Alles in Butter oder 'anstelle von'
Verfasst: 27.06.2008, 18:39
Alles in Butter oder ‚anstelle von’
Burkhard, dieser Junge, der sich den Hunger wegduscht, hat nur einen Gedanken: Alles muss in Butter sein, alles muss schwelgen, tropfen, alles rühren, matschen. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel; – Häuser! Laken, Uhren, Treppen; die Stunden tranen in die Tage in die Wochen in die Jahre. Ruft jemand in die Zeit, hebt er in seiner gelben Unterkunft den Hörer ab und spricht in die Muschel: Ja, Vater, ja, Mutter, Freund, Arbeitgeber, ja, lieber Gott, alles ist in Butter.
Burkhard ist schon lange fort von zuhause, aber heute hat er bei Aufräumarbeiten ein Photo wiedergefunden, das er einmal heimlich aus dem Familienalbum gelöst hatte. Es zeigt seine ältere Adoptivschwester mit etwa sieben Jahren, wie sie im hohen Gras steht, einen Bach im Rücken und einen glänzenden Hund vor sich an der Leine. Sie ist dem Photographen fliegend zugewandt. Das schwarze Haar ist kräftig, als bekäme sie auf dem Land zu essen, hätte drei Brüder und trüge Zöpfe; sie lächelt, steht in den Strahlen eines Lichtes, wie es auf deutschen Landschaftsgemälden zu finden ist: Ein Reh, so schaut sie aus; weich, wach und zum Verbergen wollen zart – jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen.
An seine Schwester zu denken, schmerzt Burkhard. Nicht verhindert zu haben, dass sie zuhause an so vielen Orten zusammenschrumpfte wie ein alter Ballon, z.B. am Esstisch, wenn sie etwas zerbrochen hatte – –
[aber sie zerbrach ja nie etwas. Als Burkhard auf die Welt kam, war die Schwester schon längst viel zu zurückgezogen in sich, um mit Gegenständen zusammenstoßen zu können. Es muss andere Anlässe gegeben haben. Anlässe, die Burkhard damals keine sein konnten. Zu klein, zu unauffällig müssen sie gewesen sein. Inzwischen haben sich Burkhards Sinne verfeinert. Doch was den Jungen heute kotzen macht, hat ihn früher nicht einmal husten lassen; und ohne Husten sind keine Erinnerungen zu machen]
– – formulieren wir es also allgemeiner: Wenn die Schwester einer Situation nicht gewachsen war, aber Antwort geben wollte, weil man ihr gut sein sollte und sie gelernt hatte, dass es dafür auf das Antworten ankam, und die Mutter sie beschimpfte, als stummen Fisch, oder ihr die Marmelade in den Schoß warf, dass er auf eine Art blutete, die nicht rechtfertigte, nach dem von ihr über jedes Maß herbeigesehnten Arzt zu rufen, es aber aussehen ließ, als könne es einmal, ein einziges Mal, doch notwendig sein, als bräuchte man nichts anderes zu tun, als der weißen Gestalt, die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme, entgegenzusinken, wenn also all dies geschah, so verschob die Schwester ihre Rettung in die Nacht. Scheren, kleine Doppelspiegel, Nadeln, Skalpelle, allem voran aber die strengen, mechanisch weißen Hände des Arztes baumelten wie Gestirne hinter ihren flackernden Augenlidern und gewannen an solcher Bedeutung in der Seele der Schwester – –
[und noch mehr in der von Burkhard, nachdem dieser seine Schwester im Schlaf einmal in wacher Klarheit hatte anrufen hören: Weißer Mann, bind mir einen Strauß aus deinen Instrumenten, an dem will ich riechen, bis ich blute und nicht mehr aufhöre zu bluten, solange nicht aufhöre, bis ich nicht mehr bin vor lauter Untersuchung]
– – diese Phantasien also gewannen solchen Raum in der Seele beider Kinder, dass sich das Phänomen wohl nur mit pathologischem Vokabular beschreiben ließe, was wir als Versuch jedoch mit aller Bestimmtheit von uns zu weisen haben, da uns die Dinge auf diese Weise nichts angehen.
