Aufwachen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 06.05.2011, 08:50

Aufwachen

1.

Gleich wird sie aufwachen. Sie wird die Augen aufschlagen, einige Male noch blinzeln bis das Bild sich schärft, und mich dann ansehen. Und in diesem ersten Blick werden die Entscheidungen der nächsten Monate und Jahre liegen, die Kämpfe, die Vorwürfe, die Verzweiflung. Alles was kommt, wird in diesem ersten Blick sein, als Schleier, als feuchter Film über den Pupillen, als kleine Flammen auf der Iris.
Noch sind ihre Augen geschlossen, nur die Bewegungen ihres Körpers verraten, dass sie aus der Bewusstlosigkeit in den Schlaf hinüber geglitten ist. Die schlaffen Gesichtszüge spannen sich ein wenig an. Aber es ist nicht ihr Schlafgesicht. Ihr Schlafgesicht ist ein ruhiger See. Es ist auch nicht ihr Schlafmund, der beständig zu lächeln scheint, als träume sie nur Musicals und Märchen. Einmal sagte ich zu ihr, wenn du schläfst, dann siehst du aus, als träumtest du nur Musicals und Märchen, und sie antwortete mit einem Lächeln und dem spitzbübischen Aufleuchten ihrer grünen Augen.
Nicht ihr Schlafmund ist es, eher ihr Zweifelmund, als wäre der Weg zum Aufwachen ein Lauf durch Stimmen, denen sie keinen Glauben schenken mag. Wenn sie etwas hört, was sie nicht glauben kann oder möchte, dann hat sie diesen Zweifelmund, die Lippen leicht zusammengeschoben, ein Kussmund fast, wenn er nicht in der Mitte solch kleine Falten hätte.
Ich sehe ihr Gesicht, das nicht ihr Schlafgesicht ist, und somit kein ruhiger See. Etwas bewegt sich unter der Oberfläche, wirbelt den Boden auf. Ein Fisch mit seinen Flossenschlägen. Der Fisch des Schmerzes, der Fisch der Schuld. Wenn sie die Augen öffnet, wird er auftauchen.

Wir haben unser Kind getötet, haben zusammen diese Entscheidung getroffen und doch werden wir diese Last nicht gemeinsam tragen, nicht gleichmäßig zu verteilen wissen, wir werden versuchen umzuschichten, sie wird es versuchen mit ihren ersten Blicken; wenn sie aufwacht, wird sie den Schmerz ganz für sich beanspruchen, die Schuld aber wird sie mir übergeben und ich werde sie annehmen, so wie ich bisher alles angenommen habe.

Da waren die Jahre des Aufopferns, der Sisyphusarbeit in den Straßen von Guayaquil, wo es darum ging, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Alternativen zu Gewalt und Verbrechen, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, Achtung vor den Mitmenschen. Dazu die schwangeren Mädchen und immer die Frage, was zu tun sei. Sie kämpfte um jedes Kind und gleichzeitig für die Mutter. Manchmal glücklich, manchmal unglücklich endete der Kampf, aber das Gefühl nicht tatenlos zuzusehen - darum ging es ihr. Um ihren Traum, ein Stück Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und ich träumte ihn mit, nicht, weil es auch meiner gewesen wäre, sondern weil ich keinen eigenen hatte.

Nach fünf Jahren - Zeit, die mir heute vorkommt wie das endlose Anschwellen eines Muskels bis hin zu Krampf und Erschlaffung - sagt sie, ich möchte ein eigenes Kind. Ich war überrascht, weil es so plötzlich kam, es auf einmal gar kein anderes Thema mehr gab, eigene Kinder zuvor nie ein Thema gewesen waren, am Anfang unserer Ehe sogar ein Streitpunkt. Wie kann man nur, hatte sie immer wieder gesagt, in diese Welt Kinder setzen, wenn schon so viele da sind, um die sich keiner kümmert? Und nun, inmitten dieser Kinder, um die sich keiner kümmerte, inmitten der Beweise für die Richtigkeit ihrer Vorbehalte gegen eigene Kinder, diese, wie sie sagte, unwiderrufliche Entscheidung genau dafür.
Zunächst erschien es mir wie eine Kapitulation. Verständlich, wenn man bedenkt, dass wir eine völlig aussichtlose Mission verfolgten. Auf jedes Kind, dem wir helfen konnten, kamen Hunderte, für die wir nichts tun konnten. Und immer wieder versagte man bei dem Versuch, Abstand zu halten. Gerade da, wo es am nötigsten gewesen wäre, bei den hoffnungslosen Fällen, den Klebstoffschnüfflern, den unverbesserlichen Dieben und Schlägern, bei den vierzehnjährigen Strichmädchen und dreizehnjährigen Müttern. Alle diese Fälle bedeuteten Niederlage und Verlust. Und einen ständig wachsenden Zweifel am Wert der eigenen Arbeit, eine Erosion der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Und wenn der Altruismus sich erschöpft, wird ein Mensch ganz auf sich zurückgeworfen.
Wir verließen Südamerika, zogen zurück nach Deutschland, arrangierten uns, warteten jeden Monat darauf, dass die Weltgerechtigkeit ihre Schulden bei uns begliche. Zwischendrin hielt ich inne und überlegte, was da mit uns passiert war, was da mit ihr passiert war, wie radikal und ausschließlich ihr Umschwung war, wie radikal sie einen Traum gegen einen anderen eingetauscht hatte und welche Schwierigkeiten es mir bereitete, ihr dabei zu folgen, wie unmöglich es mir war, darüber zu reden. Sie hat es verdient, dachte ich mir dann. Diesen neuen Traum hat sie sich verdient und auch seine Erfüllung, so hart, wie sie für den alten Traum gekämpft hatte und dabei schuldlos unterlegen war.

