Die Mützenfalterin

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 06.11.2008, 09:15

Wir nennen sie die Mützenfalterin. Keiner kennt ihren Namen, weil niemanden ihr richtiger Name interessiert. Wir zweifeln nicht an, dass sie einsam ist. Zweifeln ist nicht unser Metier. Wir sind nicht einsam. Und zum Zweifel gehört die Einsamkeit. Wenigstens die Einsamkeit der Gedanken. Wir erfinden kurze Geschichten über sie. Damit uns die Zeit nicht lang wird. Wir geben an sie zu kennen. Gewissermaßen sind wir Angeber. Aber unsere Angaben können nicht bezweifelt werden. Weil niemand da ist, der sie bezweifeln könnte.
Höchstens die Mützenfalterin. Aber niemand hört auf die Mützenfalterin. Außerdem redet sie nicht. Nicht mit uns. Sie bewegt die Lippen. Sie formt Worte, die sie wieder verwirft. Wir ducken uns, denn manchmal wirft sie mit ihren Worten nach uns. Wenn sie niemanden von uns trifft, nimmt sie ein neues Blatt Papier. Schneeweiß. Und faltet es. Behutsam. Sorgfältig. Ihre Mützen sind perfekt. Sie reiht sie auf, auf der Fensterbank und vor ihrem Haus. Wir sehen wie der Wind sie durcheinanderwirbelt, er spielt mit den Mützen, er wirft sie hoch und lässt sie fallen, wenn er das Interesse verloren hat. Die Mützenfalterin hebt sie nicht auf. Irgendwann werden sie weitergetrieben. Inzwischen faltet die Mützenfalterin neue Mützen, die sie aufreiht, auf ihrer Fensterbank, vor dem Haus.
Wir denken nicht darüber nach. Wenn wir begännen darüber nachzudenken, würden wir uns verwandeln. Wir wären keine Angeber mehr, die sicher sind, dass das was sie sehen, das ist was zählt. Wir würden zu Fragenden. Wir könnten anfangen uns Fragen zu stellen. Zuerst über sie. Dann über die Mützen. Den Sinn. Den Wind. Und dann müssten wir uns den Fragen stellen. Und der Zweifel würde in die Hände spucken und grinsen. Weil wir ihm die Tür geöffnet haben mit unseren Fragen. Der Zweifel wartet nur auf solche Gelegenheiten. Man muss auf der Hut sein vor dem Zweifel, er kommt auf leisen Sohlen, er schleicht sich an. Wir hüten uns vor dem Zweifel. Denn Zweifel macht einsam. Wir behaupten, dass sie die Mützen faltet, weil sie einsam ist. Sie ist einsam, und will sich trotzdem hüten vor dem Zweifel. Also faltet sie Mützen, die sie dem Zweifel in den Weg stellt. Er setzt sie auf und verschwindet. Hauptsache, man hat an ihn gedacht. Man hat ihm ein Opfer gebracht. Die Mützenfalterin bringt Opfer für den Zweifel. Die Mützenfalterin faltet den Zweifel zusammen. Sie faltet Mützen aus Papier. Was ist Papier anderes als Zweifel. Wir setzen kein Fragezeichen hinter die Sätze. Wir hüten uns vor Fragen. Wir geben an die Wahrheit zu kennen. Die Wahrheit ist, dass wir sie die Mützenfalterin nennen. Welchen Namen sie wirklich trägt weiß niemand.

Max

Beitragvon Max » 09.11.2008, 20:54

Liebe Xanthi,

den Text habe ich nun schon mehrfach gelesen und dachte eigentlich, ich hätte schon eteas dazu gesagt.

Die Ausgangsidee der Mützenfalterin fand ich so gelungen, eingängig und doch zugleich originell, dass ich den Text (jedes Mal wieder) mit Spannung gelesen habe.

Sehr gelungen.

Liebe grüße
Max


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