_________
Später zog die Schwester aus – –
[um noch im selben Jahr, gefühlte Zeit, zu heiraten, vier Kinder zu bekommen und zu beschließen an Dart-Turnieren teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene. Sie meldete sich auch tatsächlich bei solchen Turnieren an, obwohl sie nie zuvor Dart gespielt hatte und grobmotorisch veranlagt war, doch es wurde nichts daraus. Schließlich nahm sie nicht einmal der Nachtkiosk als Aushilfe und so saß sie wie ein Meerschwein mit ihrer Nachbarin auf dem Domäne-Sofa und indem sie einander ihr Elend klagten, hielten sie sich gegenseitig die Beziehung zu dem mysteriösen Etwas aufrecht]
– – später also zog die Schwester aus und von da an war Burkhard nicht länger hilflos gegen den Schmerz der Schwester; denn die Schwester war ja fort. Nein, von da an war er selbst seine Schwester, ergab sich aber nicht natürlich in ihre Form, da sie ganz anders war als er, wie jeder Mensch ganz anders ist als jeder weitere, und wurde so ein schreiender Fisch – –
[obwohl auch Burkhard sich hütete, bestimmte Geräusche zu machen (die leisen). Denn ihren Schmerz, den hatte die Schwester zwar mitgenommen, da war sich der Junge sicher, aber es war ihm doch, als bestünde er in Form einer Hinterlassenschaft fort. Vielleicht hatte sich so etwas wie sein chronischer Schatten an die Wände geworfen, wie auch nach Jahren abgenommene Gemälde einen hellen Fleck hinterlassen. Verräterisch kamen die Wände ihm vor, ein furchterregendes großes Ohr waren sie ihm und das einzige, was verhinderte, in seinem erbärmlichen Gewimmere von ihnen belauscht zu werden, war Schreien und Stampfen. War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung, dass niemand von der Armut, in der man auf seinem Zimmer saß, erfuhr. Und so wurde Burkhard lauter, als er es eigentlich geworden wäre, und das kurioserweise, obwohl er nicht einmal rechtfertigen konnte, weshalb er so laut war, wie er es ohnehin war]
– – Burkhard wurde also ein schreiender Fisch. Der Vater brachte ihm in diesen Jahren oft Süßes mit, wenn etwas gewesen war, wofür er keine Tränen fand. Der Vater, das war einer, der weinte nie, er war ganz in seinen Algen, ein Wels war er, aber wenn er dem Jungen das Süße zustecken wollte und dieser es in einem ersten Versuch ausschlug, weil es ihm wehtat, etwas anstelle von zu bekommen, dann zitterte auf kaum merkliche, ja, dem Jungen schien (und darin lag der ganze Wert) auf eine nur für ihn wahrnehmbare Weise, die Stimme des Vaters und dem Jungen wurde ganz weich zumute und bevor sie beide fürchten mussten, dass sie doch vor einander anfangen müssten zu weinen, nahm der Junge hastig, was er bekam, ging auf sein Zimmer und aß es – ganz gleich wie groß und wie viel, ganz gleich, was es überhaupt war – auf.
_________
Warum tut es Burkhard so ohne gleichen weh, an seine Schwester zurückzudenken?
Weil es die einzige Art für Burkhard ist, sich mit einem Gefühl daran zu erinnern, wie es zuhause war. Nur über dieses Gefühl, das jemand anderem gehört, kann er sich selbst anrühren. Natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen.
Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl stehenden Adoptivkindern von der Mutter ausgesucht worden. Er stellt sich dabei das Kinderheim als eine Art Legebatterie vor – –
[allerdings ohne sich zu vergegenwärtigen, dass er dies tut. Täte er dies, würde es ihn verwundern, solch eine Vorstellung sein Eigen zu nennen. Er würde sie in die kindlichen Vorstellungen einreihen, die man noch von Korrekturen gänzlich unberührt mit sich herumträgt. Wie das etwa bis ins 20. Jahr der Fall war in Bezug auf die verrußten Steine, mit denen die Bahndämme aufgeschüttet sind und die er – wohl aufgrund ihrer Farbe und weil er wusste, dass alte Dampflokomotiven mit Kohle angetrieben wurden – für Kohle hielt. Da es viele Jahre keinen Anlass gegeben hatte, diese Vermutung mit dem, der er heute war, abzugleichen, hatte er sie nie revidiert, obgleich er heute nicht einmal mehr im Stande wäre, eine solche Idee hervorzubringen, wie er auch heute nicht mehr in der Lage wäre, seinen Schmerz in solch ein unreflektiertes Gedankenkonstrukt wie das der ‚Kinderlegebatterie’ zu legen, hätte er es sich nicht schon als Kind erfunden]
– – wie dem auch sei, Burkhard stellt sich das Heim als eine Art Legebatterie vor. Die adoptionswilligen Neueltern wurden dabei herbeizitiert und in einen Ausstellungsraum geführt, in dem unzählige Wiegen nebeneinander standen, aus denen überdimensional große Säuglingsköpfe mit rosa und himmelblauen Kappen über den Bastrand schielten: Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann.
