Pig

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 10.08.2010, 14:43

Pig


Man nennt mich Pig. Könnten Sie mich sehen, würden Sie verstehen warum. Bei einem Gewicht von mehr als 500 Pfund, steht ein anderes Tier für einen Spitznamen nicht mehr zur Verfügung. Aber auch Pig hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt. Der einzige, der noch mit mir spricht, ist der junge Armenier von der Health Care. Und der nennt mich immer brav Mister Templeton. Diese Jungs werden verdammt schlecht bezahlt. Und das, was sie bekommen, erhalten sie weniger fürs Pflegen, als dafür, dass sie immer freundlich sein müssen. Bei mir ist ja noch nicht so viel zu tun. Einmal die Bude durchsehen, Fußnägelschneiden ab und zu oder das ein oder andere Ekzem einschmieren. Ich weiß gar nicht, wie der Junge heißt. Ich nenne ihn Sansibar, und damit ist er offensichtlich zufrieden.

Hemingway hat einmal richtigerweise gesagt, Trinken sei eine Religion. Oder war es Pollock? Egal. Wenn dem so ist, dann ist Essen auch eine Religion. Eine, die wesentlich mehr Hingabe verlangt, sind doch die ästhetischen Opfer viel früher und viel offensichtlicher zu erbringen.
Die hundert Pfund überschritt ich mit sechs, die zweihundert mit vierzehn Jahren. Es war, als wäre man in eine Sekte hineingeboren. Es gab keine unbeantworteten Fragen. Und jedes Problem schien sich darin zu begründen, dass es auf die eine oder andere Weise zu einem Engpass in der Nahrungsaufnahme gekommen war. Man mag eine solche Engstirnigkeit verurteilen. Paradoxerweise entspricht es aber der Wahrheit. Am Ende läuft alles auf das Essen hinaus, daran glaube ich fest.
Nun, ich geh mit dieser Erkenntnis nicht hausieren. Dennoch es ist meine Überzeugung, dass das Essen einen hinreichenden Lebensinhalt bieten kann. Hinreichend genug, um eventuelle negative Folgen in Kauf zu nehmen. Wie im Rennsport zum Beispiel. Oder beim Boxen. Es ist immer der Geist, der die Zerstörung des Körpers billigend in Kauf nimmt. Mein Körper will bestimmt keine fünfzehn Hamburger zum Frühstück haben. Der gäbe sich auch mit ein paar Scheiben Matzen zufrieden. Oder mit ein oder zwei Äpfeln. Ich bin derjenige, der keine Äpfel oder kein ungesäuertes Brot haben will. Ich bin es, der bestimmt, dass die Mayonnaise auf einem Sandwich mindestens einen Zentimeter dick aufgetragen werden muss. Ich ertränke dasselbe Sandwich unter einen halben Liter Ketchup.
Maßloses Essen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern davon, dass man seinen Körper zu einem gehorsamen Hund macht. Man bezwingt dessen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Mäßigkeit und macht ihn zu einem Gefäß der Gier.
Und das ist gut so, möchte ich sagen.
Witzigerweise ist die erste Frage, die sich vielen Menschen bei meinem Anblick stellen, ob ich es denn noch tun kann. Ich kann Sie beruhigen. Noch kann ich, auch wenn mein Arzt (die einzige Person, die sich außer dem Armenier noch um mich kümmert) mir prophezeit hat, dass damit in den nächsten Monaten endgültig Schluss sei. Verfettung der Drüsen etc. Schwellkörperlähmung infolge von kontinuierlich ansteigendem Cholesteringehalt im Blut. Und und und.
Meinen ersten Sex hatte ich mit einem Pirellikalender, den mein Vater für fünfhundert Dollar bei einer Auktion in Las Vegas ersteigert hatte. Seit ich dreizehn bin, kann ich meinen Schwanz nur noch im Spiegel sehen. Na und? Sex ist die am meisten überschätzte Sache der Welt. Ich habe mir Nutten kommen lassen. Manchmal sogar zwei oder drei zugleich und sie sind über meinen fetten Leib hergefallen, als wären meine kalkweißen Schenkel die Pforten zum Paradies. Sie haben ihre Nasen in meine Fleischfalten gepresst und an mir herumgesaugt und gelutscht. Dennoch bereitet mir ein Tiramisu weit mehr Vergnügen, ja selbst ein Viertelpfünder mit Käse bringt mein Blut eher in Wallung, als ein nackter Frauen- oder Männerarsch, wie jung er auch sei.
Die Völlerei ist der Sieg des Willens über das Bedürfnis. Und weit intensiver in seinem Ausleben, als jedwedes sexuelle Verlangen. Wie oft kann man innerhalb von vierundzwanzig Stunden Sex haben? Drei Mal, vier Mal, fünf Mal vielleicht. Essen können sie den ganzen Tag. Und das Schöne dabei: Das Essen alleine hat nichts von der Lächerlichkeit der Selbstbefriedigung, nichts von jener erbärmlichen Halbheit der Selbststimulierung, die nur dadurch funktioniert, dass man sich eine weitere Person vorstellt. Denn das andächtige Fressen, wie auch das Trinken, ist eine gewollt einsame Tätigkeit. Es ist kein Ersatz, es ist genau das, was man möchte. Der Unterschied zwischen dem Duft eines guten Essens und Musik ist der, dass Musik niemals die Bedürfnisse befriedigen kann, die sie weckt. Aber der Bissen im Mund erfüllt jenes Versprechen, welches der Duft bereits gemacht hat.