Zwei Jahre geplanter Sex, berechneter Sex, aber sie wurde nicht schwanger. Untersuchungen folgten, bei ihr ergebnislos, mir jedoch beschied ein Spermiogramm, dass ich zu 95 Prozent zeugungsunfähig war.
Wenn das bei Ihnen von selbst klappen sollte, sagte der Arzt angesichts des Befundes, dann wäre das ein Sechser im Lotto. Eher werden sie noch vom Blitz erschlagen.

Die nächsten Monate gehörten nun den verbleibenden fünf Prozent meiner Manneskraft, aus unzähligen Ejakulaten extrahiert, um In-vitro Eizellen zu befruchten, die ihr entnommen und dann wieder eingepflanzt wurden. Und jedes Mal die Enttäuschung, wenn es nicht funktionierte, wenn dieses Zellknäuel nicht andocken wollte an der Plazenta. Eine Abwärtsspirale, die mit jedem Versuch ihr Gefälle verstärkte. Man nahm stetig an Fahrt zu, obgleich alles unwirklicher wurde, mehr Sex mit einem Plastikbecher, als mit der eigenen Frau, der Wichsraum beim Reproduktionsarzt, rot tapeziert, ein Sessel mit Plastiküberzug, eine Dusche, Aktfotos an den Wänden, Männermagazine, unterdrückter Orgasmus, denn nebenan, nur durch eine Wand getrennt, war das Labor, eine kleine Klappe, gleich neben einem der Bilder, die man öffnete, um den vollgewichsten Becher abzustellen, mauerbreit das Fach und auf der anderen Seite ebenfalls eine Klappe, dahinter professionelle Leidenschaftslosigkeit, die viel wichtiger schien, als jedwede zärtliche Berührung.
Nach sieben Versuchen hatten wir kein Geld und keine Kraft mehr. Langsam erwachten wir, als wäre alles ein Rausch oder ein Vollmondtraum gewesen. Wir schmiedeten kleine Pläne und versorgten unsere Wunden, ab und zu sogar gemeinsam.

Und dann, etliche Monate nach dem letzten Versuch, wurde sie schwanger, vom Zufall befruchtet. Zum allerersten Mal hatte ich das Gefühl, daran beteiligt gewesen zu sein. Nicht, weil mir der Umweg über den Wichsraum erspart geblieben war, sondern weil aus dem Unerwarteten eine ganz besonderes Gefühl herausströmte, als wäre es nur allein deswegen gut und richtig, weil es nicht geplant und scheinbar aus dem Nichts kam.

Zuviel war schon schief gegangen, als dass wir uns uneingeschränkt hätten freuen können, aber mit jedem Tag wuchs die Hoffnung. Und meine Frau erschien mir erstmals glücklich aus sich selbst heraus.

Das Fruchtwasser jedoch spiegelte ein Monster, eine Vision aus verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit. Sie stürzte ab und ich wurde zum Spiegel. Alles was sie sagte, warf ich auf sie zurück. Bestätigte ihre Ängste und ihre Bedenken, aber kein einziges Mal sagte ich, lass es uns machen, oder, lass es uns nicht machen. Kein einziges Mal sagte ich, das schaffen wir zusammen, egal was kommt. Immer nur sagte ich, wenn sie sagte, aber es kann doch keiner hundertprozentig wissen, ja, es kann keiner hundertprozentig wissen. Und wenn sie sagte, eine solche Behinderung macht ein Leben nicht lebenswert, sagte ich, ja, es macht es nicht wirklich lebenswert. Aber wenn sie danach, fast im selben Moment meinte, aber es ist dennoch nicht wirklich sicher, bestätige ich auch dies und nickte, wenn sie von der Nachbarin ihrer Mutter erzählte, die zwanzig Jahre zuvor eine ähnliche Diagnose erhalten, aber nicht abgetrieben hatte und deren Tochter völlig gesund war und ihrer Mutter beinahe jeden Tag dafür dankte, dass sie leben durfte. Ich stimmte ihr zu, wenn sie sagte, dass dies ja nur eine Minderheit sei, die Davongekommenen. Die Mehrheit hätte keine Stimme, weil sie im Orkus landeten und keiner wirklich wüsste, was aus ihnen geworden wäre. Ein riesiger Leichenberg von Hypothesen, und ich sagte, ja, ein riesiger Leichenberg von Hypothesen. Und sie sagte, aber eben auch immer Leben dahinter, Leben das ging, Leben das blieb und niemand weiß, was wirklich besser gewesen wäre, aber die, die weiter leben, müssten das Beste daraus machen, und ich sagte, ja, man muss das Beste daraus machen und streichelte ihre Hand, als würde ich sie unterstützen. Dabei warf ich sie jedes Mal auf den Boden, warf sie abwechselnd ins Feuer und ins Wasser. Am Ende trafen wir eine Entscheidung, aber es war die ihre, eine Entscheidung aus dem Mangel an Kraft heraus, aus der Unvorstellbarkeit mit vierzig Jahren noch einmal die Energieleistung aufzubringen, sich einem Wesen voll und Ganz zu verschreiben, das niemals in diesem Leben ankommen würde, das man goss wie eine Pflanze und fütterte wie ein Tier, das man lieben würde, auch wenn es einen aufzehrte, und am Ende würde es sterben, so wie es geboren worden war, unter Schmerzen und man würde zurückbleiben, ohne die Kraft noch einen oder zwei Atemzüge zu tun. Dann lieber die Gnade für alle, sagte sie und ich stimmte ihr zu.