_________
Dabei hat das Wissen darum, dass die Behauptung, das Photo habe für die Auswahl eine Rolle gespielt, nicht stimmen kann – –
[weil die Schwester auf dem Photo schon viel älter ist als sie es zum Zeitpunkt der Adoption war und Burkhard den Hund als den Hund seiner Großmutter wiederkennt, den er selbst noch gestreichelt hat und der ganze 19 Jahre alt geworden ist, bis ihm an einem heißen Julitag sein verkrebstes Gesäuge geplatzt war und sich über das Lederpolster des violetten Volvos der Tante ergossen hatte]
– – dabei also hat das Wissen um diese Unmöglichkeit keinerlei Macht über den Glauben von Burkhard. Es kann nicht sein, weiß Burkhard. Und doch ist es ihm wahr.
Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben – wenn wir Burkhards also in seinem Glauben folgen, das Photo sei der Grund gewesen, weshalb die Mutter Burkhards Schwester ausgesucht habe, stellt sich immer noch die Frage, was so bedeutsam an gerade diesem Photo ist. Worin liegt seine Macht begründet?
Auf dem Photo ist zu entdecken, was die Schwester versprochen hat zu werden und hält Burkhard es gegen das Licht, das zeigt, wer seine Schwester heute ist, dann weiterhin: was die Schwester nicht geworden ist. Zwischen ihrem Versprechen und meiner Schwester tut sich die Hölle auf, fühlt Burkhard und in diesem Gefühl vermag das Wort ‚Hölle’ ihn erstmals zu grausen.
Heute ist Burkhards Schwester ein Gnom mit kratzigem Kräuselhaar und Brüsten so groß wie anderer Leute Köpfe (z.B. wie die ihrer Kinder). Seit ihrer Sterilisation, die ihr Mann nach dem mehrfach missglücktem Versuch, mithilfe gängiger Verhütungsmittel keine weiteren Babys mehr zu produzieren, angeordnet hat, tummeln sich in ihrer Reihenhaushälfte so viele Haustiere, dass diese begonnen haben sich gegenseitig aufzufressen. Und irgendwo unter ihnen sitzen die vergessenen Kinder, denen jetzt schon die Schuld dafür zugesprochen wird, dass sie heranwachsen, also nicht die weißen Spiegel bleiben, in denen die Schwester das Gesicht sehen kann, das sie verlor, weil sie es nie besaß.
Burkhard kann nicht versuchen, sich auf die Weise Kindheit anzufressen, wie seine Schwester es tut, er muss andere Wege finden. Wenn Burkhard heute eingekauft und alles vertilgt und wieder erbrochen hat – –
[mindestens drei Supermärkte fährt Burkhard dafür ab. Drei, damit die Menge an Lebensmitteln an der Kasse nicht auffällt, dass ihn die Verkäufer nicht erinnern oder falls er auf einen Bekannten trifft. Wenn er schließlich nachhause fährt, werden alle Tüten ins Schlafzimmer verfrachtet, das Burkhard abschließt, obwohl er seit Jahren alleine wohnt und nur er einen Hausschlüssel besitzt. Dann wird noch kurz auf der Bettkante gesessen, dass das Schwitzen und Zittern fortgeht danach noch einmal geprüft, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist, und dann alles aufgerissen und hinuntergeschlungen und ins Badezimmer gerannt und wieder herausgebrochen und manchmal verfängt sich eine Erinnerung in dem Erbrochenem und kommt mit hoch und Burkhard würgt sie in die Schüssel und ist sie doch nicht los. Das Ganze wird noch einige Male von vorn begonnen; bis Burkhard elend ist: aber auf glückliche Weise. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich das Elend lohnt]
– – Wenn Burkhard also all diesen Aufwand vertilgt und wieder erbrochen hat, auf dem Bett liegt, alle Viere von sich streckend: ein gehäutetes Tier, dann ist für eine kurze Dauer alle Butter fort. Dann kommen dem Jungen seltsame Sätze in den Kopf.
A little bit much summer between the cat Barbarische Mädchen verstecken ihre Rhabarberherzen
Laut Volksauskunft ist der Empfang des Glücks gestört
Und obwohl diese Sätze sich „schräg“ anfühlen, bleiben die Worte leicht und klar und Burkhard braucht nichts zu überwinden, damit das Weinen gelingt, ja, oft – aber das ist wohl dasselbe – hat er nicht einmal Interesse am Weinen, dreht sich auf die Seite, lässt die vertäfelte Wand auf sich zutreiben und heilt sich am Eindruck des braunen Holzes. Holz. Raues, sprödes, gemasertes Holz.
