Brot

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 18.12.2009, 15:11

Brot


Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen katholischen Sekten praktizierte Brotbuße, wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.


Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich in dem Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wolle er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.


„Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen...
Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die so jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwertechnisch.“



Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent - Sie wissen schon, die morgens meistens das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer mit einem etwas fleckigen Kittel, die Haare oftmals fettig oder unordentlich, wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie immer den, der darunter liegt - läuft zu dem jungen Mann und versucht ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.


„Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritt zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?“


„Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.“


Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna z.B., das Brot vom Himmel, auf das sich Christus später bezog, wenn er sich als solches bezeichnete, von dem man essen müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und so weiter. Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.


Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. „Die“, hatte er gleich am Morgen gesagt und auf die dicke Tür gezeigt, welche sein Büro von dem Vorzimmer trennte, „wird heute nur noch von Innen geöffnet.“
Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das gefiel ihm schon immer. Heute aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüber zu stehen, war etwas ganz anderes. Er war ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hatte viele Tücken. Es gab zweierlei Schmerzen, das wusste er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.
In der Versuchung jedoch war er stets alleine, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem sollte er sagen, dass er schon lange nicht mehr betete?
Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.
Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.


„Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das heraus bekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.
Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?“



„Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als Normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem, meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.“


Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie „Ihr Sohn...“ und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutsch vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben...
Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.
Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Becher...
Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.
Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.


„Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden, oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.“


Spangenbach schreibt:
„Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot ist.“


„Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, d.h. ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.“


Kann es sein, fragt am nächsten Tag eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich solange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?


Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

Einige Tippfehler beseitigt - Merci Renée
Zuletzt geändert von Sam am 20.12.2009, 11:58, insgesamt 1-mal geändert.

Yorick

Beitragvon Yorick » 28.12.2009, 14:12

Hallo Leonie,

der Sektenbergriff wird seit vielen Jahrzehnten sehr kontrovers diskutiert, und was du als "Uterscheidungsmerkmal" genannt hast, ist nach dem derzeitigen Stand der Diskusion so nicht mehr haltbar. Auch wenn der Begriff "für dich" anscheinend wohl definiert ist, ist das nicht hilfreich für eine Diskussion - besonders, wenn "du für dich" den Sektenbegriff sehr negativ belegst. Das Wort "Sekte" hat eine hohe Reiz- und Signalwirkung - gerade da finde ich es wichtig, genauer hinzusehen und sich in einer Diskussion zu Verständigen - über ein "für mich" hinaus.

Viele Grüße,
Yorick.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 28.12.2009, 14:45

Hallo Ihr,

ich bin ein wenig erstaunt, dass dieser Text dann doch sehr schnell zu einer inhaltlichen Diskussion über Religion und Kirche zu führen scheint. Kann er aufgrund seiner Machart dafür wirklich eine geeignete Grundlage sein? Ich habe den Eindruck, dass er tatsächlich, auch wenn das nicht Sams Intention war, je nach Nährboden, auf den er fällt, die vorhandenen Vorurteile gedeihen lässt, statt zu einer Auseinandersetzung mit ihnen und einem Hinterfragen der eigenen Vorstellungen zu führen.

Ich denke diese Diskussion führt von der Textbesprechung weg, ich fände sie daher in einem Café-Faden besser aufgehoben. Allerdings befürchte ich, auch aufgrund der Erfahrung mit den letzten Diskussionen, dass sie uns schnell an unsere Grenzen führen wird.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Yorick

Beitragvon Yorick » 28.12.2009, 14:58

Ich finde das supercool! Sams Text ist der Ursprung einer solchen Diskussion, und ja, sooo richtig Textarbeit ist das nicht mehr. Und? Und offensichtlich steckt in den Zeilen Dynamit, was will man mehr? Als Künstler?
Anscheinend ist gerade diese Machart ...treffsicher.

Wenn nicht hier über brisante Inhalte geredet wird, wo denn dann? Wir sind schon bei den Nazis - normalerweise wird es danach persönlich beleidigend - aber jede neue Diskussion bringt die Chance auf eine Veränderung. Vielleicht wird es ja noch?

Extrafaden ist natürlich auch ok.

Yorick

Beitragvon Yorick » 28.12.2009, 15:02

Oder man antwortet in Texten. Gegenentwürfe. (Küsstlerische) Auseinandersetzug mit dem Thema. Ist eh besser. Vielleicht mal ein "Ordner des Monats" mit Schlagworten wie: "Die Kirche gehört gesprengt" oder "Glaube ist die Rettung" keine Ahnung.