Ob ich Angst vor dem Tod habe? Natürlich nicht! Angst vor dem Tod haben nur diejenigen, die sich Diäten verordnen lassen und sie dann durchhalten. Schließlich ist der Tod das finale Abspecken. Damit muss man ja nicht schon vorzeitig beginnen. Und so, wie sich mein Körper bei vielen Dingen endlos Zeit lässt, sei es das Scheißen, das Pissen oder das Einschlafen, ja mit der gleichen Mühsal, mit der ich aufstehe und ein paar Schritte umhergehe, mit der ich mich in die Badewanne hinein und wieder hinauswuchte, mit der gleichen Gemächlichkeit, mit der alle meine Muskeln auf zerebrale Befehle reagieren, wird sich auch mein Körper an das Sterben machen. Da muss ich nun wirklich keine Befürchtungen haben. Zumal sich mein Schmerzempfinden auf angenehme zehn Prozent des Normalen eingependelt hat. Da könnte sich sogar meine Bauchspeicheldrüse verflüssigen, ohne dass es mir den Appetit verschlüge.
Wenn es noch etwas gäbe, für das ich mich stark machen würde, dann für mehr gesellschaftliche Akzeptanz von Fettleibigkeit. Ich wünsche mir, die Leute sähen ein, dass es sich hier nicht um eine Schwäche, sondern eine Stärke handelt. Und mehr noch. Um eine Art Kunst. Man formt den eigenen Körper zu etwas, das einerseits dem eigenen Wesen entspricht, unberührt von den Strömungen der Mode, gleichzeitig aber auch eine Abstraktion dessen darstellt, was weithin als akzeptabel gilt. So bereite ich mein Essen wie der Maler die Farbe anrührt und der Schriftsteller nach den richtigen Worten sucht. Bei den einen steht am Ende das Bild oder das Buch. Bei mir ist es der Körper als amorpher Kontrapunkt zum allgemeinen ästhetischen Empfinden. Und wenn ich in einigen Monaten das Stadium der absoluten Unbeweglichkeit erreicht habe, wäre mein Platz eher der in einer Kunstausstellung, als in einem Krankenhaus oder Pflegeheim.
Zugegeben, dies sind Träume. Aber eines Tages wird es vielleicht so sein. Unsere Lobby ist stark und wächst mit jedem Jahr, das der Wohlstand noch unter uns zu weilen gedenkt.
Was uns zustößt, enthält kein Urteil über uns, habe ich mal gelesen. Das mag stimmen. Aber unser Aussehen provoziert jede Menge Beurteilungen über das, was wir sind, was wir waren oder sein werden. Wenn die Leute mich anschauen, will ich, dass sie urteilen. Sie sollen den unvermeidlichen Rückschluss ziehen, von der Form zum Wesen, von der Gestalt zum Charakter. Und die Menschen tun es. Ich habe es oft gesehen. Niemanden treffen ehrlichere Blicke als einen fettleibigen Menschen.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 18.08.2010, 09:16

Hallo Sam,

immer gern, wenn Du mit meinen wirren Kommentaren zurecht kommst.