_________
Burkhard muss weinen, da ist so viel Zärtlichkeit für seine Schwester, auch wenn sich nie eine Sprache finden wird, in die sich in einer ehrlichen Bewegung etwas von dieser Zärtlichkeit legen ließe, und doch: Zuletzt bedeutet ihm all dies nur in Hinblick auf eines etwas: In Hinblick darauf, dass das Photo nicht nur die Unzulänglichkeit seiner Schwester, sondern über diese hinaus seine eigene zeigt. Denn auch Burkhard ist nicht geworden, was er versprochen hätte, hätten seine Eltern ihre gestöhnten Träume befragen können.
Versucht Burkhard die Gründe zu erfassen, die ihn zu einem Falschen machen, zerfallen ihm alle Berechtigungen wie ein zu Asche gewordener Gegenstand, den man nach einem großen Feuer das erste Mal berührt. Und dann bleibt ihm nur so etwas wie das Photo.
Ja, er war ein klügeres Kind als seine Schwester, aber davon war kein Gebrauch zu machen, denn er war es auf laute Weise. Und hatte man zuhause auch nicht stumm zu sein, so hatte man doch noch weniger laut zu sein – –
[ irgendwo innen drin ahnt Burkhard, dass jedes Kind zu laut gewesen wäre, aber diese Ahnung folgt erst auf den älteren Glauben, falsch zu sein, und verstärkt ihn so nur umso mehr]
– – von seiner Klugheit also war kein Gebrauch zu machen, denn aufgrund ihrer Lautstärke verriet sie, wer Burkhard war; wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war, der zu ungeduldig war, um Milchtüten auf eine solche Art zu öffnen, dass sie nicht beanstandet werden mussten; dass er einer war, der seinen Schwimmbeutel in der Schulumkleide vergaß und dem Lehrer, der nach Wochen den inzwischen durch die Feuchtigkeit von Schimmel befallenen Beutel in den Unterricht mitbrachte, widersprach, dass es seiner sei, obwohl alle wussten, dass es Burkhards war. Dass er einer war, der seinen Hund an seinem Bein rammeln ließ, um darüber zu masturbieren, weil er sonst keinen Eindruck von Lust kannte, aber solch einen Eindruck nötig hatte, weil ihn der Aufwand, der eine bloße Vorstellung bedeutete, zu sehr erschöpfte, um zum Ziel zu gelangen. Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte und darüber, anstatt sich von sich selbst zu befreien, indem er es gut sein ließ, nur noch mehr Dinge tat, die er nicht verwirken konnte und so eben der wurde, der er war: Einer, der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seiner Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen – –
[Beide, Mutter und Junge, hatten mit dieser sie beide kompromittierenden Tatsache, dass nichts an Burkhard die Mutter davon abhielt, ihren Sohn so zu beschimpfen, nichts anderes anzufangen gewusst, als Jahre über solche irrelevante Fragen wie z.B., ob die Mutter Pottwal oder Pottsau geschrieen hatte, zu streiten. Burkhard kann bis heute nicht davon ablassen, Überlegungen zu solchen Vorfällen anzustellen. War es nicht doch möglich, dass die Mutter, so wie sie es behauptete, Pottwal gesagt hatte? Es scheint ihm allerdings unglaubwürdig, vor allem, weil das Wort Pottsau ein gebräuchliches Schimpfwort ist und seine Mutter kein Mensch ist, der Schimpfwörter oder überhaupt Wörter erfindet. Andererseits kennzeichnet das Wort Pottsau eher weibliche Personen und Pottwal männliche, es könnte also auch anders gewesen sein und auf diese Weise blühen Burkhards Überlegungen fort und wird er einer müde, so erinnert er sich der nächsten usw.]
– – kurzum: Nichts hielt die Mutter ab, ihren Sohn auf die eine oder andere Weise zu beschimpfen; auf welche Weise dies geschah, war dabei nicht mehr auszumachen und würde es auch niemals sein. Wo bin ich hingekommen, dass es mir Erleichterung verschafft, wenn sie nur Pottwal gesagt hat, steigt es in Burkhards Hals aus der wahrgenommenen Unverhältnismäßigkeit dieser Beschäftigung auf. Nirgends bin ich hingekommen.
Und wenn er dann über das Gefühl, das seiner Schwester gehört, sich selbst anrührt, natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen, dann hat diese Geschichte kein Ende. Dann springt Burkhard unters Wasser, um sich den Hunger wegzuduschen, fährt zur Arbeit, kommt am Abend heim, steht am Fenster, sitzt auf der Bettkante und alles ist in Butter, schwelgt und tropft, rührt und matscht. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel – Häuser! Laken, Uhren, Treppen. Gebirge, Telefonleitungen; Bücher, Spiegelbilder. Und die Stunden tranen in die Tage und die Wochen in die Jahre.