Yorick

Beitragvon Yorick » 28.12.2009, 15:05

Mh.

Oder wir lassen das hier. Mehr Textarbeit, weniger Inhalt. Ist auch in Ordnung.

@Sam: wenn des keine Absicht ist: es plätschert so vor sich hin, und -zack- geht es um Gott und Göbbels. :)

Nicole

Beitragvon Nicole » 28.12.2009, 15:33

Ich habe den Eindruck, dass er tatsächlich, auch wenn das nicht Sams Intention war, je nach Nährboden, auf den er fällt, die vorhandenen Vorurteile gedeihen lässt, statt zu einer Auseinandersetzung mit ihnen und einem Hinterfragen der eigenen Vorstellungen zu führen.


Hallo Flora,

das ist nicht wirklich Dein Ernst, oder? Für wie naiv oder besser blauäugig hälst Du den Leser?
Oder ist ein Text nur dann als Grundlage für eine Auseinandersetzung geeignet, wenn er zuvor die "richtigen" Ansichten zu dem Thema in Stein meiselt und die "falschen" Aussagen mit einem winkenden Lattenzaun versieht auf dem "böse-böse, neinneinnein" steht?
Kein Leser, der über einen IQ größer dem eines nordskadinavischen Knäckebrots hat, wird diesen Text so hinnehmen, wie er dort steht! Und sicher wir kein Leser mit einem IQ geringer dem eben geschilderten, sofern er des Alphabets überhaupt mächtig ist, sich die Mühe machen, einen für seine Verhältnisse langen und anstrengenden Text überhaupt zu lesen! Und selbst wenn, was soll passieren?

Meine Güte, das Leben ist doch kein Ponyhof! Und Literatur / Schreiben und Auseinandersetzung damit sicherlich auch nicht. Wenn wirklich jede, möglicherweise (oder sicher) kontrovers ablaufende Diskussion abgewürgt werden sollte, dann fühle ich mich hier zurecht derzeit schwer deplaziert.

Nicole

Klara
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Beitragvon Klara » 28.12.2009, 15:43

Abgewürgte Diskussionen finde ich auch schade.

Und Texte als Schuldige für geäußerte Gedanken finde ich auch Unsinn.

Dass Religion NICHTgleich Glaube und Glaube schon gar NICHTgleich KIrche ist, vergisst sowohl der Ungläubige wie der Gläubige gern mal. Und nimmt Dinge persönlich, die es gar nicht sein sollten, auch nicht dürfen.

Der Sektenbegriff ist schwierig, schon immer gewesen. Wahrscheinlich begann jede neue religiöse Ausrichtung als Sekte, als Abspaltung von der Hauptkirche. Weil die Unterschiede zu groß waren. Wenn sie genug überzeugen konnten, war es keine Sekte mehr.

Sekten sind aus Sicht der Hauptkirche immer die anderen, üblen. Aber die Grenzen verschwimmen mitunter, gerade im Hinblick auf orthodoxe Religionsausübende. Wo beginnt Sekte? Ab wann wird Religion "ungesund"? Da hat jeder eine andere Antwort drauf, eine Wahrheit gibt es nicht. Aber fragen muss man dürfen.

Pauschale Kirchenverdammungen bringen nichts. Es gibt Kirchen, es gibt Religionen, es gibt Glauben, und es gibt gute Gründe für alles Mögliche. Aber es gibt keinen Grund, dass Texte, die eine Sekte zum Teilthema machen, nicht diskutiert werden, nur weil sie kontroverse Reaktionen auslösen, die mitunter wenig mit dem Text zu tun haben.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 28.12.2009, 15:46

Yorick hat geschrieben:Und offensichtlich steckt in den Zeilen Dynamit, was will man mehr? Als Künstler?
Anscheinend ist gerade diese Machart ...treffsicher.

Explosiv. :mrgreen: Ach nein, das Format ist glaube ich keine Kunst, oder? Darüber streiten wir uns doch auch so gern. ;-)

Nicole hat geschrieben:Wenn wirklich jede, möglicherweise (oder sicher) kontrovers ablaufende Diskussion abgewürgt werden sollte, dann fühle ich mich hier zurecht derzeit schwer deplaziert.

Oh, ich hab schon auf dich gewartet. ;-)
Wenn du genau liest Nicole, will ich nichts abwürgen, sondern habe lediglich vorgeschlagen diese Diskussion, die aus meiner Sicht von Sams Text wegführt, ins Café zu verschieben.
Ansonsten ist dein Komm wieder äußerst erfrischend sachlich.