Vielleicht enthält der Text nicht die Meinung direkt, aber immer den Autor. Ich kann das nicht so richtig gut erklären, was ich meine. Ist eher gefühlt als verstanden. Und, um das mal klar zu stellen, sicher nicht dramatisch bei diesem Text.

Die Art wie Du Pig diesen Text formulieren lässt, klingt für mich nicht nach Selbstbewusstsein, sondern eher nach Zynismus und Selbsthass. Die Erklärung des eigenen Versagens zum Kult, die Umkehrung der Feststellung, dass leider der Körper mit seinen Trieben und das Unterbewusste im Zweifel dem Willen klar überlegen sind. Aber das spiegelt vermutlich mehr meine Meinung zum Thema. Ich kann Pig seine Aussagen nicht glauben. "Me thinks he protests too much", er redet zu viel in geschliffenen Sätzen, so als müsse er sich selbst überzeugen. Essen ist besser als Sex so wie die Trauben hoch an der Rebe zu sauer sind? Mein Körper will keine fünfzehn Hamburger, das zwinge ich ihm willentlich rein? Hmmm? Ich denke, das gilt bestenfalls, wenn wir den Körper als biologische Maschine ohne die Psyche nehmen. Und selbst dann nicht. Ein hübsch auf Überfluß eingestellter Organismus wird erheblichen Widerstand aufbringen, wenn er seine täglichen Hamburger nicht bekommt. Und auf dieser Basis frage ich mich dann natürlich: was wollte der Autor mir sagen? Umso stärker, als ich eben Pig nicht wirklich glauben kann. Natürlich ist immer klar, dass eine von einem Schriftsteller geschaffene Figur ein Kunstprodukt ist. Im besten Fall gelingt es, den Leser das vergessen zu lassen. Im Theater heißt das "suspension of disbelief". Wir wissen, dass wir ein Schauspiel sehen, aber wir lassen uns darauf ein. Und genau das gelingt mir hier nicht ganz. Vielleicht bin ich zu mißtrauisch. Und leider kann ich nicht wirklich mit dem Finger auf die Stellen zeigen, an denen es liegt.

Viele Grüße
H

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.08.2010, 17:39

Lieber Sam,
welcher der beiden unterschiedlichen "approaches", Deiner oder meiner, dem Dicken gerechter wird, wäre wohl nur ermittelbar, wenn ich auch einen Koloss einmal sich selbst outen ließe. Aber das wird auf sich warten lassen, erst einmal steht Deiner als ein erratischer Block in der Forenlandschaft!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 19.08.2010, 20:45

Hallo Henrik,

ich möchte dir gerne nochmals danken, dass du deine Meinung so ausführlich dargelegt hast. Offensichtlich ist es so, dass Pig bei dem einen als authentisch rüberkommt, bei dem anderen nicht. Und deine Argumente sind durchaus stichhaltig. Mein Problem ist nur, dass ich gar nicht wüsste, wie ich den Text, mit den Intentionen, die ich hatte, anders schreiben sollte. Aber unabhängig davon, war es sehr interessant deine und die Meinung der anderen hier zu lesen.



Hallo Quoth,

ich wage zu behaupten, dass, wenn du dieses Thema angingest, es den "Dicken" wahrscheinlich eher gerecht würde. Wahrscheinlich allein schon deshalb, weil du es versuchen würdest, was ich im Fall von Pig gänzlich unterlassen habe.

Ich dank dir herzlich!