Burkhard, dieser Junge, der sich den Hunger wegduscht, hat nur einen Gedanken: Alles muss in Butter sein, alles muss schwelgen, tropfen, alles rühren, matschen. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel; – Häuser! Laken, Uhren, Treppen; die Stunden tranen in die Tage in die Wochen in die Jahre. Ruft jemand in die Zeit, hebt er in seiner gelben Unterkunft den Hörer ab und spricht in die Muschel: Ja, Vater, ja, Mutter, Freund, Arbeitgeber, ja, lieber Gott, alles ist in Butter.
Burkhard ist schon lange fort von zuhause, aber heute hat er bei Aufräumarbeiten ein Photo wiedergefunden, das er einmal heimlich aus dem Familienalbum gelöst hatte. Es zeigt seine ältere Adoptivschwester mit etwa sieben Jahren, wie sie im hohen Gras steht, einen Bach im Rücken und einen glänzenden Hund vor sich an der Leine. Sie ist dem Photographen fliegend zugewandt. Das schwarze Haar ist kräftig, als bekäme sie auf dem Land zu essen, hätte drei Brüder und trüge Zöpfe; sie lächelt, steht in den Strahlen eines Lichtes, wie es auf deutschen Landschaftsgemälden zu finden ist: Ein Reh, so schaut sie aus; weich, wach und zum Verbergen wollen zart – jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen.
An seine Schwester zu denken, schmerzt Burkhard. Nicht verhindert zu haben, dass sie zuhause an so vielen Orten zusammenschrumpfte wie ein alter Ballon, z.B. am Esstisch, wenn sie etwas zerbrochen hatte – –
[aber sie zerbrach ja nie etwas. Als Burkhard auf die Welt kam, war die Schwester schon längst viel zu zurückgezogen in sich, um mit Gegenständen zusammenstoßen zu können. Es muss andere Anlässe gegeben haben. Anlässe, die Burkhard damals keine sein konnten. Zu klein, zu unauffällig müssen sie gewesen sein. Inzwischen haben sich Burkhards Sinne verfeinert. Doch was den Jungen heute kotzen macht, hat ihn früher nicht einmal husten lassen; und ohne Husten sind keine Erinnerungen zu machen]
– – formulieren wir es also allgemeiner: Wenn die Schwester einer Situation nicht gewachsen war, aber Antwort geben wollte, weil man ihr gut sein sollte und sie gelernt hatte, dass es dafür auf das Antworten ankam, und die Mutter sie beschimpfte, als stummen Fisch, oder ihr die Marmelade in den Schoß warf, dass er auf eine Art blutete, die nicht rechtfertigte, nach dem von ihr über jedes Maß herbeigesehnten Arzt zu rufen, es aber aussehen ließ, als könne es einmal, ein einziges Mal, doch notwendig sein, als bräuchte man nichts anderes zu tun, als der weißen Gestalt, die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme, entgegenzusinken, wenn also all dies geschah, so verschob die Schwester ihre Rettung in die Nacht. Scheren, kleine Doppelspiegel, Nadeln, Skalpelle, allem voran aber die strengen, mechanisch weißen Hände des Arztes baumelten wie Gestirne hinter ihren flackernden Augenlidern und gewannen an solcher Bedeutung in der Seele der Schwester – –
[und noch mehr in der von Burkhard, nachdem dieser seine Schwester im Schlaf einmal in wacher Klarheit hatte anrufen hören: Weißer Mann, bind mir einen Strauß aus deinen Instrumenten, an dem will ich riechen, bis ich blute und nicht mehr aufhöre zu bluten, solange nicht aufhöre, bis ich nicht mehr bin vor lauter Untersuchung]
– – diese Phantasien also gewannen solchen Raum in der Seele beider Kinder, dass sich das Phänomen wohl nur mit pathologischem Vokabular beschreiben ließe, was wir als Versuch jedoch mit aller Bestimmtheit von uns zu weisen haben, da uns die Dinge auf diese Weise nichts angehen.