So hat sie die Entscheidung getroffen, weil ich feige und bequem ihrer Spur gefolgt bin, wie ich damals ihrem Traum, die Welt ein Stück besser zu machen gefolgt bin, ohne dass es auch meiner gewesen wäre, sowie ihrem Traum von einem eigenen Kind, ohne dass auch dieser mein eigener gewesenen wäre, und wenn sie gleich aufwacht und die Augen öffnet, dann wird in diesem Blick alles umgekehrt und meine Entscheidungslosigkeit wird zur Entscheidung werden, mein Abwälzen wird zurückschoben, mein Nichthandeln wird zum Handeln werden.
Ein schlechtes Gewissen kann man nicht teilen. Jeder muss mit seinem eigenen Gewissen zurechtkommen. Wenn ein Paar wegen einer gemeinsamen Entscheidung ein schlechtes Gewissen hat, so wird im Laufe der Zeit wenigstens einer diese Belastung dem anderen zum Vorwurf machen.
All das wird in ihrem Blick liegen, wenn sie gleich aufwacht.



2.

Jetzt wacht sie auf...
Zuletzt geändert von Sam am 19.05.2011, 17:36, insgesamt 2-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 19.05.2011, 17:18

Hallo Zusammen,

damit ich nicht durcheinander komme und mich auch nicht wiederhole, fasse ich ein wenig zusammen.

Zunächst vielen Dank an dich liebste Nicole und auch an dich Renée. Ich freue mich natürlich sehr, dass ihr den Text so positiv bewertet. Deine Formulierung Renée vom "Einheimsen der Schuld" hat mir sehr gut gefallen. Es zeigt mir, dass du so liest, wie ich es mir erhofft hatte, und zwar auf den Erzähler konzentriert.

Auch an Henkki und Lisa vielen Dank für eure zusätzlichen Bemerkungen, ebenso an dich Gerda.

Und natürlich auch Danke an dich Flora, für deine kritischen Bemerkungen.

Zunächst nochmal zu den medizinischen Fakten. Nach erneuter Überprüfung einiger Quellen, stellt es sich mir so da:

Eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) wird frühestens ab der zehnten Woche, in der Regel aber ab der 12. Woche durchgeführt. Grund für die Untersuchung können fortgeschrittenes Alter, Auffälligkeiten in den Erbanlagen (was man z.B. wüsste, wenn jemand schon etliche künstliche Befruchtungen hinter sich hat), oder aber Auffälligkeiten bei den Ultraschall- oder Blutuntersuchungen sein. Je nach Befund mag es sein, dass sich ein Paar zum Abbruch der Schwangerschaft entscheidet. Und eine Abtreibung hatte ich auch im Sinn, als ich den Text schrieb.

Ich werde den Text nochmals dahingehend ändern, dass ich die Zeitangabe ganz hinausnehme, denn die genauen Einzelheiten sind für die Geschichte nicht relevant.

Laut Wiki beträgt das Risiko einer Fehlgeburt je nach Alter zwischen 2,5 bis 5 Prozent. Bei einer solchen Untersuchung handelt es sich also nicht um ein Russisch-Roulette-Spiel, sondern es ist schon vorstellbar, wenn Auffälligkeiten da sind, dass Eltern einer solchen Untersuchung zustimmen.

Nun zur Frage der Nachvollziehbarkeit, bzw. Glaubwürdigkeit:

Nachvollziehbarkeit ist ja nicht etwas, das dem Text an sich innewohnt, sondern etwas, das im Leser entsteht. Somit ist es primär subjektiv. Was der eine für glaubwürdig hält, entlockt dem anderen nur ein Kopfschütteln. Allen Recht machen kann man es nicht.

Was nun diesen Text betrifft, ist es schon auffällig, dass ein Teil der Kommentatoren den Text nahezu durchgehend als gut erachtet, der andere Teil aber so ziemlich die gleichen Kritikpunkte ins Feld führt. Dazu kommt, dass alle jene, die dem Text eher kritisch gegenüberstehen, den ersten Teil für sehr gelungen halten.