Yorick hat geschrieben:aber jede neue Diskussion bringt die Chance auf eine Veränderung. Vielleicht wird es ja noch?
Öhm ja, wer weiß. :rolleyes:

liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Nicole

Beitragvon Nicole » 28.12.2009, 15:58

Liebe Flora,

ich freu mich, Deine Erwartungen erfüllt zu haben. Den Gefallen tue ich Dir gerne, lieferst Du mir doch immer wieder Steilvorlagen, an denen ich manchmal einfach nicht vorbei kann. Vielleicht sollten wir hierfür noch eine passende Rubrik kreieren, damit es sich auch schön im richtigen Rahmen bewegt, gelt?

Nicole

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leonie
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Beitragvon leonie » 28.12.2009, 16:32

Lieber Yorick,

wie definierst Du "Sekte"? Das interessiert mich.

Ich habe ja nur geschrieben, dass das für mich eins der Merkmale ist, dass Sekten den Kontakt zur Außenwelt unterbinden. Ich will nicht ausschließen, dass man andere Definitionen finden kann. Ich lese da auch gerne nochmal nach.
Ich meine aber, dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen z.B. den Zeugen Jehovas und z.B. der Theologie Margot Kässmanns (um mal die prominenteste Vertreterin der protestantischen Kirche Deutschlands zu nennen gibt).

Deshalb wehre ich mich aber gegen eine Nicht-Unterscheidung von "Sekte" und "der Kirche". Das ist mir einfach zu undifferenziert. "Die Kirche" gibt es so gar nicht. Ebensowenig wie es "die Deutschen" gibt. Oder "die Muslime". Ich will das differenziert haben. Ich will wissen, wer denn da genau gemeint sein soll.
Die religiösen "Extremisten" wird es vermutlich immer geben, aber die kann man doch nicht zum Massstab für das Gros machen. Das darf man im Bezug auf den Islam nicht, das darf man auch nicht im Bezug auf das Christentum oder die Kirchen, meine ich. Das sind Pauschalisierungen, die niemandem gut tun und die die Fronten nur verhärten.
Eine religiöse Haltung wie Sam sie beschreibt sehen 99,9 Prozent der Kirchenmitglieder mit genau solchem Entsetzen wie andere vernünftige Menschen auch. Ich glaube, durch solches Nicht-Differenzieren beginnen Vorurteile. Und die bringen keinen weiter.
Ich vermute auch mal, dass das, was Du, Lisa, mit "ungesund" meinst, heute von der theologischen Mehrheit überhaupt nicht mehr vertreten wird.
Und was mich besonders ärgert, ist, dass diese Art der "(Kirchen)krititk" oft von Menschen vertreten wird (das will ich Dir, Lisa, nicht unterstellen, ist aber leider meine Erfahrung), die noch nie oder seit Jahrzehnten nichts mehr mit "Betroffenen" oder "Vertretern" zu tun hatten. Aus dem "Nicht-Kontakt" nämlich.

Ich finde, um solche Sachen öffentlich äußern zu können, sollte man sich zunächst ein genaues Bild gemacht haben und das bekommt man am ehesten durch den Kontakt mit "Betroffenen" oder "Vertretern der Institution". Im Grunde hast Du, Lisa, die Comicfiguren über dem Abgrund , die sonst entstehen, genau beschrieben.

Zur Urteilsbildung gehört meiner Meinung nach Hinschauen, Kontakt, Gespräch, Zuhören, Ernstnehmen.


Liebe Grüße

leonie

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 28.12.2009, 16:36

Hallo,

eigentlich solltet ihr es alle besser wissen, als zu versuchen, ein Thema wie "Religion" mal eben so, zwischen Weihnachten und Neujahr, in einem Internet-Forum klären zu wollen - sei es ein literarisches, sei es ein anderes. Dazu bedürfte es nämlich der Geduld, des Langmuts und der Einsicht eines Heiligen, und da zwar einige Heilige Literaten waren, aber längst nicht alle Literaten Heilige sind - tja. Aber ich habe ja mit "eigentlich" angefangen, gehe also davon aus, dass ihr euch nicht aufhalten lassen werdet; und das Unmögliche zu versuchen ist ja auch an sich schon groß. Oder, wie das inzwischen wohl heißen muss: supercool ;-)

Ferdigruß :-)
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Nicole

Beitragvon Nicole » 28.12.2009, 16:38

Liebe Klara,

schön, das Du meinen Gedanken zum Thema "Sekte/Kirche/Religion/Glaube" wieder so schön auf Punkt bringst.
Dass Religion NICHTgleich Glaube und Glaube schon gar NICHTgleich Kirche ist.
ergänzen würde ich am Ende noch "oder Sekte".

