Alptraum

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nicole

Beitragvon Nicole » 08.10.2008, 21:34

Ich stehe in der großen Halle, am Fuß der Treppe. (Wieso starte ich eigentlich immer ganz unten?) Panik überkommt mich. Mir ist klar, was passieren wird. Trotzdem, oder gerade deswegen laufe ich los, nehme eilig zwei Stufen auf einmal. Ich öffne die erste Tür und bin gespannt, wen ich diesmal treffe – auch wenn es keine Rolle spielt.
Gerade als ich die Tür hinter mir zu ziehe, schließt sich auch eine am anderen Ende des Raums. Es ist Unterricht. Leise versuche ich, mich an der Wand entlang an den Stuhlreihen vorbei zu schleichen. Mein Großvater sitzt auf dem Thron des Papstes und hält einen Vortrag über die Besonderheiten mehrfach gehärteten Stahls und darüber, dass die Judenvernichtung die größte Lüge des zwanzigsten Jahrhunderts sei. An der Tafel versinkt gerade die Gustloff, Kinder schreien, es riecht nach Tod.
Ich stolpere über den Schulranzen meines Mathematikprofessors. Seine linke Hand verschwindet unter dem Rock meiner Mutter, die mit geschlossenen Augen verzückt immer wieder „Ja, ein Ingenieur!“ stöhnt. Ich entschuldige mich für die Störung und haste weiter. Die Tür am anderen Ende des Raumes ist weiter weg als zuvor. An der Bushaltestelle bleibe ich kurz stehen und schaue auf den Fahrplan. „Er ist schon weg!“ quäkt mir die alte Frau mit den grünen Haaren ins Ohr. Gerade als ich zu einer Antwort ansetzen will, rauscht der Bus an mir vorbei. Ich springe, halte mich an der Stoßstange fest, werde mitgeschleift. Mir wird übel von den Abgasen, die ich einatme. Eine Welle schwappt über meinen Kopf, ich tauche unter. Es ist schwer, unter Wasser die Augen zu öffnen, das Salz brennt. Ich stoße mich vom Grund ab, paddele nach oben. Ich kann das Sonnenlicht sehen, das milchig durch die Eisschicht schimmert. Mein Kopf schlägt gegen das Eis, das Wassers drückt meinen Körper in die Waagerechte. Das Eis liegt schwer auf Brust, Bauch und Beinen. Ich friere. „Sie müssen ihre Scheckkarte in den Schlitz schieben“ erklärt mir eine vorbeischwimmende Katze. Der Automat meldet „Altersprüfung, bitte warten…“, dann kann ich wieder atmen. Neben mir auf dem dunkelgrau gestreiften Sofa mit Plüschkissen füttert meine Freundin ein laut schmatzendes Sparschwein mit Groschen. Sie trägt große pinkfarbene Plastikohrringe und ein weißes Stirnband. Die Tür ist knapp zwei Meter vor mir, ich stehe auf, gehe darauf zu und drücke die Klinke nach unten. Kaum ist die Tür geöffnet, weht mir warmer Wind entgegen. Für einen Moment bleibe ich stehen, schließe die Augen. Dann erinnere ich mich und laufe weiter. Der Boden ist dunkel und klebrig. Ich komme kaum vorwärts, nähere mich nur langsam. Am Tisch meiner Lieblingskneipe sitzen vier Kommilitonen und spielen Karten. Einer hält mich am Arm fest. „Schnell, gib mir den Fuchs!“ flüstert er. Ich drücke ihm die Herz Zehn in die Hand und nehme den aufgespannten Regenschirm vom Tisch. Ein Windstoß kommt und weht mich in die große Halle, an den Fuß der Treppe.


Fehlerkorrektur: Altersprüfung, statt Alterprüfung. Danke Lisa!
Zuletzt geändert von Nicole am 09.10.2008, 15:58, insgesamt 1-mal geändert.

Yorick

Beitragvon Yorick » 10.10.2008, 22:54

Hallo Nicole,

schön atemlos geschrieben. Schließe mich im Wesentlichen den Anmerkungen von Lisa an.

Schon beim ersten Lesen fauchte mich die Katze an.

„Ja, ein Ingenieur!“ --> fein (inkl. Passage).


Titel gefällt mir, hat was.

Nein, kl. Scherz.

Viele Grüße,
y.

Nicole

Beitragvon Nicole » 20.10.2008, 12:23

Sorry, wenn ich mich jetzt erst melde....

Hallo Henkki,

freut mich, wenn der Text "nicht blass" bei Dir ankommt.
na, dann schauen wir mal, ob da "noch was geht", wenn ich mir den Text nochmal zu Gemüte führe... Danke Dir!

Hi Trix,

ein Rundrum Dankeschön und eine kuschelige Umarmung (hier speziell und so ganz allgemein :-) ) Gracias!

Hi Yorik,

hey, ich fühle mich geehrt...
Ohje, die Katze... ich gestehe, ich hänge an ihr, aber vielleicht kriege ich sie auch noch anderenorts unter, ich grübele...

Nicole


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