Hierzu möchte ich Lisa kurz zitieren:

"Wenn ich übrigens mal gesammelt über deine Art zu schreiben etwas sagen müsste, würde ich immer bei deinem Erzähler ansetzen, da ist eine immer wiederkehrende Haltung drin"

Dass der Erzähler den Mittelpunkt bildet, trifft auf viele meiner Geschichten zu, auf diese aber ganz besonders. Des öfteren kam auf meine Geschichten der Einwand, den auch Flora hier wieder eingebracht hat, man merke, dass hier etwas "erzählt" wird. Aber genau das ist es, was ich mit dieser Art Geschichten mache. Es geht mir dann nicht darum eine Geschichte glaubhaft zu erzählen, sondern einen Erzähler einzusetzen und sein Erzählen in den Fokus zu stellen. Renée nannte das einmal Kunstgeschichten, und ja, vielleicht sind sie künstlich, aber für mich ergeben sie erst durch ihre Künstlichkeit einen Sinn, weil sie das Erzählen an sich in Frage stellen. Rosebud hatte das einmal in einem Kommentar sehr treffend auf den Punkt gebracht.

Die Arbeit der Schuld in Gedanken und Vorstellungen bzw. Vorahnungen. Darin sehe ich den Erzähler positioniert. Am Anfang ist er ganz nahe bei seiner Frau. Doch beim Nacherzählen ihrer Geschichte entfernt er sich von ihr, bis hin zu dem abstrakten und verallgemeinernden Schluss. Das "Einheimsen der Schuld", wie es Renée so schön formuliert hat, bringt keine Nähe, sondern schafft Distanz. In dem Moment des Aufwachens also, wird die Frau einen völlig von ihr entfernten Mann sehen, und obwohl vielleicht alles sich ganz anders abgespielt hätte, wie der Mann es sich vorstellt, kann es dennoch so kommen, eben weil er es sich so vorgestellt hat. Weil er sich selbst und der Art, wie er sich seine Geschichte erzählt aufgesessen ist.

Natürlich ist das keine Geschichte, sondern eher ein Modell. Und wegen dem Modellhaften auch kein innerer Monolog (Flora) der ein bestimmtes Bewusstein oder eine bestimmte Gefühlslage spiegeln soll. Dafür ist er tatsächlich zu strukturiert. Als Modell des sich in die Schuldhaftigkeit hineinerzählenden, um sich genau diese Schuldhaftigkeit vom Leibe zu halten, hoffe ich aber, dass der Text bestehen kann.

Gruß

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.05.2011, 10:12

Hallo Sam,

das ist eine spannende Antwort für mich. Ob der Gedanke der "Kunstgeschichte" für mich aufgeht, kann ich vermutlich nur von Text zu Text neu anschauen. Hier tu mir auch nach deiner Erklärung, die mir gerade in Bezug auf die Entfernung durchs Erzählen sehr gefällt, schwer mit deiner Umsetzung.
Es geht mir dann nicht darum eine Geschichte glaubhaft zu erzählen, sondern einen Erzähler einzusetzen und sein Erzählen in den Fokus zu stellen.
Ich glaube für mich funktioniert das nur in Kombination. Die Geschichte muss für mich glaubhaft sein, denn wenn ich den Menschen, den Erzähler darin nicht sehe, nicht spüren kann, weil die Szene für mich nicht echt erscheint, der Monolog zwar behauptet wird, aber nicht glaubwürdig ist, kann ich daraus auch keine Gedanken über das Erzählen des Protags entwickeln, (oder sie gehen in eine ganz andere Richtung) sondern bleibe mit meinen Fragen diesbezüglich auf Autorenebene stecken.
Ich frage mich, ob es nicht möglich wäre, diese Aspekte hier recht einfach zu kombinieren und so auch die Geschichte "echt" werden zu lassen und beidem Raum zu geben, um ineinanderzugreifen, damit wirklich sein Erzählen beleuchtet wird und nicht deines. Hast du einmal darüber nachgedacht, ihn nach dem ersten "nahen" Absatz zum Stift greifen und "die Geschichte" aufschreiben zu lassen?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 20.05.2011, 11:56

Hallo Sam, Hallo Flora,


Ich würde gern eure beiden Erzähler- und Geschichte- Definitionen besser verstehen.

Mir scheint, dass eine gelungene Geschichte unterschiedlichste Authentizitätsebenen aufweisen sollte. Etwas muss glaubhaft beim Leser ankommen. Deshalb spielen Autor, Erzählstimme und Leser eine gemeinsame Partitur. Der Leser, mit seinen Grundkenntnissen spielt die Noten seiner Spieltechnik entsprechend und was dabei herauskommt kann ein glückliches Zusammentreffen von Einfalt und Einfühlungsvermögen sein (was noch nicht heißt, dass die Komposition gut war, dass sie aber "gut genug" war, um nach außen eine "schöne" Wirkung zu verbreiten.

Ebenso kann eine gelungene Partitur von unkompetenter Leserhaltung zerrissen und sogar zerfetzt werden.

Und eine misslungene kann aufgrund unterschiedlichster Gefälligkeiten und kontextbedingten Zugeständnissen als gelungen da stehen.

aber soweit wollte ich ursprünglich gar nicht gehen, entschuldigt den xkurs. Ich lasse ihn stehen, weil ich mir immer wieder zu obigen Punkten Fragen stelle.

Zurück zur Authentizität der Erzählhaltung:

Sam schreibt, dass er seine Geschichte als eine versteht, die sich selbst so schreibt, um nicht echt zu sein, bzw. um es nicht zu werden. Es handelt sich, wenn ich das richtig verstanden habe, weniger um eine shcul - Zuweisung - kein masochistisches Bezichtigungsritual (!!) sondern eine genaue, beobachtende, distanzierte Schuld-Ab-Schreibung.