_________
Später zog die Schwester aus – –
[um noch im selben Jahr, gefühlte Zeit, zu heiraten, vier Kinder zu bekommen und zu beschließen an Dart-Turnieren teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene. Sie meldete sich auch tatsächlich bei solchen Turnieren an, obwohl sie nie zuvor Dart gespielt hatte und grobmotorisch veranlagt war, doch es wurde nichts daraus. Schließlich nahm sie nicht einmal der Nachtkiosk als Aushilfe und so saß sie wie ein Meerschwein mit ihrer Nachbarin auf dem Domäne-Sofa und indem sie einander ihr Elend klagten, hielten sie sich gegenseitig die Beziehung zu dem mysteriösen Etwas aufrecht]
– – später also zog die Schwester aus und von da an war Burkhard nicht länger hilflos gegen den Schmerz der Schwester; denn die Schwester war ja fort. Nein, von da an war er selbst seine Schwester, ergab sich aber nicht natürlich in ihre Form, da sie ganz anders war als er, wie jeder Mensch ganz anders ist als jeder weitere, und wurde so ein schreiender Fisch – –
[obwohl auch Burkhard sich hütete, bestimmte Geräusche zu machen (die leisen). Denn ihren Schmerz, den hatte die Schwester zwar mitgenommen, da war sich der Junge sicher, aber es war ihm doch, als bestünde er in Form einer Hinterlassenschaft fort. Vielleicht hatte sich so etwas wie sein chronischer Schatten an die Wände geworfen, wie auch nach Jahren abgenommene Gemälde einen hellen Fleck hinterlassen. Verräterisch kamen die Wände ihm vor, ein furchterregendes großes Ohr waren sie ihm und das einzige, was verhinderte, in seinem erbärmlichen Gewimmere von ihnen belauscht zu werden, war Schreien und Stampfen. War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung, dass niemand von der Armut, in der man auf seinem Zimmer saß, erfuhr. Und so wurde Burkhard lauter, als er es eigentlich geworden wäre, und das kurioserweise, obwohl er nicht einmal rechtfertigen konnte, weshalb er so laut war, wie er es ohnehin war]
– – Burkhard wurde also ein schreiender Fisch. Der Vater brachte ihm in diesen Jahren oft Süßes mit, wenn etwas gewesen war, wofür er keine Tränen fand. Der Vater, das war einer, der weinte nie, er war ganz in seinen Algen, ein Wels war er, aber wenn er dem Jungen das Süße zustecken wollte und dieser es in einem ersten Versuch ausschlug, weil es ihm wehtat, etwas anstelle von zu bekommen, dann zitterte auf kaum merkliche, ja, dem Jungen schien (und darin lag der ganze Wert) auf eine nur für ihn wahrnehmbare Weise, die Stimme des Vaters und dem Jungen wurde ganz weich zumute und bevor sie beide fürchten mussten, dass sie doch vor einander anfangen müssten zu weinen, nahm der Junge hastig, was er bekam, ging auf sein Zimmer und aß es – ganz gleich wie groß und wie viel, ganz gleich, was es überhaupt war – auf.
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Warum tut es Burkhard so ohne gleichen weh, an seine Schwester zurückzudenken?
Weil es die einzige Art für Burkhard ist, sich mit einem Gefühl daran zu erinnern, wie es zuhause war. Nur über dieses Gefühl, das jemand anderem gehört, kann er sich selbst anrühren. Natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen.
Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl stehenden Adoptivkindern von der Mutter ausgesucht worden. Er stellt sich dabei das Kinderheim als eine Art Legebatterie vor – –
[allerdings ohne sich zu vergegenwärtigen, dass er dies tut. Täte er dies, würde es ihn verwundern, solch eine Vorstellung sein Eigen zu nennen. Er würde sie in die kindlichen Vorstellungen einreihen, die man noch von Korrekturen gänzlich unberührt mit sich herumträgt. Wie das etwa bis ins 20. Jahr der Fall war in Bezug auf die verrußten Steine, mit denen die Bahndämme aufgeschüttet sind und die er – wohl aufgrund ihrer Farbe und weil er wusste, dass alte Dampflokomotiven mit Kohle angetrieben wurden – für Kohle hielt. Da es viele Jahre keinen Anlass gegeben hatte, diese Vermutung mit dem, der er heute war, abzugleichen, hatte er sie nie revidiert, obgleich er heute nicht einmal mehr im Stande wäre, eine solche Idee hervorzubringen, wie er auch heute nicht mehr in der Lage wäre, seinen Schmerz in solch ein unreflektiertes Gedankenkonstrukt wie das der ‚Kinderlegebatterie’ zu legen, hätte er es sich nicht schon als Kind erfunden]
– – wie dem auch sei, Burkhard stellt sich das Heim als eine Art Legebatterie vor. Die adoptionswilligen Neueltern wurden dabei herbeizitiert und in einen Ausstellungsraum geführt, in dem unzählige Wiegen nebeneinander standen, aus denen überdimensional große Säuglingsköpfe mit rosa und himmelblauen Kappen über den Bastrand schielten: Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann.