Gruß

Sam

carl
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Beitragvon carl » 24.09.2010, 19:47

Lieber Sam,

zu allererst: ein rundherum gelungener Text!
Da wir hier ein Literaturforum sind und kein filosofischer Debattierclub, möchte ich nur kurz darauf hinweisen:
Das Ding an sich ist zwar un-erkennbar. Zugegeben.
Aber deine Texte beziehen einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Kraft aus dem Paradox, dass sie eine rein subjektive Deutung als Tatsache etablieren wollen gegen... ja, gegen was?
Die Wirklichkeit? Den gesellschaftlichen Konses über das, was die "Realität" sein soll?
Egal! Ich werde die Gegenposition nicht formulieren.
Aber wenn es das nicht gäbe, wo jeder Leser sagt: nein, so ist es nicht!, wennn dein Versuch der hermetischen Abschottung einer Sichtweise gegen den Konsens nicht nahezu perfekt gelänge (nahezu: den er scheitert doch, s.u.): dann fehlte - zumindest einigen deiner Texte - die Spannung.
Wir sprachen schon an früherer Stelle darüber...

Konkret nur 3 Punkte, wo nicht alles stimmige Zuschreibung ist:
- Pigs Interpretation der Fress-Sucht als Willensakt (absurd! Ich will dass die Sonne aufgeht: und sie tut es. Denn ich will es immer morgens.)
- Die Überhöhung des Fress-Aktes zum Kunst-Willen (als ob er essen würde, um(!) sich zu einer Aussage zu gestalten)
- und sein Ausweichen, was die Todes-Frage angeht, die er selbst aufgeworfen hat. Was da steht ist nichts weiter als Woody Allen: ich habe keine Angst vorm Sterben. Ich will bloß nicht dabei sein, wenn es passiert.

Nun, wir beide werden uns über die Wirklichkeit kaum einigen können. Was ja kein Schaden ist... solange gute Texte entstehen.

Also nochmal Chapeau! & liebe Grüße, Carl

Sam

Beitragvon Sam » 26.09.2010, 10:08

Hallo Carl,

vielen Dank! Es freut mich, wenn du den Text als gelungen betrachtest.

Bei den drei Punkten, die du als nicht stimmig ansiehst, kann ich dir beim letzten, der Todes-Frage am ehesten zustimmen.

Pigs Versuch seine Fresssucht als Willensakt darzustellen, erscheint mir schon stimmig, weil sie für ihn eben keine Sucht ist (was ein Zeichen von Schwäche wäre), sondern die freie Entscheidung, es genau so zu tun.

Die Überhöhung des Fressaktes hin zur Kunst gründet in Pigs Bewusstsein darüber, wie er allgemein von seiner Umwelt wahrgenommen wird. Er weiß, dass seine Körperform unweigerlich Beurteilungen über ihn als Person provoziert. Anstelle auf einer Differenzierung zwischen Persönlichkeit und Erscheinungsbild zu bestehen, sieht Pig seinen Körper als eine Aussage über sein Wesen, da er ihn willentlich so geformt hat. Die Menschen sollen ihn sehen und aufgrund des Gesehenen urteilen. Der Schritt dahin, sich selbst als Kunstwerk (sich selbst der Betrachtung preisgebend) zu sehen, ist für mich deswegen durchaus nachvollziehbar. wobei ich natürlich akzeptiere, wenn der Leser es nicht so sieht.


Ich hoffe, du gestattest mir noch ein Wort hierzu:
Da wir hier ein Literaturforum sind und kein filosofischer Debattierclub

Da gebe ich dir zwar Recht, aber für mich sind Literatur und Philosophie keine getrennten Bereiche. Nicht selten wird in der Literatur bildhaft gemacht, was vorher im philosophischen Diskurs theoretisch besprochen wurde. Manchmal sogar unbewusst, wie es mir mit einem eigenen Text vor kurzem erging, als ich den Aufsatz eines französischen Moralphilosophen las, der darin einige Gedanken über das Thema Schuld formuliert, die das Kernstück meines Textes bilden, den ich allerdings schon vor geraumer Zeit und ohne den Aufsatz zu kennen schrieb. Solche Verbindungen finde ich faszinierend.
(Für den Fall, dass es dich interessiert: Vladimir Jankélévitch - Schuld und Vergebung. Zu lesen in der Ausgabe 3/98 der Zeitschrift Sinn & Form. Mein Text "Der Offizier weint" steht im Publicus.)