Das leuchtet mir so ein und ich kann nachträglich verstehen, warum dieser Text mit seiner kühlen Distanz, die das Schuld-Bewusstsein nicht ausgrenzt, so stark auf mich gewirkt hat, als ein sehr authentischer Text.

Kunst-Geschichte ist das vielleicht im selben Zusammenhang, wie Märchen und Kunstmärchen (ein weites Feld) - man könnte die zahlreichen "Autofiktionen" unter dieser Definition laufen lassen.

Vermutlich ist mein Text "das Bild" von Flora zu Recht kritisiert worden, weil er tatsächlich als polemischer und stichelnder Text weder rein polemisch geworden ist (die Verve fehlt) noch autofiktionell werden konnte, da die Figuren im Grunde collaeartig herbeigezaubert wurden, ohne innere Konsistenz.

Flora schreibt: (zurück zu Sams Text)

Flora hat geschrieben:Die Geschichte muss für mich glaubhaft sein, denn wenn ich den Menschen, den Erzähler darin nicht sehe, nicht spüren kann, weil die Szene für mich nicht echt erscheint, der Monolog zwar behauptet wird, aber nicht glaubwürdig ist, kann ich daraus auch keine Gedanken über das Erzählen des Protags entwickeln, (oder sie gehen in eine ganz andere Richtung) sondern bleibe mit meinen Fragen diesbezüglich auf Autorenebene stecken.



Worin bestünde die Glaubwüurdigkeit? Ich behaupte, dass die Geschichte erst dann auf Glaubwürdigkkeit geprüft wird, wenn man bereits eine Art Widerstand entwickelt. Das heißt bevor sich der Leser Gedanken über Glaubwürdugkeit macht, dann erst sucht er nämlich nach Argumenten, die seine Abwehr rechtfertigen ... Mit anderen Worten, vor der Glaubwürdigkeit muss es noch etwas anderes geben, eine andere Abwehr, die DANN ERST zur Infragstellung führt.

Diese hat wieder unterschiedliche Ursachen. Ich vermute, dass dieser erste Widerstand mehr mit ästhetischem Empfinden zu tun hat als mit Glaubwürdigkeit.

Flora schreibt zum Erzähler (zur Erzählerstimme) .:
Ich frage mich, ob es nicht möglich wäre, diese Aspekte hier recht einfach zu kombinieren und so auch die Geschichte "echt" werden zu lassen und beidem Raum zu geben, um ineinanderzugreifen, damit wirklich sein Erzählen beleuchtet wird und nicht deines. Hast du einmal darüber nachgedacht, ihn nach dem ersten "nahen" Absatz zum Stift greifen und "die Geschichte" aufschreiben zu lassen?



Das könnte durchaus funktionieren ... die Frage ist warum ... als ob ich zu einem künstlichen Mittel greifen müsste, damit der Leser vor Augen geführt bekommt, dass es sich um eine von jemandem geschriebene Geschichte handelt. Inwiefern macht das Glaubwürdigkeit leichter?

Der Autor sollte sich meiner Ansicht nach vor allem fragen, welche Erzählperspektive, Erzählhaltung ihm erlaubt sich in die Glaubwürdigkeit der eigenen Geschichte hinein zu versenken, wenn ihm das gelingt, geht mMn der Leser mit ...


liebe Grüße
Renée

Sam

Beitragvon Sam » 22.05.2011, 07:19

Hallo Flora und Renée,

vielen Dank euch beiden! Renée ist ja sehr ausführlich und auch sehr prägnant auf das Thema Glaubwürdigkeit eingegangen. Dem kann ich nur zustimmen, und lasse es mal als Erwiderung auf deine, Flora, Bedenken so stehen, ohne viel hinzuzufügen. Auch auf den Vorschlag, den Erzähler einen Brief schreiben zu lassen, hätte ich nicht besser antworten können, als Renée das tat.

Eines jedoch finde ich interessant. Wenn gesagt wird, das Verhalten der Frau wäre nicht glaubwürdig, dann hat der Leser ja schon den ersten Schritt getan, indem er dem Erzähler glaubt. Denn das Bild der Frau wird allein durch den Erzähler vermittelt. Diese Problematik fasziniert mich immer wieder. Ich glaube, es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft des Lesers, das Gelesene ersteinmal für "wahr" anzunehmen. So eine Art Grundvertrauen. Das mag natürlich schnell erschüttert werden, kann aber bestehen bleiben, selbst wenn die unglaublichsten Dinge berichtet werden (bestes Beispiel SF oder Fantasie). Die Gründe dafür sind natürlich sehr vielfältig und jeweils von Text und Leser abhängig.
Mich interessieren oftmals Erzähler, denen man zwar glauben, aber nicht vertrauen kann. Und in deren subjektiver Sichtweise sich immer auch die "andere", die gegenteilige Geschichte spiegelt.
Am Ende geht es darum, dem Leser jenes Grundvertrauen zu nehmen. Nicht überzeugt, sondern zweifelnd zurücklassen. Darin findet für mich die Tatsache Ausdruck, dass es keine Gewissheiten gibt, und immer mehr Fragen als Antworten.

Ich danke euch nochmals herzlich für eure Gedanken und ausführlichen Bemerkungen!

