefan

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.07.2008, 01:23

jondoy hat geschrieben:nein, ich stell fest, kann da drauf gar nicht antworten, mir verschwimmt alles, vermutlich hat das mit dem pottwal zu tun.

:totlach:
Das war das Schmankerl zur Nacht! :mrgreen:
Lachende Grüße
Mucki


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