Nochmals herzlichen Dank!


Gruß

Sam

carl
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Beitragvon carl » 26.09.2010, 12:24

hallo Sam,

die Apologie von Pigs Fettsein finde ich sehr gelungen!!
Keine Frage, dass Pig selber glaubt, er wolle seinen "Körper als eine Aussage über sein Wesen, da er ihn willentlich so geformt hat" verstehen.
Es stimmt nur nicht.
Und zwar aus dem Text heraus: wer mit 6 Jahren schon 100 Pfund wiegt, wird das kam als willentliche Selbstgestaltung verkaufen können. Das ist eine Überhöhung der Tatsache, dass sich Pig als fett vorfindet und da nichts dran ändern kann.
Ebenso der ästhetische Gestaltungswille. Der Vergleich hinkt:
Ein Künstler rührt die Farben an, um eine ästhetische Aussage mit ihnen zu treffen. Ohne die hat das Anrühren keinen Sinn.
Pig bereitet sein Essen nicht zu, um eine ästhetische Aussage zu treffen, sondern um zu essen. Andächtig, für sich alleine. Als Selbstzweck. Sagt er selber: Essen ist die Sache selbst. Ästhetische Kollateralschäden muss er in Kauf nehmen und wendet sie in einer Trotzhaltung oder einem Versuch der Selbstachtung ins vermeintlich Positive.
Gegenprobe: gäbe es die Schlankmach-Pille, die ihm erlaubte, folgenlos zu fressen, würde er ablehnen?
Dann äße er erst um fett zu sein.

Was ich aufgrund einer andern Diskussion (Das Amulett) sagen wolle: Deine Darstellung der subjektiven Sicht ist perfekt. Aber trotz ihres Versuches, sich hermetisch gegen alles andere abzuschotten, schimmert diese andere Wirklichkeit durch.
Ich werde mich hüten diese Wirklichkeit zu definieren.
Aber sie ist da. Es ist eben nicht alles Zuschreibung.

Liebe Grüße, Carl

Sam

Beitragvon Sam » 26.09.2010, 17:09

Hallo Carl,

deine Argumentation ist so zwingend, dass ich sie voll und ganz akzeptiere. Womöglich wirkt der künstlerische Aspekt wie im Nachhinein aufgepfropft, nicht von Pig ausgehend, sondern eben doch vom Autor her, um der Überspitzung zusätzliches Futter zu geben. Der Vergleich mit dem Künstler, der seine Farben anrührt hinkt. Pig geht es in erster Linie ums Essen, nicht darum, etwas zu tun, um fett zu werden. Der Schritt von der Bereitschaft ästethische Opfer zu bringen hin zur Ästhetisierung gerade dieses Opfers ist nicht ausreichend dargestellt. Das habe ich jetzt erkannt.

Vielen Dank für diese wirklich sehr hilfreichen und erhellenden Hinweise!

Gruß

Sam

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Beitragvon Pjotr » 26.09.2010, 18:57

Guten Abend.

carl hat geschrieben:Keine Frage, dass Pig selber glaubt, er wolle seinen "Körper als eine Aussage über sein Wesen, da er ihn willentlich so geformt hat" verstehen.
Bis hierhin folge ich der Kritik.

Es stimmt nur nicht.
Und zwar aus dem Text heraus:
Ab hier nicht mehr. Für mich sind die Widerlegungen nicht stimmig.

Ja, wer schon als Kind dick ist, und wer vielleicht sogar eine angeborene Stoffwechsel-Störung hat (ich bin allerdings kein Mediziner), der kann das Dicksein nicht als sein Wille verkaufen. Es besteht aber die Möglichkeit, dass Pig keine angeborene körperliche Störung hat.