Gruß

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 22.05.2011, 13:55

Hallo Sam, Renée,

Sam hat geschrieben:Auch auf den Vorschlag, den Erzähler einen Brief schreiben zu lassen, hätte ich nicht besser antworten können, als Renée das tat.

Renée hat geschrieben:Das könnte durchaus funktionieren ... die Frage ist warum ... als ob ich zu einem künstlichen Mittel greifen müsste, damit der Leser vor Augen geführt bekommt, dass es sich um eine von jemandem geschriebene Geschichte handelt. Inwiefern macht das Glaubwürdigkeit leichter?

Ich wundere mich gerade sehr. Lest ihr denn auch ohne eine Erwähnung des Schreibens den Text so, dass der Erzähler (nicht der Autor!) seine Geschichte aufschreibt? Wenn nicht, gehen für mich Autor und Erzähler hier ziemlich wild durcheinander?
Sam hat geschrieben:Mich interessieren oftmals Erzähler, denen man zwar glauben, aber nicht vertrauen kann. Und in deren subjektiver Sichtweise sich immer auch die "andere", die gegenteilige Geschichte spiegelt.
Am Ende geht es darum, dem Leser jenes Grundvertrauen zu nehmen. Nicht überzeugt, sondern zweifelnd zurücklassen.
Zweifelnd am Autor, an der Geschichte selbst, oder zweifelnd an der Glaubwürdigkeit des Erzählens des erschaffenen Erzählers?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Sam

Beitragvon Sam » 24.05.2011, 22:14

Hallo Flora,

Flora hat geschrieben:Lest ihr denn auch ohne eine Erwähnung des Schreibens den Text so, dass der Erzähler (nicht der Autor!) seine Geschichte aufschreibt? Wenn nicht, gehen für mich Autor und Erzähler hier ziemlich wild durcheinander?


Warum muss es einen Grund geben, dass der Erzähler erzählt? Er tut es einfach. Erst wenn man eine weitere Erzählebene, nämlich die des Briefschreibens einbauen würde, dann stünde die Frage im Raum, warum er das eigentlich tut.
Bei fiktionalen Texten ist der Autor mit Abstand das Unwichtigste. Was zählt, ist der Erzähler und was er zu berichten hat. Und wie er berichtet. Nicht in jedem Text steckt eine Botschaft, nicht jeder Text ist zurückzuführen auf tatsächliche Begebenheiten oder Gefühlslagen. Sondern da ist nur ein Autor, der einen Erzähler ersinnt. Und dieser macht die restliche Arbeit. Jedenfalls ist das meine Art zu schreiben. Meine erste Überlegung, wenn ich eine Idee zu einer Geschichte habe, ist, wen ich das nun erzählen lasse. Selbst bei Texten die einen durchaus realen Hintergrund haben, wie z.B. meine Reiseberichte, bin nicht ich es, der seine tatsächlichen Erfahrungen erzählt, sondern ich suche mir einen Erzähler mit einer bestimmten Haltung und lasse ihn dann sprechen.

Flora hat geschrieben:Sam hat geschrieben:
Mich interessieren oftmals Erzähler, denen man zwar glauben, aber nicht vertrauen kann. Und in deren subjektiver Sichtweise sich immer auch die "andere", die gegenteilige Geschichte spiegelt.
Am Ende geht es darum, dem Leser jenes Grundvertrauen zu nehmen. Nicht überzeugt, sondern zweifelnd zurücklassen.
Zweifelnd am Autor, an der Geschichte selbst, oder zweifelnd an der Glaubwürdigkeit des Erzählens des erschaffenen Erzählers?


Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erzählers. Insofern, als alles, was uns erzählt wird, in Zwiefel zu ziehen ist. Denn es gibt keinen absoluten Standpunkt und keine wirklich objektive Sichtweise. Jeder erzählt seine Geschichte, so wie er sie erlebt. Eine Frage, die ich mir beim Schreiben des obigen Textes immer wieder stellte ist: Was würde die Frau wohl erzählen? Und ich bin mir sicher, es wäre eine andere Geschichte. Und wahrscheinlich gerade da anders, wo hie und da der Verdacht der Unglaubwürdigkeit aufkommt.