_________
Dabei hat das Wissen darum, dass die Behauptung, das Photo habe für die Auswahl eine Rolle gespielt, nicht stimmen kann – –
[weil die Schwester auf dem Photo schon viel älter ist als sie es zum Zeitpunkt der Adoption war und Burkhard den Hund als den Hund seiner Großmutter wiederkennt, den er selbst noch gestreichelt hat und der ganze 19 Jahre alt geworden ist, bis ihm an einem heißen Julitag sein verkrebstes Gesäuge geplatzt war und sich über das Lederpolster des violetten Volvos der Tante ergossen hatte]
– – dabei also hat das Wissen um diese Unmöglichkeit keinerlei Macht über den Glauben von Burkhard. Es kann nicht sein, weiß Burkhard. Und doch ist es ihm wahr.
Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben – wenn wir Burkhards also in seinem Glauben folgen, das Photo sei der Grund gewesen, weshalb die Mutter Burkhards Schwester ausgesucht habe, stellt sich immer noch die Frage, was so bedeutsam an gerade diesem Photo ist. Worin liegt seine Macht begründet?
Auf dem Photo ist zu entdecken, was die Schwester versprochen hat zu werden und hält Burkhard es gegen das Licht, das zeigt, wer seine Schwester heute ist, dann weiterhin: was die Schwester nicht geworden ist. Zwischen ihrem Versprechen und meiner Schwester tut sich die Hölle auf, fühlt Burkhard und in diesem Gefühl vermag das Wort ‚Hölle’ ihn erstmals zu grausen.
Heute ist Burkhards Schwester ein Gnom mit kratzigem Kräuselhaar und Brüsten so groß wie anderer Leute Köpfe (z.B. wie die ihrer Kinder). Seit ihrer Sterilisation, die ihr Mann nach dem mehrfach missglücktem Versuch, mithilfe gängiger Verhütungsmittel keine weiteren Babys mehr zu produzieren, angeordnet hat, tummeln sich in ihrer Reihenhaushälfte so viele Haustiere, dass diese begonnen haben sich gegenseitig aufzufressen. Und irgendwo unter ihnen sitzen die vergessenen Kinder, denen jetzt schon die Schuld dafür zugesprochen wird, dass sie heranwachsen, also nicht die weißen Spiegel bleiben, in denen die Schwester das Gesicht sehen kann, das sie verlor, weil sie es nie besaß.
Burkhard kann nicht versuchen, sich auf die Weise Kindheit anzufressen, wie seine Schwester es tut, er muss andere Wege finden. Wenn Burkhard heute eingekauft und alles vertilgt und wieder erbrochen hat – –
[mindestens drei Supermärkte fährt Burkhard dafür ab. Drei, damit die Menge an Lebensmitteln an der Kasse nicht auffällt, dass ihn die Verkäufer nicht erinnern oder falls er auf einen Bekannten trifft. Wenn er schließlich nachhause fährt, werden alle Tüten ins Schlafzimmer verfrachtet, das Burkhard abschließt, obwohl er seit Jahren alleine wohnt und nur er einen Hausschlüssel besitzt. Dann wird noch kurz auf der Bettkante gesessen, dass das Schwitzen und Zittern fortgeht danach noch einmal geprüft, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist, und dann alles aufgerissen und hinuntergeschlungen und ins Badezimmer gerannt und wieder herausgebrochen und manchmal verfängt sich eine Erinnerung in dem Erbrochenem und kommt mit hoch und Burkhard würgt sie in die Schüssel und ist sie doch nicht los. Das Ganze wird noch einige Male von vorn begonnen; bis Burkhard elend ist: aber auf glückliche Weise. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich das Elend lohnt]
– – Wenn Burkhard also all diesen Aufwand vertilgt und wieder erbrochen hat, auf dem Bett liegt, alle Viere von sich streckend: ein gehäutetes Tier, dann ist für eine kurze Dauer alle Butter fort. Dann kommen dem Jungen seltsame Sätze in den Kopf.
A little bit much summer between the cat Barbarische Mädchen verstecken ihre Rhabarberherzen
Laut Volksauskunft ist der Empfang des Glücks gestört
Und obwohl diese Sätze sich „schräg“ anfühlen, bleiben die Worte leicht und klar und Burkhard braucht nichts zu überwinden, damit das Weinen gelingt, ja, oft – aber das ist wohl dasselbe – hat er nicht einmal Interesse am Weinen, dreht sich auf die Seite, lässt die vertäfelte Wand auf sich zutreiben und heilt sich am Eindruck des braunen Holzes. Holz. Raues, sprödes, gemasertes Holz.