Betrachtet man die rein rechtliche Defintion von "Sekte" bzw "Körperschaft des öffentlichen Rechts" einer Glaubensgemeinschaft, ist die Trennung von der Dauer des Bestehens und der Anzahl der Mitglieder abhängig und juristisch einklagbar.
=> Scientologie also eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, so wie die evang. und kath. Kirche in den USA und in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet? Also dort Kirche, hier Sekte?
Die Übergänge sind fließend.

Vieles, was ich in anerkannten Kirchen sehe, erscheint mir so extrem, dass ich es für zumindest Sektenähnlich halte. Ist Kirche = Kirche, also überall gleich? Auch in den offiziell anerkannten "Kirchen" oder Glaubensgemeinschaften gibt es "Extremisten", sowie auch die "hilfreichen Engel". Alle Mitglieder einer Coleur über einen Kamm zu scheren wäre gleichzusetzen "alle Deutschen sind Nazis" oder "alle Soldaten sind Mörder" oder, um im Religiösen zu bleiben "alle Nonnen sind unbefleckt" oder auch nur "alle Mönche leben keusch". Alles Verallgemeinerungen, die man so nicht stehen lassen kann, finde ich...

Ob ein Mensch gut oder böse handelt, sich an die jeweiligen Regeln (seiner Kirche oder der Gemeinschaft) hält, entscheidet sich nicht dadurch, welchen Hut er aufhat.

Nicole


Liebe Leonie,

gerade haben sich unsere Postings überschnitten. Du sprichst die Zeugen Jehovas an. Was sind sie für Dich? Sekte oder Kirche? In diesem Zusammenhang: auch die Zuegen Jehovas sind als "Körperschaft des öffentlichen Rechts" in Teilen Deutschlands anerkannt, dort also gleichgesetzt mit der katholischen oder evangelischen Kirche...

Yorick

Beitragvon Yorick » 28.12.2009, 16:46

Hallo Flora,
jaaaa, tun wir so gerne.

Und du hast Recht: das Magazin ist keine Kunst. Und Sam ist kein Fernsehmagazin? Auch ok? Und ich will nicht die Weltformel für Kunst finden. Und nicht alle explosiven Texte sind "künstlerisch wertvoll". Und C4 ist auch keine Kunst.

Ha. Das hat gesessen! :)

Vielleicht bringt eine Diskussion wirklich nix (im Forum (zu anstrengend für zuwenig Nährwert)). Deswegen solche Texte.

maybe.

(hier kam jetzt der Hinweis, dass eine neue Nachricht eingestellt wurde. wow....)

Hallo Leonie,

ne, tue ich nicht. Den Sektenbegriff definieren. Weil: sehr vielschichtig. Aber du scheinst da eine sehr genau Vorstellung zu haben. Willst aber, dass man "Kirche" ganz differenziert sieht. Finde ich gut. Sehr gut. Aber bitte dann auch "Sekte". Weil gibt es ebensowenig oder soviel wie Kirche. Und die mediengestützte "nicht-Kontakt" Vorstellung von Sekten ist mir zu undifferenziert.

Wikipedia ist ein guter Einstieg. Weiterhin die Broschüre des Berliner Senats zu Jugendreligionen und Psychogruppen (oder so ähnlich, im Internet), dort die Begriffsklärung.

Viele Grüße,
Yorick.

@ferdi: ja. nein. genau. hä?

Sam

Beitragvon Sam » 28.12.2009, 17:09

Hallo Lisa,

herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Ich fand deine Gedanken sehr spannend zu lesen. Und ja, dieses Bild der Comicfiguren ist sehr anschaulich und auch nachvollziehbar.

Natürlich hätte man den Text anders schreiben können, als Geschichte. Das nähme aber dann viel mehr Platz ein, es sei denn, man würde als Autor Stellung beziehen wollen. Und genau das wollte ich eben nicht. Wie bereits erwähnt, sehe ich diesen Text als Spiegel von öffentlicher und subjektiver Wahrhnehmung. Eine bestimmte Reaktion habe ich nicht bewirken wollen, aber die nun stattfindende Diskussion verwundert mich nicht. Wobei mir klar ist (und auch von vornherein klar war), dass nicht der Text selbst, sondern Reaktionen darauf (in diesem Fall deine) einen solchen Diskurs einleiten. Und das lässt mich mit dem Konzept des Textes dann doch recht zufrieden sein.

Liebe Grüße

Sam


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