Gruß

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 24.05.2011, 23:51

Hallo Sam,

ich scheine mich nicht verständlich machen zu können, und das, obwohl wir diesmal im Grunde recht nah beineinander zu sein scheinen in unseren Erwartungen. :confused:
Warum muss es einen Grund geben, dass der Erzähler erzählt? Er tut es einfach.
Wem erzählt er es denn?
Hmm. Nochmal, für mich passt die Sprache, die Art seines Erzählens nicht zur Situation, das hast du ja selbst auch so gesehen. Von daher steht natürlich die Frage für mich im Raum, warum das so ist. Und darauf wäre ein Niederschreiben, Aufzeichnungen für ihn selbst, nicht als Brief, die er vielleicht auch wieder zerreißt, eine mögliche Antwort, Erklärung für mich.
Du schreibst: Natürlich ist das keine Geschichte, sondern eher ein Modell. Und wegen dem Modellhaften auch kein innerer Monolog (Flora) der ein bestimmtes Bewusstein oder eine bestimmte Gefühlslage spiegeln soll. Dafür ist er tatsächlich zu strukturiert. Als Modell des sich in die Schuldhaftigkeit hineinerzählenden, um sich genau diese Schuldhaftigkeit vom Leibe zu halten, hoffe ich aber, dass der Text bestehen kann.
Bei fiktionalen Texten ist der Autor mit Abstand das Unwichtigste. Was zählt, ist der Erzähler und was er zu berichten hat. Und wie er berichtet. Nicht in jedem Text steckt eine Botschaft, nicht jeder Text ist zurückzuführen auf tatsächliche Begebenheiten oder Gefühlslagen. Sondern da ist nur ein Autor, der einen Erzähler ersinnt. Und dieser macht die restliche Arbeit.
Ja, das sehe ich auch so. Natürlich erwarte ich nicht etwas Autobiographisches, einen inneren Monolog von dir als Autor, sondern einen inneren Monolog des Erzählers, falls das nicht richtig angekommen sein sollte.
Wenn aber auch für dich, wie für mich, der Erzähler "zählt" und im Fokus stehen soll, und nicht du als Autor, ich nicht schon an deiner Geschichte zweifeln soll, dann muss ich ihn dir doch erst einmal glauben können. Dann brauche ich eine stimmige Geschichte, Situation, Person, Sprache ... kein Modell. Erst dann kann ich sein Erzählen "wahrnehmen" und beleuchten, hinterfragen. Ob seine Geschichte dann glaubwürdig ist, oder nicht, steht doch auf einem ganz anderen Blatt, da kann ich deinen Gedanken wieder gut folgen.
Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erzählers. Insofern, als alles, was uns erzählt wird, in Zwiefel zu ziehen ist. Denn es gibt keinen absoluten Standpunkt und keine wirklich objektive Sichtweise. Jeder erzählt seine Geschichte, so wie er sie erlebt.
Ja.

Wahrscheinlich kommen wir hier nicht weiter. Macht ja aber nichts. Für die anderen Kommentatoren war das ja offensichtlich auch kein Problem.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 25.05.2011, 00:06

Entschuldigt Sam und Flora, wenn ich mich noch einmal einmische,

Die Erzählstimme ist immer eine andere Stimme als die des Autors, auch wenn dieser autobiographisch schreibt. Die Stimme, die schreibt ist immer eine andere.

Diese andere Stimme kann unterschiedliche Haltungen einnehmen, die alle eine Haltung des Autoren widerspiegeln. Der Autor steht dem Text und der Erzählstimme gegenüber. Die Arbeit des Niederschreibens mit Navigation durch den Erzähler ist dadurch eennzeichnet, dass es der tippenden Hand, der schreibenden Hand mehroder weniger leicht fällt, sich ausschließlich vom erzählenden Impuls leiten zu lassen - und nicht vom dahinter sitzenden Autoren.

So verstehe ich das Hin- und Her zwischen Autor und Eerzähler ...
lG
Renee

Sam

Beitragvon Sam » 26.05.2011, 17:40

Hallo Flora,

ich glaube dich zu verstehen. Die Frage, wem ein Erzähler das nun erzählt stelle ich mir nur bei Texten, die einen Zuhörer (oder in die Geschichte integrierten Leser) andeuten. Wen dieser dann nicht wirklich zu identifizieren ist, kann das zu gewissen Unstimmigkeiten oder Fragen seitens des Lesers führen. Ich erinner mich z.B. an Philip Roth Buch "Das sterbende Tier". Hier wendet sich der Ich-Erzähler klar an einen Zuhörer, wer das aber ist, wird nicht wirklich deutlich. dies ist dann in der einen oder anderen Rezension auch bemängelt worden.

Aber abgesehen von dieser Konstellation mache ich mir weder als Leser noch als Autor Gedanken, wem da gerade erzählt wird. Beziehungsweise ich denke, es wird mir erzählt. Oder ich erzähle eine Geschichte auf eine gewisse Art für einen Leser.
Aber du hast Recht, wir sind da wahrscheinlich recht unterschiedlich in unseren Leseerwartungen und Vorlieben. Sich auf Krampf nun gegenseitig überzeugen zu wollen, führt zu nichts. Aber dennoch (und das ist jetzt wirklich keine Floskel) denke ich darüber nach - bzw. werde bei zukünftigen Texten die von dir aufgeworfene Frage nach dem Rezeptor im Hinterkopf behalten.

Ich danke dir auf alle Fälle sehr, dass du dir die zeit genommen hast, deine Bedenken so genau und ausführlich zu formulieren.


Hallo Renée,

du mischst dich doch nicht ein, sondern bist mittendrin.

Auch wenn ein Autor autobiografisch schreibt, ist seine Erzählstimme nicht wirklich die seine, denn sie ist reflektiert, allein dadurch, dass sie in Form gebracht wurde.

Der erzählende Impuls nun kann vom Erleben und Erfahren des Autors selbst ausgehen (was meiner Meinung nach vor allen in den Foren zum größten Teil der Fall ist) oder von einer Idee oder einem Gedanken (was mir persönlich immer am liebsten ist). Oder rein aus der Sprache heraus. Oftmals ist es auch eine Mischung aus allem. Letztendlich liegt es aber am Leser, wie er die Stimme aufnimmt, die zu ihm spricht.