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Burkhard muss weinen, da ist so viel Zärtlichkeit für seine Schwester, auch wenn sich nie eine Sprache finden wird, in die sich in einer ehrlichen Bewegung etwas von dieser Zärtlichkeit legen ließe, und doch: Zuletzt bedeutet ihm all dies nur in Hinblick auf eines etwas: In Hinblick darauf, dass das Photo nicht nur die Unzulänglichkeit seiner Schwester, sondern über diese hinaus seine eigene zeigt. Denn auch Burkhard ist nicht geworden, was er versprochen hätte, hätten seine Eltern ihre gestöhnten Träume befragen können.
Versucht Burkhard die Gründe zu erfassen, die ihn zu einem Falschen machen, zerfallen ihm alle Berechtigungen wie ein zu Asche gewordener Gegenstand, den man nach einem großen Feuer das erste Mal berührt. Und dann bleibt ihm nur so etwas wie das Photo.
Ja, er war ein klügeres Kind als seine Schwester, aber davon war kein Gebrauch zu machen, denn er war es auf laute Weise. Und hatte man zuhause auch nicht stumm zu sein, so hatte man doch noch weniger laut zu sein – –
[ irgendwo innen drin ahnt Burkhard, dass jedes Kind zu laut gewesen wäre, aber diese Ahnung folgt erst auf den älteren Glauben, falsch zu sein, und verstärkt ihn so nur umso mehr]
– – von seiner Klugheit also war kein Gebrauch zu machen, denn aufgrund ihrer Lautstärke verriet sie, wer Burkhard war; wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war, der zu ungeduldig war, um Milchtüten auf eine solche Art zu öffnen, dass sie nicht beanstandet werden mussten; dass er einer war, der seinen Schwimmbeutel in der Schulumkleide vergaß und dem Lehrer, der nach Wochen den inzwischen durch die Feuchtigkeit von Schimmel befallenen Beutel in den Unterricht mitbrachte, widersprach, dass es seiner sei, obwohl alle wussten, dass es Burkhards war. Dass er einer war, der seinen Hund an seinem Bein rammeln ließ, um darüber zu masturbieren, weil er sonst keinen Eindruck von Lust kannte, aber solch einen Eindruck nötig hatte, weil ihn der Aufwand, der eine bloße Vorstellung bedeutete, zu sehr erschöpfte, um zum Ziel zu gelangen. Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte und darüber, anstatt sich von sich selbst zu befreien, indem er es gut sein ließ, nur noch mehr Dinge tat, die er nicht verwirken konnte und so eben der wurde, der er war: Einer, der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seiner Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen – –
[Beide, Mutter und Junge, hatten mit dieser sie beide kompromittierenden Tatsache, dass nichts an Burkhard die Mutter davon abhielt, ihren Sohn so zu beschimpfen, nichts anderes anzufangen gewusst, als Jahre über solche irrelevante Fragen wie z.B., ob die Mutter Pottwal oder Pottsau geschrieen hatte, zu streiten. Burkhard kann bis heute nicht davon ablassen, Überlegungen zu solchen Vorfällen anzustellen. War es nicht doch möglich, dass die Mutter, so wie sie es behauptete, Pottwal gesagt hatte? Es scheint ihm allerdings unglaubwürdig, vor allem, weil das Wort Pottsau ein gebräuchliches Schimpfwort ist und seine Mutter kein Mensch ist, der Schimpfwörter oder überhaupt Wörter erfindet. Andererseits kennzeichnet das Wort Pottsau eher weibliche Personen und Pottwal männliche, es könnte also auch anders gewesen sein und auf diese Weise blühen Burkhards Überlegungen fort und wird er einer müde, so erinnert er sich der nächsten usw.]
– – kurzum: Nichts hielt die Mutter ab, ihren Sohn auf die eine oder andere Weise zu beschimpfen; auf welche Weise dies geschah, war dabei nicht mehr auszumachen und würde es auch niemals sein. Wo bin ich hingekommen, dass es mir Erleichterung verschafft, wenn sie nur Pottwal gesagt hat, steigt es in Burkhards Hals aus der wahrgenommenen Unverhältnismäßigkeit dieser Beschäftigung auf. Nirgends bin ich hingekommen.
Und wenn er dann über das Gefühl, das seiner Schwester gehört, sich selbst anrührt, natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen, dann hat diese Geschichte kein Ende. Dann springt Burkhard unters Wasser, um sich den Hunger wegzuduschen, fährt zur Arbeit, kommt am Abend heim, steht am Fenster, sitzt auf der Bettkante und alles ist in Butter, schwelgt und tropft, rührt und matscht. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel – Häuser! Laken, Uhren, Treppen. Gebirge, Telefonleitungen; Bücher, Spiegelbilder. Und die Stunden tranen in die Tage und die Wochen in die Jahre.