(Über den Willen per se will[sic] ich aus Zeitgründen keine Debatte starten, will nur sagen, dass ich da ähnlich denke wie Schopenhauer: Der Mensch kann sowieso nicht wollen, was er will. Aber wir reden ja hier nicht über den Willen per se, sondern über den "eingebildeten" Willen, jener, der gemeint ist, wenn beispielsweise gesagt wird, man wolle das Fenster aufmachen, oder man wolle jetzt etwas lesen. Aber letztendlich ist der Wille nicht vom Willensbekunder selbst angestoßen, sondern von außen und mit zufälliger Unschärfe ihm zugeflogen, meiner Ansicht nach.)

Ja, Pig bereitet sein Essen zu, um zu essen. Dennoch kann er damit eine Aussage machen, zwar nicht durch den Akt der Zubereitung, sehr wohl aber mit dem körperlichen Resultat seines übermäßigen Essens und seiner vermeintlichen Trotzhaltung. Die meisten Maler exhibitionieren ja auch nicht die Vorbereitung der Farben bereits, sondern erst das, was dabei herauskommt: Das Bild.

Wo ich das erste Warum der unendlichen Warum-Kette ansetze, ist natürlich beliebig. Warum ist da ein Bild? Weil er gemalt hat. Weil er Farben zubereitet hatte. Weil er Lust zu malen hatte. Weil er existiert. Weil die Erde vor fünf Milliarden Jahren erkaltete. Weil 3 die Wurzel aus 9 ist. Etc. pp.

...

Nicht dass der Eindruck entsteht, ich würde die Pig-Figur verteidigen. Ich finde nur, die genannten Widerlegungen sind nicht notwendig stimmig.


Gruß

Pjotr

carl
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Beitragvon carl » 27.09.2010, 11:21

Hallo Sam und Pjotr,

da liegt wohl immer noch ein Missverständnis vor: ich kritisiere Sams Text nicht.
Er zeigt für mich gelungen Pigs Sicht der Dinge.

Sam sagte an anderer Stelle (verkürzt), es gäbe nur die subjektive Sicht. Darauf habe ich mich bezogen.
Er versucht, Pigs Sicht möglichst abzudichten gegen jede Einspruchsmöglichkeit einer andern Sichtweise (so verstehe ich dich, Sam) Das ist ihm auch fast vollkommen gelungen.

Du schreibst, Pjotr:
"Ja, wer schon als Kind dick ist, und wer vielleicht sogar eine angeborene Stoffwechsel-Störung hat (ich bin allerdings kein Mediziner), der kann das Dicksein nicht als sein Wille verkaufen."
Eben. Wenn er z.B. schon mit 6 Jahren 50 kg wiegt. Das sagte ich in deinem Zitat von mir, wenn man es vollständig liest ;-)

LG, Carl

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 27.09.2010, 12:02

Hallo Carl,

ich weiß, dass Du das sagtest, genau darauf ging ich ja ein und stimmte mit "ja" zu. Nach diesem Punkt jedoch stimme ich nicht mehr zu, ich schrieb: "Es besteht aber die Möglichkeit, dass Pig keine angeborene körperliche Störung hat."

Vollständig lesen? Genau :-)


GN

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 27.09.2010, 17:44

Hallo Carl und Pjotr,

ich denke, man muss hier zwei Aspekte des Willens auseinanderhalten. Einmal den Willen zu Fressen und einmal den Willen den Körper durchs Fressen zu formen. Wenn man das tut, habt ihr beide Recht.

Pig sagt:
Die hundert Pfund überschritt ich mit sechs, die zweihundert mit vierzehn Jahren. Es war, als wäre man in eine Sekte hineingeboren. Es gab keine unbeantworteten Fragen. Und jedes Problem schien sich darin zu begründen, dass es auf die eine oder andere Weise zu einem Engpass in der Nahrungsaufnahme gekommen war. Man mag eine solche Engstirnigkeit verurteilen. Paradoxerweise entspricht es aber der Wahrheit. Am Ende läuft alles auf das Essen hinaus, daran glaube ich fest.