Gruß

Sam

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 28.05.2011, 17:02

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 17:32, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 31.05.2011, 09:35

o.T. Wie schön, dich nach so langer Zeit mal wieder hier zu lesen, Rosebud! Magst du nicht auch mal wieder einen deiner Texte für uns einstellen? :nicken:

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Sam

Beitragvon Sam » 31.05.2011, 17:14

Hallo Rosebud,

wie schön von dir zu lesen!

Und - juchhuh - ich bin mit Flora endlich mal hunderprozentig einer Meinung: Wir vermissen deine Texte hier!

Aber nun zu deinem Kommentar:

Natürlich freut es mich sehr, dass der Text dir gefällt.

Du schreibst:

Wenn der Mann sich selbst zum Gegenstand der Analyse machte, würde er vielleicht erkennen, wie viele Fische in ihm aufs Auftauchen warten.

Ich denke, genau das will er verhindern, indem er alle Schuld auf sich nimmt. Ich las neulich (ich glaube in den Notizenheften von Henning Ritter), dass die Deutschen, was den Holocoust betrifft, deswegen so sehr darauf bedacht sind, ihre Schuld immer und immer wieder einzugestehen, weil auch dies eine Art ist, sie sich vom Leib zu halten.

Er könnte einem fast leid tun in seiner Opferhaltung, wenn sie nicht die Kehrseite davon wäre, dass hier jemand keine eigenen Entscheidungen trifft, sich wie ein Putzerfisch im Seitenwasser des großen Masterfisches dahintreiben lässt.

Die Haltung, die der Leser gegenüber dem Erzähler einnimmt, ist für mich der spannenste Aspekt der Reaktionen. Denn auch wenn er von seiner Frau erzählt, so spricht er doch nur über sich selbst, oder zeigt sich selbst. Ich habe es in einer Antwort schon einmal erwähnt, dass ich ihn für egoistisch und gleichzeitig konfliktscheu halte, und dass aus dieser Mischung seine Passivität resultiert. Er tut mir leid, weil es ihm nicht gelingt, eine wirklich eigene Position zu finden. Weil er aber, indem er alle Schuld auf sich nimmt, diese von sich wegschiebt, ist er mir auch in gewisser Hinsicht unsympathisch.

Was die Stellen angeht, von denen du meinst, der Leser wird zu sehr an der Hand genommen - nun ja, ich habe versucht eine Distanzierung zu schildern. In Hineingleiten ins Allgemeine seitens des Erzählers, um den nötigen Abstand zu gewinnen. Wenn das als Erklärbär-Ton wahrgenommen wird, ist das natürlich nicht so schön. Aber ich halte diese Versuche Distanz aufzubauen schon für wichtig.

Herzlichen Dank für deine Meinung zu diesem Text! Und ich hoffe, bald wieder mal wieder etwas von dir zu lesen.

Gruß

Sam

WladimirSyree
Beiträge: 24
Registriert: 07.02.2011

Beitragvon WladimirSyree » 16.11.2011, 22:02

Lieber Sam,

ich habe deinen Text mit großer Aufmerksamkeit gelesen, danach die bemerkenswerten Kommentare, zuletzt noch einmal den Text, der in der Wortwahl unverrückbar scheint, besonders der erste Absatz - sehr gut. Beim zweiten Lesen spürte ich, dass mich der zweite Absatz störte und versuchte es mit dem Überspringen. Ich wollte als Leser nicht so schnell über die Tatsache der Abtreibung (oder gar "Tötung") informiert werden und fand den Gegensatz zu dem ersten Abschnitt etwas zu stark. Beim Weiterlesen ohne den zweiten Absatz wäre das langsame Herantasten an den inneren Konflikt für mich kontinuierlicher, nachvollziehbarer gewesen. Möglicherweise hätte der zweite Absatz dann in den Schluss miteingearbeitet werden können.
Aber wie auch immer - insgesamt hat mich der Text eingefangen, und ich habe ihn auch beim zweiten Mal in einem Streich bis zum Ende gelesen. Er folgt auch einem überzeugenden Sprachfluss, in dem Erinnerung, Reflektion und Handlung einander so durchdringen, dass man ganz nah in das Wahrnehmungsfeld des - für mich keineswegs farblosen, aber entscheidungsarmen - Erzählers, hineingeführt wird.

Grüße

Wladimir

Sam

Beitragvon Sam » 24.11.2011, 18:09

Hallo Wladimir,

vielen Dank für deinen Kommentar!

Über "Spannungsbögen" mache ich mir bei meinen Texten immer recht viel Gedanken. Bei manchen Texten ist es wirklich notwendig die "Auflösung" zum Ende hin zu verlagern. Bei dieser Geschichte aber erschien es mir sehr passend gleich am Anfang alle Karten auf den Tisch zu legen. Natürlich ist das ein Versuch die Position des Lesers zu manipulieren. Aber da es hier nicht um den Konflikt als solches geht, sondern um die Art, wie er vom Protagonisten ausgetragen wird, ist die frühe Bennenung der Tatsachen für mich angebracht. Der Fokus liegt nicht auf dem was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Für diese Geschichte wünsche ich mir also einen Leser, der sich nicht fragt, was am Ende wohl passiert, sondern einen, der verfolgen möchte, was der Erzähler aus der vorgebenen Situation macht und wie er sie für sich einordnet.

Gruß

Sam


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