Das zeigt, wie von frühester Kindheit an in ihm der Wille zum Essen geformt und gefördert wurde. Oder er ist ihm in dieser Zeit "zugeflogen". Jedenfalls bildet das Fressen für ihn einen hinreichende Lebensgrundlage, hinreichen genug, um negative Folgen in Kauf zu nehmen.

Wenn es aber darum geht, ob Pig seinen Körper willentlich so geformt hat, dann muss man zugeben, dass dies aus dem Text heraus nicht ersichtlich wird. Es ist eine Verteidigungshaltung gegen das allgemeine ästhetische Empfinden.

Durch eure Kommentare und das Nachdenken darüber, komme ich fast schon zu dem Schluss, dass es stimmiger wäre, würde Pig eine wesentlich offensiver Haltung gegenüber den "Normalessern" annehmen. Wenn er sich als Kunstwerk in einer Ausstellung sehen möchte, ist das nichts anderes, als der Wunsch, sich zu integrieren, Akzeptanz zu finden (was er ja wörtlich sagt). Würde man jedoch sein Selbstverständnis auf die Spitze treiben wollen, dann müsste man ihn eher von einer Zwangsüberfütterung aller Normalgewichtigen träumen lassen, von einem Faschismus des Fressens.


Gruß

Sam

carl
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Beitragvon carl » 12.10.2010, 18:00

Lieber Sam,

ich habe den Eindruck, dass du dich sehr gut darauf verstehst, vom "normalen" Blinckwinkel aus gesehen möglichst andersartige, um nicht zu sagen: abartige Standpunkte sehr plausibel rüberzubringen!
Leg die Worte bitte nicht auf die Goldwaage (was ist normel, was abartig?), sie beinhalten auch keine Kritik.
Deine Texte wollen ja gerade die Frage aufwerfen, ob nicht alle subjektiven Blickwinkel gleichberechtigt sind.
Deshalb dichtest du die Texte gegen alle Einwände ab, sodass dem Leser der Protest im Hals stecken bleibt.

Den fasischtoiden Ansatz bei Pig fände ich aber kontraproduktiv.
In den USA gibt es ein lesbisches Tauben-Paar (also keine Tauben, sondern taube Lesben), die eine künstliche Befruchtung mit dem Samen eines tauben Mannes gerichtlich durchsetzen wollten, weil sie das Taubsein als Behinderung leugnen. Sie betonen die kulturelle Eigenständigkeit einer Tauben-Kultur, die sie an ihre Kinder weitergeben wollen.
Jetzt sag mal was dagegegen...
Ich glaube, das wäre auch für Pig die richtige Richtung: eine Kultur des Fettseins zu behaupten.

LG, Carl

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 06.06.2013, 09:24

Hallo Sam,

ich habe den Text und sämtliche Kommentaren sehr aufmerksam gelesen.

Alles, was ich sagen könnte, ist da schon gesagt, teilweise auch was Scarlet darüber schreibt, denn andere Texte von dir gefallen mir besser. Ich sage teilweise, weil die Aussage von Pig über seine Erfahrungen mit Prostituierten mich sehr schockierte, aber das ist ja nicht deine Schuld.
Das Thema an sich ist und bleibt aktuell. Ich will hier keine Anekdote darüber schreiben, jeder von uns kennt Derartiges.

Ich finde es faszinierend, wie Sethe schreibt.

Eins möchte ich doch zu dem Text noch sagen: Es entspricht vielleicht nicht der Wahrheit eine so konsequent optimistische Einstellung, niemand vermag es, es liegt nicht in der menschlichen Natur, so konsequent optimistisch zu sein. Und überhaupt, in der Wirklichkeit würde dieser Mensch, ein übergewichtiger Amerikaner, nicht so konsequent logisch über sich selbst denken, reflektieren. Möglich, dass er in manchen Momenten so ähnlich über sich selbst empfindet.

Saludos

Carlos


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